Gelesen - notiert

Lesen ist eine meiner Leidenschaften. In dieser Rubrik stelle ich Bücher vor, die mir besonders gut gefallen haben

Brigitte Seebacher: Hundert Jahre Hoffnung und ein langer Abschied. Zur Geschichte der Sozialdemokratie

Dietz, 2023

 

Es ist fraglich, ob der Begriff Hoffnung das tragende Charakteristikum für das Werden der Sozialdemokratie gewesen ist. Die Historikerin Brigitte Seebacher sieht es so in ihrer voluminösen, 719 Seiten starken Geschichte dieser Bewegung, dieser Partei. Es ist die frühere Hoffnung von Millionen Menschen der Arbeiterklasse auf ein besseres, ein menschenwürdiges Leben. Hoffnung auf sozialen Aufstieg und Teilhabe. Hoffnung darauf, die Gesellschaft und das Land mitgestalten zu können.

 

Das Aufstiegsversprechen der SPD - das war einst etwas. Mit der Wandlung der Gewerkschaften zu Tarifpartnern und der sozialdemokratischen Parteien zu Reform- und Regierungsparteien hat allerdings die alte Arbeiterbewegung einen langen Abschied genommen. Heute versteht sich die SPD nicht mehr als die Partei derjenigen, die vorankommen wollen. Sie ist vielmehr die Partei geworden, die den Sozialstaat immer weiter auskleistert und Milliarden Euro für Transferleistungen ausgibt, ohne dafür etwas - zumindest nicht vieles - von den Menschen zu fordern. Die SPD von heute ist daher auch eine Partei des Abschieds: des Abschieds vom Gestaltungswillen, vom Vertrauen in die Kraft des Einzelnen, von einer Zukunftsvision für Deutschland. Die Hoffnung, dass sich  diese Partei noch aufrafft, schwindet in der Ampelkoalition von Tag zu Tag.

 

Tatsächlich ist Seebachers Buch, die von 1983 bis zu seinem Tod 1992 mit Willy Brandt verheiratet war und damals Seebacher-Brandt hieß, über weite Strecke eine Beschreibung des Scheitern der Sozialdemokratie. Ihre Absicht wird schon aus dem erratischen Klappentext deutlich, in dem es heißt: "Als die Sozialdemokratische Partei Deutschlands die Regierung feührte, wat eine neue Deutschland- und Ostpolitik ihre Raison d'Être. Schon im Rückblick von 1989 zerfiel, was ein Wille gewesen zu sein schien. Nicht nur zwischen Alten und Jungen taten sich Abgründe auf, auch unter den Akteuren selbst. Sie folgten, kaum dass die Verträge geschlossen waren, einem je eigenen Drehbuch. Um eine Bestandsgarantie der Verhältnisse zu erreichen, machte der Kreml von den Möglichkeiten der Einflussnahme Gebrauch. Eine gewisse Geneigtheit in den sozialdemokratischen Führungsgremien durfte vorausgesetzt werden."

 

Damit setzt Seebacher den Ton für ihr Werk, und der lautet: Mit den Sozis geht es bergab. Nach der Ostpolitik Willy Brandts, diesem Höhepunkt in der Geschichte der SPD, kam nicht mehr viel, ganz im Gegenteil. Die kolossalen Fehleinschätzungen über Wladimir Putin, die sich SPD-Granden wie Gerhard Schröder, Rolf Mützenich oder Frank-Walter Steinmeier leisteten, belasten bis heute die SPD. Dass sie in einem historischen Umfragetief steckt, weil ihrem aktuellen Kanzler Führungsstärke, der Parteispitze Ideen fehlen und die Menschen von dieser SPD nichts mehr erwarten, dürfte für Seebacher nur die Bestätigung ihres Blicks auf diePartei sein. Interessant zu lesen ist ihr Buch allemal, denn ihre Sicht auf die SPD ist ja nicht von der Hand zu weisen. Außerdem: Sie lässt den Leser an ihren intimen Kenntnissen teilhaben, über die sie verfügt, weil sie eben nicht nur Historikerin ist, sondern durch ihre Lebensgeschichte Zugang zu eminent wichtigen handelnden Persönlichkeiten der SPD hatte. Und das geht weit über das hinaus, was einem Historiker überlicherweise vergönnt ist.

 

 

 

 

Uta Degner: Ingeborg Bachmann - Spiegelungen eines Lebens

wbg Theiss, 2023

 

Der großformatige Band zeigt den Mythos Ingeborg Bachmann im Bild und in kurzen erklärenden Texten. 50 Jahre nach ihrem Tod nähert sich dieser Bildband damit der österreichischen Dichterin auf ungewöhnliche Weise. Die "Sphinx der modernen deutschen Literatur", wie sie wegen ihres komplizierten dichterischen Werks oftmals bezeichnet wird, ist in vielfältiger Weise zu sehen: Als Schulmädchen mit Ranzen, als Konterfei auf einem Plakat des Piper-Verlags anlässlich der Verleihung des Bremer Literaturpreises 1957, als nachdenkliches Porträt der Fotografin Liselotte Strelow, lachend auf der Tagung der Gruppe 47, gedankenversunken bei der Arbeit an der Schreibmaschine. Auffällig dabei: Die private und öffentliche Person lassen sich kaum voneinander trennen. Ingeborg Bachmann wird in diesem Bildband als eine Frau von großer Ausstrahlung und Wandlungsfähigkeit gezeigt. Herausgeberin Uta Degner lehrt Neuere Deutsche Literatur an der Universität Salzburg und ist Co-Gesamtherausgeberin der Salzburger Bachmann-Edition. Bachmann-Leser können sich mit diesem Band ein vertieftes Bild von "ihrer" Autorin machen; er ergänzt hervorragend die einschlägigen Bachmann-Biografien

 

 

 

 

Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit

Piper/Suhrkamp, 2023

 

"Die gestundete Zeit" ist eines der bekanntesten Gedichte von Ingeborg Bachmann (1926-1973), die als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen gilt. Das Gedicht entstand 1953 und gab dem im Dezember desselben Jahres erschienenen Gedichtband den Namen. Es war Bachmanns erste selbstständige Publikation. "Die gestundete Zeit" zeigt eine ungewöhnliche Formen- und Stimmenvielfalt, die die Zeiterfahrung Bachmanns wiedergibt: Schuld und Gedächtnis spielen eine Rolle und die Frage, wie ein Neuanfang nach dem Zivilisationsbruch der Jahre 1933 bis 1945 möglich sein könnte.

Jetzt ist das Buch in der Salzburger Bachmann-Edition neu erschienen, versehen mit einem umfangreichen Kommentar von Irene Fußl auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung. Fußls Kommentar bezieht das Gesamtwerk Bachmanns in die Würdigung dieses ersten Gedichtbands der Künstlerin ein. Der Kommentarteil der Salzburger Bachmann-Edition gibt neben der literaturwissenschaftlich-inhaltlichen Einordnung einen Einblick in die Publikationsgeschichte des jeweiligen Werks und in formiert auch über die wichtigsten Aspekte der Rezeption. So auch hier. Die Neuausgabe folgt der von der Autorin autorisierten Erstausgabe von 1953. Wer sich mit Ingeborg Bachmann und ihrer Lyrik beschäftigt, wird an dieser fundierten Kommentierung ihres womöglich wichtigsten Buchs nicht vorbeikommen.

 

 

 

 

 

Siebo Heinken (Hg.): Vulkane. Die phantastische Welt der Feuerberge

wbg Theiss, 2023

 

Im September 2021 brach auf der Kanaren-Insel La Palma ein neuer Vulkan aus. Die an Vulkanen ohnehin reiche Insel am westlichen Rand des Archipels geriet dadurch drei Monate lang in den Fokus der Weltnachrichten. Ein 5,5 Kilometer breiter Lavastrom kroch in Richtung Atlantik und zerstörte rund 3.000 Häuser. Niemand wurde getötet. Bis der - inzwischen Tajogaite getaufte - Vulkan seine Aktivität im Dezember 2021 einstellte, nutzten zahlreiche Wissenschaftler die Gelegenheit, ihn zu studieren. Der Tajogaite gilt als einer der besterforschten und -dokumentierten Vulkanausbrüche überhaupt.

Mit dem neuen Vulkan auf La Palma beginnt auch ein beeindruckendes Buch zum Thema. "Das beschädigte Paradies", heißt das Eingangskapitel des Katalogs zur Ausstellung über Vulkane im Lokschuppen Rosenheim (10. März-10. Dezember 2023). Es geht darum, wie die Palmeros nach dem verheerenden Ausbruch des Tajogaite wieder in ihren Alltag zurückkehrten und wie sehr sie dabei auf Tourismus setzen.

Vulkane üben eine anhaltende Faszination aus. Ihre Unberechenbarkeit, ihre Kraft, ihr Zerstörungspotenzial, aber auch ihre segensreichen Hinterlassenschaften in Form von fruchtbarer Erde, Geothermie und wertvollem Gestein beschäftigen die Menschen. Der Rosenheimer Ausstellungskatalog ist nicht nur ein prachtvoller Bildband, sondern auch ein informationsreiches Lesebuch über viele Aspekte des Vulkanismus. Unabhängig von der Ausstellung stellt der Band ein umfangreiches Kompendium zum Thema dar, das man immer wieder gern in die Hand nimmt. Denn eines ist sicher: Der nächste Vulkanausbruch ist nur eine Frage der Zeit.

 

 

 

 

Jürgen Luh: Der Kronprinz und das Dritte Reich. Wilhelm von Preußen und der Aufstieg des Nationalsozialismus

C.H. Beck, 2023

 

2021 hat der Historiker Stephan Malinowski in seinem Buch "Die Hohenzollern und die Nazis" die Rolle des letzten Kronprinzen Wilhelm beim Aufstieg der Nationalsozialisten umfangreich analysiert. Malinowskis Buch ist zu Recht mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet worden. Nun hat sich auch der Preußen-Experte Jürgen Luh, leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, der Figur des Kronprinzen angenommen. Sein Buch verfolgt nicht den umfassenden Ansatz Malinowskis, sondern bietet sechs Schlaglichter auf diese Person und ihr Wirkenn. Es sind vertiefende Detailstudien, darunter auch eine Rezension des Buchs "Der Kronprinz und die Nazis" von Lothar Machtan, das ebenso wie Malinowskis Untersuchung 2021 erschienen ist, hinter dieser aber zurückbleibt. Es kommt bei Luh genauso schlecht weg wie seinerzeit bei den meisten Rezensenten.

Luh kommt in seinem Band unter anderem zu dem Schluss, dass die Behauptung, es sei dem Kronprinzen immer nur um die Wiedereinführung der Monarchie gegangen, als Entschuldigungsgrund entfalle. Wilhelm habe nach 1945, so Luh, alles getan, um seine Spuren, die er in der Geschichte der Jahre von 1930 bis 1945 hinterlassen hat, "zu verwischen oder wenigstens unkenntlich zu machen". Erst als sein Urenkel Anspruch auf Entschädigung nach dem Ausgleichsleistungsgesetz erhob, das aber aussließt, wer "dem nationalsozialistischen System erheblich Vorschub geleistet hat", ist das Verhalten des Kronprinzen wieder in den Fokus gerückt. Die Hohenzollern haben den Hals nicht vollkriegen können - der Preis dafür war, dass ihr Vorfahr und seine zweifelhafte Rolle seit einigen Jahren nun seit Jahren genauer betrachtet wird. Luhs Buch trägt seinen Teil dazu bei.

 

 

 

 

Peter Longerich: Die Sportpalastrede 1943. Goebbels und der "totale Krieg"

Siedler, 2023

 

Die Sportpalastrede ist eine der bekanntesten Reden von Joseph Goebbels, Hitlers Propagandaminister. Am 18. Februar 1943 hielt Goebbels sie angesichts einer sich dramatisch gegen das Deutsche Reich gewendeten Kriegslage vor 15.000 aufgepeitschten Zuhörern, allesamt sorgsam ausgewählte nationalsozialistische Kader und etliche volkstümliche Schauspieler und Intellektuelle, im Berliner Sportpalast. Erst 16 Tage zuvor hatte die 6. Armee bei Stalingrad kapitulieren müssen. Die Rede gipfelte in der rhetorischen Frage "Wollt ihr den totalen Krieg", die das Publikum, das es nicht mehr auf den Stühlen hielt, mit einem frenetisch "Ja" wie aus einer Kehlebeantwortete. Diese Rede gilt seitdem als Beispiel einer besonders perfiden agigatorischen Rhetorik, mit der sich Goebbels als Aufpeitscher einer kriegsbegeisterten Volksgemeinschaft inszenierte.

Goebbels sprach eine Stunde und 48 Minuten, bis es im Saal kein Halten mehr gab und der 1,65 große Demagoge vom Niederrhein sein Publikum zum kochen brachte. Die exzessive Massenhysterie der Zuschauer übertrug derf Großdeutsche Rundfunk noch 20 Minuten länger, um die Wirkung zu verstärken.

2023  hat sich der Tag der Sportpalastrede zum 80. Mal gejährt. Für den renommierten Historiker Peter Longerich Anlass, die Rede eingehend zu analysieren. Hauptteil des Buchs ist die kommentierte Abschrift der Rede. In seiner Einleitung zeichnet Longerich die Entstehung und die Umstände dieser Rede von der Siegesstimmung bis zur Winterkrise 1942/43, die auch der Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs war, nach. Noch nie ist Goebbels' Rede vom 18. Februar 1943 genauer ausgewertet und in einen größeren Zusammenhang gestellt worden. Longerichs jahrzehntelange Expertise in der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Drittens Reichs kommt hier zu Geltung. Wer etwas über Manipulationstechniken autoritärer Regime erfahren möchte, der wird durch dieses Buch gut bedient.

 

 

 

 

Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist (1893-1945)

C.H.Beck 2023

 

Es gehört zu den Unwuchten der deutschen Nachkriegs-Geschichtsschreibung, dass über den ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer eine ganze Reihe großer Biografien veröffentlicht wurden, über seinen ostdeutschen Gegenspieler Walter Ulbricht aber bislang nur wenige. Dabei war Walter Ulbricht einer der einflussreichsten deutschen Politiker des 20. Jahrhunderts; er prägte den Aufbau der DDR zum sozialistischen Staat, in seine Zeit fiel der Volksaufstand in der DDR 1953, er ließ 1961 die Berliner Mauer bauen. Dass sich nur wenige Historiker mit dieser Figur beschäftigten, mag daran liegen, dass die Geschichte über Ulbricht hinweggegangen ist und dass er von seiner Persönlichkeit her konturlos schien - ein Apparatschik unter Apparatschiks von Moskaus Gnaden, ohne Charakter und Charme. Mit anderen Worten: uninteressant.

Dass dem nicht so ist, zeigen Kowalczuks tief schürfende Recherchen. Schon der erste Band seiner auf zwei Bände angelegte Biografie umfasst mehr als 1000 Seiten. Sie endet 1945. In diesem Jahr betrat Ulbricht als Leiter der nach ihm benannten Gruppe aus Moskau kommend nach harten Lehrjahren unter Stalin wieder deutschen Boden - und damit die Bühne der Geschichte. Mit den Jahren von 1945 bis zu seinem Tod 1973 wird sich der zweite Teil von Kowalczuks opus magnum beschäftigen.

Zunächst liegt die Darstellung von Ulbrichts erster Lebenshälfte vor, von der Geburt in Leipzig 1893 bis Kriegsende. Dem Autor gelingt es, durch ein weit ausgreifendes, akribisches  Quellenstudium, Ulbricht seiner zahlreichen Legenden zu entkleiden und ihn als Mensch seiner Zeit darzustellen - aufgewachsen in einer bildungsbeflissenen Leipziger Arbeiterfamilie (sprachlich konnte er seine Herkunft nie verleugnen), Mitglied der SPD, nach 1919 dann in der KPD Stufe um Stufe aufgestiegen. Durch Opportunismus, Härte, Geschmeidigkeit und Leidensfähigkeit gelang es ihm, in der Sowjetunion Stalins Säuberungen zu entgehen und zum maßgeblichen deutschen Kommunisten zu werden.

Kowalczuk zeichnet all das nach und erschließt die Persönlichkeit Ulbrichts in einer Breite und Tiefe, wie niemand vor ihm. Er macht sich weder mit Ulbricht gemein noch verdammt er ihn - das macht die Stärke dieser Biografie aus: Sie bleibt trotz der detailversessenen Nähe zum Dargestellten durchgehend distanziert-neutral. Deshalb und wegen der Breite des wissenschaftlichen Ansatzes dürfte Kowalczuks Ulbricht-Biografie wohl zum Standardwerk über diesen Politiker werden.

Dabei ist das Buch auch noch anregend geschrieben; den (buchstäblich) roten Faden verliert Kowalczuk über seine ungezählten Quellenfunde nie. Die Lesefreude wird über die 1000 Seiten auch kaum durch Längen oder Abschweifungen getrübt, im Gegenteil: die Lebensgeschichte Ulbrichts wird als Geschichte des deutschen Kommunismus erzählt, der in der Gründung der DDR seine zweifelhafte Krönung fand. Am Schluss dieses ersten Bandes, der vor der entscheidenden Entfaltung ihres Protagonisten endet, bleibt die Vorfreude auf die Fortsetzung.

 

 

 

 

 

Barry Strauss: Die Geburt des Römischen Kaiserreichs.

Antonius, Kleopatra, Octavian und die Schlacht bei Actium

wbg Theiss 2023

 

Eines der mächtigsten Reiche der Weltgeschichte, das Römische Kaiserreich, ging aus einer Schlacht hervor, die ihresgleichen sucht: 600 Kriegsschiffe und fast 200.000 Mann kämpften am 2. September des Jahres 31 v. Chr. bei Actium vor der Westküste Griechenlands gegeneinander. Auf der einen Seite standen Octavian und Marcus Agrippa, auf der anderen Seite Marcus Antonius und die ägyptische Königin Kleopatra VII. Es ging um die Vorherrschaft im Römischen Reich. Am Ende gewann Octavian, der spätere Kaiser Augustus. Die Schlacht besiegelte das Ende der Römischen Republik. Rom wurde zu einem Kaiserreich, das über Jahrhunderte Bestand haben sollte und dessen Kultur das Abendland bis heute prägt.

Die Schlacht bei Actium gilt schon in der Militärgeschichte als wenig beachtet, in der politischen Geschichte erst recht. Es ist daher das Verdienst des Althistorikers Barry Strauss, Professor für Alte Geschichte und Klassische Archäologie an der Cornell Universität in den USA, dieses weltgeschichtliche Ereignis neu beleuchtet zu haben.

Das Kapitel mit der Schlacht bildet den Mittelpunkt seines Buchs, in dem der Autor auch ihre Vorgeschichte und ihre enorme Wirkung herausarbeitet.  Strauss schlägt einen Bogen vom Beginn des Endes der Republik 44 v. Chr. bis zum Triumphzug des Augustus 27 v. Chr., er erzählt ihn packend als wäre es ein Polit-Thriller. Das Buch beschränkt sich im wissenschaftlichen Apparat auf das Nötigste, was dem Lesefluss guttut. Ein spannender Abschnitt europäischer Geschichte, frisch und unverkrampft dargeboten.

 

 

 

 

Adom Getachew: Die Welt anch den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung

Suhrkamp 2023

 

Die äthiopisch-amerikanische Politikwissenschaftlerin Adom Getachew leistet mit ihrem mehr als 400 Seiten starken Buch einen essenziellen Beitrag zur Postkolonialismus-Debatte. Der Grund liegt darin, dass sie die Standardnarrative, die das Ende des Kolonialismus als unvermeidlichen Übergang von einer Welt der Imperien zu einer der Nationalstaaten darstellen, in Zweifel zieht. Tatsächlich, so die These der Autorin, war die Unabhängigkeit nach der Ära des Kolonialismus ursprünglich viel weiter gedacht, nämlich in Richtung auf eine herrschaftsfreie internationale Ordnung. Echte Selbstbestimmung konnte es für die antikolonialen Vordenker, die Getachew porträtiert, nur mit internationalen Institutionen geben, die sowohl rechtliche und politische als auch ökonomische Nichtbeherrschung garantieren würden. Sie zieht zur Untermauerung antikoloniale Intellektuelle und Staatsmänner wie Nnamdi Azikiwe, W. E. B. Du Bois, George Padmore, Kwame Nkrumah, Eric Williams, Michael Manley und Julius Nyerere heran, die heute allesamt fast vergessen sind. Die Auflistung dieser Namen zeigt, dass Getachew vor allem den "Black Atlantic" im Sinn hat, also die antikolonialen Bewegungen in Schwarzafrika und in der Karibik. Dass die Entkolonialisierung ein Phänomen war, das weit über diesen begrenzten Raum hinausgeht, ist das einzige inhaltliche Manko des Buchs. Getachew öffnet so oder so erfrischende Denk-Perspektiven, wenn sie darlegt, dass eine andere Ordnung jenseits von neokolonialen Abhängigkeiten möglich gewesen wäre. Allein, die Geschichte ist anders verlaufen, und warum sie anders verlaufen ist, legt die Autorin ebenfalls dar.

"Die Welt nach den Imperien" war Foreign-Affairs-Buch des Jahres 2020 und wurde zu Recht mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der deutsche Verlag hätte gut daran getan, in der Übersetzung nicht zu gendern. Das mag im Zusammhang mit der Postkolonialismus-Debatte schick sein - es entspricht aber nicht der Intention der Autorin. Im englischen Original gendert Adom Getachew nicht, und man fragt sich, warum dem deutschen Leser dies dann zugemutet wird.

 

 

 

Guido Tonelli: Chronis. Eine physikalische Reise zu den Ursprüngen der Zeit

C.H.Beck 2022

 

Zeit ist etwas, was unser aller Leben bestimmt - und ein Phänomen, das kaum zu beschreiben und noch schwerer zu begreifen ist. Wer versucht sie zu verstehen, kommt schnell an die Grenzen. Dies gilt umso mehr, als die scheinbar so unverrückbare Zeit relativ ist. Außerhalb der ruhigen Ecke des Universums, in der wir leben, weicht der regelmäßige Rhythmus der Zeit zum Teil krass von unseren Erfahrungen ab. Die Probleme beginnen schon auf der Erde, sobald wir uns mit Elementarteilchen befassen, für die Zeit eine ganz andere Rolle spielt als für uns in unserem Alltag. Nirgendwo sonst ist man den Geheimnissen der Zeit näher auf der Spur als am Teilchenbeschleuniger CERN in Genf. Dort arbeitet der experimentelle Physiker Guido Tonelli, der in leitender Funktion an der Entdeckung des Higgs-Bosons beteiligt war.

Auch Tonelli kann natürlich keine letztgültige Antwort auf die Frage geben, was Zeit eigentlich ist. Aber er zeigt in seinem anregenden Buch Wege der Annäherung auf - und die sind eine intellektuelle Herausforderung. Wenn er zum Beispiel erklärt, wie Zeit in der Nähe eines Schwarzen Lochs gebeugt wird, ist das zunächst einmal eine Zumutung für den menschlichen Geist. Dennoch kommt sein Buch nicht zu schwer daher, denn Tonelli spürt der Zeit auch in Kunst und Kultur und nicht zuletzt in der Lebenswirklichkeit seines Großvaters nach. Das alles macht seine Überlegungen im Rahmen des Möglichen anschaulich und bietet dem Leser die Möglichkeit weiterzuphilosophieren - denn anderes bleibt ihm nicht angesichts der Ungeheuerlichkeit des Phänomens Zeit.

 

 

 

 

Alfred Gall: Stanislaw Lem. Leben in der Zukunft

wbgTheiss 2021

 

Stanislaw Lem hat mich schon als Jugendlicher fasziniert. Er ist einer der meistgelesenen Science-fiction-Autoren weltweit. Mit dem Roman "Solaris" fing es an, danach las ich mich durch einen großen Teil seines Werks. Lem ist ein Autor, der nicht bloß Science fiction schrieb, sondern der in seinen Büchern die Möglichkeiten technischen Fortschritts in seinen positiven und negativen Auswirkungen erkundete - und das vor dem Hintergrund überwiegend dystopischer gesellschaftlich-staatlicher Konstellationen. Lem blieb bei aller Technikbegeisterung stets skeptisch, was Erfindungen anging. Vieles von dem, was heute unseren Alltag bestimmt, sah er voraus.

Nun ist erstmals in deutscher Sprache eine Lem-Biografie erschienen. Anlass war der 100. Geburtstag des Schriftstellers am 12. September 2021. Autor ist der Schweizer Literaturwissenschaft und Polonist Prof. Dr. Alfred Gall, der an der Universität Mainz lehrt und das dortige Polonicum leitet. Gall deutet Lems Werk aus seinen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und im anschließenden Stalinismus. In Lemberg (Lwiw) in eine polnisch-jüdische Familie hineingeboren, entging der junge Lem dem Holocaust, indem er mit gefälschten Papieren seine Herkunft verschleierte.1945 wanderte er, nachdem seine Heimatstadt an die Sowjetunion gefallen war, nach Polen aus und fand in Krakau eine zweite Heimat, der er sein Leben lang treu blieb. Er ertrug geduldig die Repressionen des Kommunismus und bewahrte sich durch weit in die Zukunft ausgreifenden Romane seine intellektuelle Unabhängigkeit. Im Gegensatz zu vielen Autoren des Genres, die ihre Handlungen auf eine Katastrophe zulaufen lassen, interpretiert Gall Lem als einen postkatatrophischen Schriftsteller, denn für ihn haben die schlimmsten Katastrophen seiner Generation - Nazi-Diktatur und Stalinismus - bereits stattgefunden. Sein Werk ist von diesen traumatischen Erfahrungen her zu denken und zu interpretieren.

Galls Biografie liest sich zuweilen spröde, weil er der Verlockung des Biografen widersteht, Lebenssituationen seines Protagonisten erzählerisch auszuschmücken. Im Grunde ist sein sehr kenntnis- und faktenreiches Buch auch weniger eine Lebensbeschreibung Lems, sondern eher eine Werkbiografie. Die Besprechung der einzelnen Romane und Erzählungen Lems nimmt in Galls Buch großen Raum ein, sie sind die Haltepunkte, an denen er sich orientiert, während das Leben des Schriftstellers dahinter zurücktritt. Das Buch macht Lust, sich wieder mit Lem zu beschäftigen und sich mit dem gewonnenen Hintergrundwissen zu seinem Werdegang und seinem Denken, Bücher wie "Solaris", "Transfer", die "Sterntagebücher" oder die "Summa technologiae" neu zu erschließen.

 

 

 

 

Johannes Krause / Thomas Trappe: Hybris. Die Reise der Menschheit zwischen Aufbruch und Scheitern

Propyläen 2021

 

Dieses Buch erzählt zwei Geschichten. Die eine ist sein eigentliches Thema, die andere liegt dahinter verborgen. Die erste könnte ohne die zweite nicht erzählt werden. Es geht um die Geschichte der Ausbreitung der Menschheit von ihren Anfängen in der ostafrikanischen Savanne bis in unsere Tage. Der Paläogenetiker Johannes Krause, der Direktor am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena war und seit 2020 am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig arbeitet, hat sich dafür mit dem Journalisten Thomas Trappe zusammengetan. Herausgekommen ist ein Buch, das sich spannend wie ein Kriminalroman liest und das  ebenso geballt wie gekonnt die verschiedenen Wege der Menschheit bei der Eroberung der Erde nachzeichnet - eine Reise durch die Jahrtausende, die von grausamen Niederlagen gekennzeichnet, von Sackgassen, Seuchen, Fehlversuchen und Irrwegen, aber auch von unwahrscheinlichen Erfolgen, deren Nutznießer die heute lebenden Menschen sind.

Es könnte kaum einen versierteren Wissenschaftler geben, diese Geschichte in ihren Verästelungen zu erzählen als Johannes Krause. Er war maßgeblich an der Entschlüsselung des Neandertaler-Gens beteiligt und konnte nachweisen, dass Neandertaler und der moderne Mensch dasselbe Sprachgen teilen. Außerdem gelang ihm mittels Überresten eines sibirischen Fossils der Nachweis einer bis dahin unbekannten Menschenform, des Denisovaner.

Als wäre die Ausbreitung des Menschen auf der Erde nicht schon spannend genug, so lässt die dahinter liegende Geschichte den Leser ein zweites Mal staunen: es geht um die Methodik des Nachweises, wann sich welche Menschengruppe miteinander gemischt haben, wer wen verdrängt hat, wer wohin ausgewandert ist. Wieviele Genproben mussten entnommen, analysiert und vor allem richtig interpretiert werden, um diese schier unglaubliche wissenschaftliche Leistung zu erbringen! Was Archäologie, Paläontologie und Anthropologie bislang nicht gelungen ist, hat die Genetik - hier vor allem die Paläogenetik - in den letzten Jahren geschafft: unser Bild von der Wanderung unserer Vorfahren und von unserer eigenen Menschwerdung zu komplettieren. Heute liegt dank der genetischen Verfahren die Besiedlung der Erde durch den Menschen wie ein offenes Buch vor uns, bei dem nur noch wenige Seiten unlesbar sind.

Die Autoren stellen am Ende dieses erkenntnisreichen Werks die Frage, wie es nun weitergeht. Der Mensch ist aufgrund seiner Genetik offensichtlich dazu bestimmt - man kann auch sagen: verdammt -, die Grenzen seines Wirkungskreises immer weiter zu ziehen, bis er die ganze Welt erobert hat. Nun aber stößt er an planetare Grenzen. Die Ressourcen sind endlich geworden. Wird es ihm gelingen, sein genetisches Programm im Zaum zu halten, dessen Weiter-so in der aktuellen Situation unweigerlich zur Zerstörung des Planeten führen würde? Oder gelingt es ihm wie einst in der neolethischen Pevolution, als aus dem Wildbeuter Mensch der Ackerbauer und Viehzüchter wurde, seine Lebensweise radikal umzustellen und damit seinen Nachkommen ganz neue Lebensgrundlagen zuerschließen und sein Überleben zu sichern?

 

 

 

 

Filip Müller: Sonderbehandlung. Meine Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz

wbgTheiss 2022

 

Dieses Buch ist kaum erträglich - und dennoch sollte es gelesen werden. Es beschreibt den industriellen Mord in Auschwitz aus der Perspektive eines Menschen, der von der SS zu einer Arbeit gezwungen wurde, die jedes Vorstellungsvermögen sprengt. Filip Müller war in Auschwitz inhaftiert und wurde zu einem Sonderkommando abkommandiert, das die Aufgabe hatte, die Toten aus den Gaskammern zu schaffen und in den Öfen der Krematorien zu verbrennen. Drei Jahre lang musste Müller dies unter den Aufsicht von SS-Schergen tun - in ständiger Angst, selbst ermordert zu werden, unter unendlichen Qualen und Demütigungen. Praktisch kein Angehöriger der Sonderkommandos hat diese schreckliche Tätigkeit überlebt - die Nationalsozialisten wollten keine Zeugen für ihre Verbrechen. Müller gelang es dennoch. Er hat überlebt, gezeichnet für den Rest seines Lebens. 1980 veröffentlichte er auf Deutsch seinen Zeugenbericht "Sonderbehandlung" - ein beispielloses Dokument des Grauens. Dass es damals massive Bedrohungen gegen ihn von Alt- und Neo-Nazis gab, wirft ein Licht auf die "zweite Geschichte des Holocaust", die der Aufarbeitung des Völkermords an den europäischen Juden. Zu Lebzeiten hatte Müller aus Furcht vor ähnlichen Reaktionen keiner Neuauflage zugestimmt. Im Jahr 2022, zum 100. Geburtstag, machte seine Familie nun eine kommentierte Neuauflage möglich. Sie wird durch ein Grußwort von Felix Klein und Josef Schuster eingeleitet. Ein Anhang, ein umfangreicher Teil mit biografischen Angaben zu den im Buch erwähnten Sonderkommando-Häftlingen und Fotos - auch der SS-Angehörigen - ergänzen Müllers Bericht und geben Opfern und Tätern ein Gesicht. Ein Buch, das erschüttert und das den Leser weit über die Lektüre hinaus beschäftigt.

 

 

 

 

Holger Schmale: Chausseestraße. Berliner Geschichte im Brennglas.

Ch.Links-Verlag 2022

 

Die Chausseestraße in Mitte gehört nicht zu den ersten Adressen in Berlin, aber ohne Zweifel zu den interessantesten. Sie steht exemplarisch für das Wachsen der Metropole, für ihre Brüche und Neuanfänge. Ursprünglich lag hier ein industrielles Herz Berlins. Borsig baute hier seine ersten Lokomotiven. Die Schlote qualmten, das Viertel wurde Feuerland genannt. Heute residiert an der Chausseestraße der BND, werden einen Steinwurf weiter Schauspieler ausgebildet, hat sich Stararchitekt Daniel Libeskind an einem Wohnhaus versucht, gehen Designer in Agenturen ihrem kreativen Tagewerk nach.

Der Journalist Holger Schmale hat auf der Chausseestraße jeden Stein umgedreht und erzählt ihre Geschichte in bester Gästeführer-Manier anekdotenreich und mit enormer Detailkenntnis. Er war im Haus von Wolf Biermann und am Spartakus-Gedenkstein - der Stelle, an der die KPD gegründet wurde. Er erzählt vom ersten Parkhaus in Berlin und von Bert Brechts Arbeitszimmer,  besucht die berühmten Toten auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Er schaut bei der Verfilmung des Untergangs der Titanic nur wenige Monate nach der Schiffskatastrophe zu, wirft einen Blick ins Stadion der Weltjugend und führt den Leser ins Ballhaus Berlin und ganz zum Schluss in die DDR-Kneipe "Borsig-Eck", die von der Stasi überwacht wurde. Die Deportation von jüdischen Bewohnern der Straße, die Mauer quer zur Fahrbahn, ungeklärte Besitzverhältnisse, Verfall, Metamorphose und Wiederauferstehung - alles spielt in diesem Buch eine Rolle. Schmale geht in seiner Biografie der Chausseestraße nicht chronologisch vor. Er wandert die Straße auch nicht von einem Ende zum anderen ab, sondern er leuchtet sie schlaglichtartig aus. Mal hierhin, mal dorthin fällt der Scheinwerfer seines Interesses. Auf diese Weise entsteht ein mosaikhaftes Porträt, das Lust macht, die Chausseestraße auf eigene Faust zu erkunden und - wie Schmale es getan hat - auch einmal, wo es möglich ist, hinter die Fassaden zui schauen.

 

 

 

 

Herfried Münkler: Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch.

Rowohlt Berlin, 2021

 

Herfried Münkler verweist in seiner Einleitung zu Recht darauf, dass die Forschungsliteratur zu Marx, Wagner und Nietzsche unübersehbar ist. Dennoch wendet er sich diesen drei deutschen Giganten des 19. Jahrhunderts zu und verbindet ihre Leben auf eine Art und Weise, wie dies bislang noch niemand getan hat. Die drei Männer sind Zeitzeugen eines Zeitalters des Umbruchs. Im 19. Jahrhundert beschleunigte sich der Lauf der Welt, stand die Moderne in den Startlöchern und wurden die Grundlagen für das Jahrhundert der Extreme, das 20. Jahrhundert, gelegt. Marx, Wagner und (der etwas jüngere) Nietzsche waren Zeitzeugen dieser "Welt im Umbruch", wie der Untertitel des Buchs lautet. Sie haben ganz unterschiedliche Schlüsse aus ihren Beobachtungen und Erfahrungen gezogen, waren mal mehr, mal weniger aufeinander bezogen und haben in jedem Fall prägende Spuren hinterlassen. Letztere indes nicht unbedingt aus eigenem Vermögen, aber weil sie Erben hatten, die ihr jeweiliges Werk für die Nachwelt aufbereiteten, zuweilen auch zurichteten: Bei Marx war dies Friedrich Engels, bei Wagner seine Witwe Cosima und bei Nietzsche seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche. Aus dem Werk aller drei Männer ist jeweils ein -ismus entstanden: Marxismus, Wagnerismus, Nietzscherismus. Das sagt alles über ihre Bedeutung.

Münkler gelingt es, diese drei Leben miteinander zu verweben, das Werk jedes Einzelnen in Beziehung zu setzen mit den Werken der beiden anderen. Darin liegt der Reiz dieses Buchs, und eine solche Herkulesaufgabe kann nur einem Autor gelingen, der diesen geradezu wahnwitzig umfangreichen Stoff beherrscht, ihn überblickt und sich nicht in Details verliert. Mit diesem Buch hat sich Münkler einmal einen Namen gemacht als ein Autor, der auf souveräne Art und Weise auch komplexeste Stoffe behrrscht und dem es gelingt, immer wieder frische Blicke auf Epochen der Geschichte zu werfen, von denen man glaubte, es sei über sie längst alles gesagt.

 

 

 

 

Der Untergang des Römischen Reichs. Begleitband zur Ausstellung 25. Juni - 27. November 2022 in Trier,  wbg Theiss 2022

 

Die Ausstellung "Der Untergang des Römischen Reichs" in Trier ist einer der Ausstellungshöhepunkte des Jahres 2022 in Deutschland. Das Rheinische Landesmuseum, das Museum am Dom und das Stadtmuseum Simeonstift widmen sich in einer vielbeachteten Schau einer wenig bekannten, aber entscheidenden Epoche des Römischen Imperiums: seinem Untergang. Kein Ort könnte dafür besser geeignet sein als Trier, dessen Blütezeit in die Spätantike fällt und dessen Schicksal mit der letzten Phase des Römischen Reichs eng verbunden ist.

Die Suche nach den Gründen für das Ende dieses Großreichs, das mehr als 800 Jahre lang Europa und angrenzende Regionen beherrscht hat, bewegt die Wissenschaft seit Jahrhunderten. Wie stirbt ein solches Reich? Warum verwaisten seine Metropolen? Was waren die Vorboten für den Zerfall und was ist das Erbe des Imperiums?

Wie schon zur großen Nero-Ausstellung in Trier 2016 gibt es natürlich auch diesmal wieder einen opulenten Begleitband. Dieser ist auch für denjenigen in jeder Hinsicht lesenswert, der die Trierer Schau nicht besuchen kann, da der Katalogteil ausgesprochen kurz gehalten ist. Den weitaus größten Teil des fast 500 Seiten starken Buchs bilden Aufsätze von deutschen und internationalen Experten, die alle nur denkbaren Aspekte der Untergangs Roms beleuchten. Naturgemäß findet der Leser hier auch aktuelle Ansätze, die eine mögliche Erklärung in Klimafolgen und Krankheitsausbrüchen suchen. Es ist nicht zuviel verraten, hier festzustellen, dass weder Klimawandel noch Epidemien allein den Zerfall des Imperiums erklären können. Wer an der Antike - insbesondere an der Spätantike - interessiert ist, kommt an diesem Begleitband zur Ausstellung mit seinen Beiträgen auf dem neuesten Stand der Forschung nicht vorbei. Überdies ist das schwergewichtige Buch mit seinen zahllosen Abbildungen, Karten und Grafiken einfach auch schön anzusehen.

 

 

 

 

Michael Borgolte: Die Welten des Mittelalters. Globalgeschichte eines Jahrtausends

C.H.Beck, München 2022

 

Seit längerem schon löst sich die westliche Geschichtswissenschaft von ihrer Europazentriertheit. Postkoloniale Fragestellungen tragen dazu bei, den Blick zu weiten. Während unter dem postkolonialen Aspekt häufig Ideologie dominiert, ist es im Sinne Leopold von Rankes ("Sagen, wie es gewesen ist") ganz selbstverständlich, unverstellt zu schauen, wie es in einer bestimmten Epoche in anderen Kulturen ausgesehen hat. Es ist geradezu erstaunlich, dass dies nicht schon längst eingesetzt hat. Diesen unideologischen Ansatz vertritt der emeritierte Professor für mittelalterliche Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin Michael Borgolte mit seinem mehr als tausend Seiten starken Werk.

Natürlich ist es problematisch, und viele Kritiker haben darauf hingewiesen, den Begriff des Mittelalters auf andere Weltregionen zu übertragen. Die afrikanischen Kulturen kennen ebensowenig wie die lateinamerikanischen ein Mittelalter (in China ist das schon etwas anderes). Ja nicht einmal Nordeuropa hatte in diesem Sinne ein Mittelalter, denn dieses setzt eine Antike voraus, die in Skandinavien nicht stattfand.

Versteht man Mittelalter allerdings einfach als Metapher für ein Jahrtausend - das zwischen 500 und 1500 -, dann ist der Begriff durchaus für eine Globalgeschichte handhabbar. Und in diesem Sinne nutzt Borgolte ihn. Er erkundet die Gleichzeitigkeit der Kulturen in diesem Zeitraum: die beiden Amerikas, die Welten des Pazifik und die, wie er es nennt, "losen Enden des Netzes": Schwarzafrika, Asien und die arktischen Küstenländer. Ein eigenes Kapitel widmet er den Beziehungen der Religionen, die nicht nur in Europa kulturprägend waren.

Borgoltes lehrreiches Werk wirft aus demSäkulum des globalen Dorfs den Blick zurück in eine Zeit, als große Teile der Welt noch unverbunden nebeneinander standen und doch bereits begannen, mehr und mehr Bezug aufeinander zu nehmen. Das heutige globale Dorf hat seine Ursprünge in jenem Jahrtausend, das in seiner ganzen Breite sich näher anzuschauen in jedem Fall lohnt, um die Welt, wie wir sie heute vorfinden, zu verstehen.

 

 

 

 

Benjamin Carter Hett: Eskalationen. Wie Hitler die Welt in den Krieg zwang

Reclam, Ditzingen 2021

 

Vor dem Hintergrund des Überfalls Russlands auf die Ukraine und des Völkermords dort im Jahr 2022 liest man die Darstellung des amerikanischen Historikers Benjamin Carter Hett über den Weg in den Zweiten Weltklrieg mit großem Unbehagen. Das liegt nicht an Hetts Darstellung, ganz im Gegenteil. Er hat akribisch recherchiert und wirft Schlaglichter auf die Schauplätze Berlin und London und - nachrangig - Washington. Bei ihm stehen die damaligen "großen Männer" im Vordergrund: Hitler, Chamberlain, Churchill, Roosevelt. Unbehagen bereitet die Lektüre zum einen, weil wir im Westen die Zeit der Staatslenker in Form dieser "großen Männer", die über Krieg und Frieden entscheiden, überwunden glaubten. Der Ukraine-Krieg belehrt uns eines schlechteren. Ganz offensichtlich reicht der Wille eines einziges Mannes aus, um ein Nachbarland mit Krieg, Verwüstung und massen- haftem Tod zu überziehen. Wladimir Putin ist der große Völkerschlächter unserer Tage. Und offensichtlich kulminiert wie eh und je in einem einzigen Menschen, in Wolodimir Selenski, die Fähigkeit eines ganzen Volkes, zu widerstehen und zu kämpfen. Putin, der neue Hitler. Selenski, der neue Churchill. Geschichte wird immer noch von Männern gemacht - wer hätte das gedacht?

Zum anderen bereitet die Lektüre des Buchs Unbehagen, weil es uns vor Augen führt, wie fahrlässig wir 20 Jahre mit diesem Diktator Putin umgegangen sind. Wie wir ihn haben gewährenlassen. Geschichte wiederholt sich nicht, aber Hett zeigt (ungewollt) auf, dass es Parallelen zwischen den 1930er-Jahren und den Jahren 2002 bis 2022 gibt. Was damals die Tschechoslowakei war, ist heute die Ukraine. Was damals die Appeasement-Politik war, war zuletzt die allzu große Freundschaft insbesondere auch der Politiker in Deutschland zu Putin, war das Minsker-Abkommen und war die Blindheit gegenüber den wirklichen Zielen dieses Machtmenschen im Kreml.

Man kann hetts Buch nicht lesen, ohne ohne sich vor den Kopf zu schlagen, welche fatalen Fehler die Demokratien gegenüber Hitler in den 1930er-Jahren gemacht haben und welche Fehler schon wieder im Umgang mit einem Diktator, mit Putin, begangen worden. Die Fehler vor 90 Jahren führten zum Zweiten Weltkrieg. Wohin werden die Fehler der letzten 20 Jahre in Bezug auf Russland führen?

Carter Hett geht mit Neville Chamberlain hart ins Gericht. Aber er billigt ihm zu, dass Chamberlain immerhin durch das Münchener Abkommen Zeit gewonnen hat, Großbritannien für den großen Krieg stark zu machen. Er hat die Entwicklung des besten Jagdflugzeugs seiner Zeit, der Spitfire, gefördert, ebenso die Installation von damals ganz neuen Radarstationen in England, wie er überhaupt die Verteidigungsfähigkeit Großbritanniens so aufbaute, dass Hitler die Luftschlacht um England 1940 verlieren musste. Was aber haben die westlichen Politiker unserer Tage in der Zeit des Appeasements gegenüber Russland getan, um Westeuropa gegen Moskaus Imperialismus abzusichern? Man fürchtet sich die Antwort auszusprechen: Nicht nur nichts, sondern sie haben die Abhängigkeit von dieser Diktatur noch vergrößert. Man würde sich wünschen, dass Politiker historische Bücher lesen. Das von Carter Hett sollte dazugehören. Dann würden sie im Umgang mit Diktatoren vielleicht nicht mehr so naiv sein.

 

 

 

 

Roman Deininger / Uwe Ritzer: Die Spiele des Jahrhunderts. Olympia 1972, der Terror und das neue Deutschland, dtv München 2022

 

Sven Felix Kellerhoff: Anschlag auf Olympia. Was 1972 in München wirklich geschah,

Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2022

 

Im September 2022 jähren sich zum 50. Mal die Olympischen Sommerspiele von München. Es waren die zweiten Olympischen Spiele in Deutschland nach 1936, und es sollte diesmal alles anders sein. Die Bundesrepublik wollte sich locker, fröhlich, bunt und von ihrer sympathischsten Seite zeigen. Die Leichtigkeit dieser Spiele, die mit Farbfernsehen zum ersten großen Fernsehereignis der Olympischen Bewegung noch vor der bald einsetzenden grenzenlosen Kommerzialisierung werden sollte, hielt nur die erste Woche an. Am 5. September 1972 überfielen palästinensische Terroristen das Olympische Dorf in München und nahmen die israelische  Mannschaft als Geisel. 21 Stunden später waren 17 Menschen tot, die Geiselnahme endete in einem Blutbad und einem Desaster für die völlig überforderten deutschen Sicherheitsbehörden.

Die beiden Bücher nähern sich diesem Ereignis, das sich ins kollektive Bewusstsein der Deutschen eingebrannt hat, auf unterschiedliche Weise. Deininger und Ritzer betten es in die deutsche Geschichte von 1936, von den Olympischen Spielen in Berlin, bis zu den Nachwirkungen des Münchener Attentats 50 Jahre später, also 2022, ein. Sie schlagen einen weiten Bogen von der Sportpolitik der Nazis bis zur problematischen jahrzehntelangen Verdrängung der Münchener Geschehnisse von 1972. Auch die sportliche Dramatik der Sommerspiele 1972 kommt bei ihnen nicht zu kurz, die mit Namen wie Mark Spitz, Heide Rosendahl und Ulrike Meyfarth verbunden ist. Während ihr Ansatz dem Vorgehen mit einer Kamera mit Weitwinkelobjektib entspricht, nimmt Kellerhoff in seinem Buch das Zoomobjektiv in den Hand, wenn nicht sogar das Mikroskop. Er konzentriert sich im Wesentlichen auf die 21 Stunden der Geiselnahme und erstellt ein packendes Ereignisprotokoll, das buchstäblich Minute um Minute das Geschehen nachzuzeichnen versucht.

Beide Absätze haben ihre Berechtigung, und beide Bücher ergänzen sich auf hervorragende Weise. Um das große Ganze zu verstehen, empfiehlt sich zunächst die Lektüre von "Spiele des Jahrhunderts", um dann in Kellerhofs minutiöse Darstellung des Attentas einzusteigen. Mehr als das, was die Autoren dieser beiden Bücher zusammengetragen, dürfte es kaum über "München 1972" zu berichten geben.

 

 

 

 

Carlo Rovelli: Helgoland.Wie die Quantentheorie unsere Welt verändert

Rowohlt, Hamburg 2021

Was hat die Insel Helgoland mit der Quantentheorie zu tun? Anders gefragt: Warum sollte ein Autor einem Buch über die Quantentheorie ausgerechnet den Titel "Helgoland" geben? Helgoland und die die Weltsicht des 20. Jahrhunderts erschütternde Quantentheorie sind durch einen Physiker verbunden: Werner Heisenberg. Als 23-Jähriger reiste er im Jahr 1925 wegen seiner Pollenallergie auf die fast staubfreie Nordsee-Insel - ein Aufenthalt, von dem er sich Linderung von seinem Leiden erhoffte. Was er mitbrachte, waren Einsichten in die Mechanik der Welt, die ungeheuerlich waren. Mit der von ihm unter anderem auf Helgoland entdeckten Quantenmechanik gelang Heisenberg ein Verständnis des Verhaltens von Atomen, um das sich Physiker-Giganten wie Max Planck oder Niels Bohr vergeblich bemüht hatten.
Carlo Rovelli, Physikprofessor in Pittsburgh und Marseille, lässt die Geschichte der Erforschung der Quanten auf dem kargen Felsen in der Nordsee beginnen, auf dem dem jungen Werner Heisenberg plötzlich alles klar wurde: „Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken“, zitiert ihn Carlo Rovelli, „ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen." Und danach war in der Wissenschaft nichts mehr wie vorher.
Die Quantentheorie ist für den Laien eine der am schwersten verständliche physikalische Theorien. Und doch erklärt sie, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält. Dass der Beobachter Einfluss auf das Beobachtete haben soll, wie es in der Quantentheorie heißt, war und ist kaum zu glauben. Weil Quantenphänomene nicht eindeutig sind, ist auch die Theorie über sie bis heute nicht unumstritten. Rovelli führt seine Leser in diese heikle und geheimnisvolle Welt und öffnet ihnen die Augen für eine Realität, die so gar nichts mit unserem Alltag zu tun haben will und die doch im Kleinsten um uns herum steckt. Rovelli erwartet nicht, dass seine Leser verstehen, um was geht - das tun ja nicht mal alle Physiker. Er will neugierig machen und anregen, sich auf etwas einzulassen, gerade weil es einem schwer macht, sich darauf einzulassen. Er benutzt dazu poetische Sprache, Beispiele, Analogien und Anekdoten - so etwa zu einem anderen Großen der Quantentheorie, Erwin Schrödinger (der mit der Katze), und seinen Frauengeschichten. Auch Physiker sind eben nur Menschen. Auch, wenn man am Ende der Lektüre nicht wesentlich schlauer ist, was die Theorie angeht, so hat man doch ebenso wie einst Heisenberg auf einen tiefen Grund "merkwürdiger innerer Schönheit" geblickt und wieder einmal gemerkt, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt als das, was wir wahrnehmen.

 

 

 

 

 

Jörg Koch: Deutsche Bahnhöfe in historischen Ansichten. 200 Meisterwerke der Architektur

Transpress, Stuttgart 2021

 

Eisenbahngeschichte ist Verkehrsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Kulturgeschichte - und Architekturgeschichte. Dies macht dieser großformatige Band deutlich, der 200 deutsche Bahnhöfe vorstellt. Bahnhöfe waren im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert Kathedralen der Moderne, gelegen an der Adern, die das Land zusammenwachsen und Distanzen schrumpfen ließen: Schienenstränge. Der Wormser Historiker und Heimatforscher Jörg Koch stellt die historischen deutschen Bahnhöfe als das vor, was sie für den Besucher und Bahnfahrer sind: Empfangsgebäude. Die zu einem Bahnhof gehörenden technischen Anlagen wie Lokschuppen, Stellwerke, Bahnsteige usw. bleiben unberücksichtigt. Die Objekte seines Interesses sortiert Koch nach Bahnhöfen in Metropolen und in Großstädten, nach Regionalbahnhöfen und nach kleineren Bahnstationen abseits der Magistralen. Zum Teil prachtvolle historische Aufnahmen zeigen, mit welch architektonischer Raffinesse diese Zweckbauten zum Teil erbaut wurden. Viele davon gibt es heute noch zu sehen, sie sind restauriert und erstrahlen in neuem Glanz. Dazu gibt es jeweils eine kurze Beschreibung des jeweiligen Gebäudes, seine Geschichte und manche Anekdote. Für Eisenbahnfans ist dieses Buch eine ideale Ergänzung zu der umfangreichen Literatur, die sich vorzugsweise auf das rollende Material bezieht. Für den historisch und kulturell interessierten Leser eröffnet der Band eine neue Perspektive auf einen wichtigen Teil unseres architektonischen Erbes.

 

 

 

 

Nadine Rossol / Benjamin Ziemann (Hg.): Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, WBG, Darmstadt 2021

 

Die Weimarer Republik ist fester Bestandteil unserer Gegenwart und literarisch-künstlerisch "in". Nicht nur in Form von Krimireihen wie "Babylon Berlin" und einer Vielzahl von Büchern, die alle möglichen kulturgeschichtlichen Aspekte der "Wilden Zwanziger" beleuchten, sondern auch in der Wissenschaft. Hundert Jahre liegt dieser erste demokratische Versuch Deutschlands nun zurück - Grund genug, sich wegen des runden Datums näher mit der Weimarer Republik zu beschäftigen. Die beiden Historiker Rossol und Ziemann haben ein voluminöses Werk von fast tausend Seiten vorgelegt, das sowohl ereignis- wie strukturgeschichtlich vorgeht und in 32 Aufsätzen namhafter internationaler Autoren den Versuch einer Periodisierung der Weimarer Republik vornimmt, sich sodann mit den Rahmenbedingungen für Politik beschäftigt, die Parteien und ihre Milieus betrachtet und schließlich in zwei Kapiteln Gesellschaft und Wirtschaft sowie de Kultur der 1920er-Jahre untersucht. Praktisch alle Aspekte der Weimarer Republik werden dabei beleuchtet und der aktuelle Forschungsstand wiedergegeben. So entsteht ein Kaleidoskop eines Staates, der - wie der Titel des Handbuchs treffend zusammenfasst - einerseits einen Aufbruch darstellte, andererseits auch von Anfang an immer wieder in Abgründe blickte und schließlich in einem solchen endete. Rossols und Ziemanns Buch ist schon jetzt ein Standardwerk zu dieser prekären ersten Demokratie.

 

 

 

 

Piers Bizony: Die Eroberung des Weltalls. Die legendären Bilder der NASA-Missionen

WBG Theiss, Darmstadt 2021

 

Bevor in den 1960er Jahren Raketen die ersten amerikanischen Astronauten in den Weltraum trugen, mussten diese bis dahin unvorstellbaren Raumfahrtmissionen der Öffentlichkeit, der Presse und den Politikern erklärt werden. Die NASA bediente sich dazu auch des Mediums Bild und unterhielt einen ganzen Stab von talentierten Künstlern, die die Visionen der Weltraumbehörde in Illustrationen umsetzten. Entstanden sind - lange vor den Möglichkeiten von Computermodellen und -zeichnungen - Bilder von faszinierender Schönheit und Detailversessenheit: Raumschiffe - damalige und zukünftige - werden fantasievoll und in starken Farben dargestellt, dreidimensionale Risszeichnungen veranschaulichen den Aufbau von Orbitern und Mondlandefähren. Astronauten schweben, nur mit einer Leine mit ihrer Raumkapsel verbunden, im All, unter ihnen die Erde. Das aufgerissene Skylab-Raumlabor in der Erdumlaufbahn zeigt das Innenleben dieser zu einer Weltraumstation umgebauten Brennstuife einer Saturn-V-Rakete.

All diese Zeichnungen lagern im NASA-Archiv in Arizona. Der britische Wissenschaftsjournalist und Weltraum-Historiker Piers Bizony hat 200 der beeindruckendsten NASA-Zeichnungen ausgewählt und stellt sie in diesem großformatigen Buch vor. Die Zeitspanne reicht dabei von Anfang der 1960er Jahre bis in die 2010er-Jahre. Denn für aktuelle und künftige Weltraummissionen lässt die NASA immer noch Illustrationen anfertigen - heute freilich am Computer: Es sind Szenen wie die bittersüße Zerstörung der Raumsonde Cassini in der Saturn-Atmosphäre oder als Träumerei Städte im All, eingebaut in riesigen sich drehenden Rädern, die künstliche Schwerkraft erzeugen.

 

 

 

 

Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund. Roman

Manesse, München 2021

 

Der erstmals 1864 erschienene Roman von Fjodor Dostojewski ist von erstaunlicher Aktualität: Da sitzt ein ehemaliger Beamter, der mit Anfang 40 seinen Dienst quittiert hat und von einer bescheidenen Erbschaft lebt, verbittert in seiner Wohnung am Rande von Sankt Petersburg und lamentiert gegen die Welt und die Zeiten. Ein erster Wutbürger ist das, den der große russische Schriftsteller uns da zeigt. Einer, der im Leben gescheitert ist und dem nichts recht zu machen ist. Ein Frustrierter, der die Gesellschaft für sein Schicksal verantwortlich macht. Er könnte auch in Stuttgart, Leipzig oder Berlin im Jahr 2021 sitzen und lamentieren. Die Personifizierung des Entfremdeten, der sich in eine Generalabrechnung hineinsteigert. Es ist eine meisterliche psychologische Studie, die Dostojewski verfasst hat. Friedrich Nietzsche sah in dem Roman nicht weniger als einen "wahren Geniestreich der Psychologie".

Der Roman, längst ein Klassiker, liegt nun in einer feinfühligen Übersetzung von Ursula Keller vor, die auch das Nachwort geschrieben hat. Ihr ist es gelungen, die stilistischen Eigenheiten der mündlichen Rede des Ich-Erzählers mit ihren Wiederholungen, Übertreibungen und Widersprüchen originalgetreu wiederzugeben - ohne Glättungen und Erklärungen. Wie schwierig der Roman zu übersetzen ist, zeigt sich schon am Titel Zapiski iz podpol'ja. Im Russischen ist der Begriff podpol'e vieldeutig: Er kann "Raum unter dem Fußboden" (also Kellergeschoss") bedeuten ebenso wie "illegales Versteck". Diesen Begriff mit "Untergrund" zu übersetzen, hat einiges für sich, denn der innere Monolog des namenlosen Protagonisten ist ja auch und in erster Linie ein Bericht aus der Dunkelzobe des eigenen Unterbewusstseins. Dass er nicht unbedingt in einer Kellerwohnung leben muss, zeigt folgende Textstelle von Seite 257: "Doch in diesem Augenblick hörte ich von unten, wie die Haustür mit der Glasscheibe schwerfällig und mit einem Quitschen geöffnet wurde und dumpf wieder zufiel. Dieses Geräusch stieg das Treppenhaus herauf." Insofern sind frühere Übersetzungen, die mit Begriffen wie "Keller" oder "Kellerloch" arbeiteten, unzutreffend.

 

 

 

 

Robert Moor: Wo wir gehen. Unsere Wege durch die Welt

Insel-Verlag, Berlin 2020

 

Natur Writing von einem, der in sieben Jahren auf dem halben Globus abertausende Kilometer zu Fuß zurückgelegt und der sich die Frage gestellt hat, warum wir gerade diesen Weg nehmen und nicht einen anderen. Zum ersten Mal kam bei Robert Moor diese Frage auf, als er monatelang mit sich und seinen Gedanken allein über den Appalachian Trail in den USA wanderte. Warum wählen wir im Zweifel befestigte Wege statt Trampelpfade? Wie entstehen Abkürzungen? Wieso können sich Ameisen mühelos in unbekanntem Terrain bewegen? Und die grundlegendste aller Fragen: Was hat Lebewesen überhaupt aufgemacht, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen? 

Die ältesten Spuren der Wanderung eines Geschöpfs finden sich in Neufundland. Vor 565 Millionen Jahren - noch vor dem Beginn des Erdaltertums im Kambrium -, bewegte sich ein Mehrzeller namens Ediacara dort über den Boden und hat Spuren hinterlassen, die erstaunlicherweise von Paläontologen entdeckt wurden und ausgewertet werden konnten. Es war der Beginn der aktiven Mobilität des Lebens auf der Erde.

Ob die Routen afrkanischer Elefanten, Pfade von Naturvölkern oder moderne Autobahnen - Wege schenken nicht nur Menschen Orientierung, sondern sie definieren auch die Welt derjenigen, die sie benutzen. Sich anhand eines globalen Ansatzes diesem ungewöhnlichen Thema genähert zu haben, ist das Verdienst des Journalisten Moor, der damit sein erstes Buch vorgelegt hat. Es ist teils eine Naturgeschichte, teils eine soziologische Arbeit mit Reportagelementen und immer wieder auch Erlebnisbericht, wie Natur auf uns wirkt - und wie bedrohlich sie wäre, gäbe es keine Wege.

 

 

 

 

Sascha Mamczak: Science-Fiction

Reclam, Ditzingen 2021

 

Wer sich über das Genre Scinece-Fiction informieren will, findet in dem Reclam-Band aus der Reihe "100 Seiten" eine knappe und flott geschriebene Einführung. Doch ist Science-Fiction überhaupt ein Genre? Sascha Mamczak, selbst Science-Fiction-Verleger und Autor von Essays und Sachbüchern, sieht das so. Problembewusst wägt er allerdings das Für und Wider dieser These genau ab. Er unterscheidet auch zwischen (ernsthafter) SF und verspielter und (populärer) Sci-Fi, wie sie ihren Höhepunkt in der eklektischen Star-Wars-Saga gefunden hat.

Der Autor führt seinen Leser durch die Geschichte der utopischen Literatur vom 17. Jahrhundert bis in unsere Tage. Wer sind gut auskennt, wird seine Kenntnisse bestätigt finden und vieles erinnern. Wer bislang in der Science-Fiction nur hineingeschmeckt hat, findet sich nach der Lektüre auf einer fundierten Wissensgrundlage wieder und hat mit Sicherheit Autorennamen und Buchtitel gelesen, die Lust machen, mehr von Science-Fuction zu entdecken. Mamczak ist nicht nur eine überzeugende Gesamtdarstellung gelungen, sondern er hat es auch geschafft, seinem Publikum etwas von seiner Begeisterung an der Science-Fiction mitzugeben.

 

 

 

 

Detlev Arens: Eifeler Blüten-Lese

Eifelbildverlag, Daun 2021

 

Die Eifel ist eine Region mit einer besonderen Pflanzenvielfalt. Hier wachsen atlantische, submediterrane und alpine Arten - oft auf engstem Raum, nur ein paar Schritte voneinander entfernt. Die kleinräumigen unterschiedlichen Standortfaktoren, das Mikroklima und die reiche Struktur der Böden sind dafür verantwortlich. Jedes Kind kennt die ein oder andere weit verbreitete Eifelblüte - wenn auch von Generation zu Generation die Artenkenntnis ebenso abnimmt wie die Zahl der Arten selbst. Andere Pflanzen-Schönheiten sind schwerer zu benennen. Die einzelne Blume ist nicht nur ein Wunderwerk der Natur, sondern viele von ihnen haben auch Spuren in unserer Kultur hinterlassen: in Kulturgeschichte, Volksfrömmigkeit, Heilkunst und Philosophie.

Diesen Aspekten geht der promovierte Germanist, Philosoph und Theaterwissenschaftler Detlev Arens in diesem bezaubernd gestalteten Büchlein nach. Er porträtiert 42 Eifeler Blütenpflanzen in ihrem Lebensraum und in der Reihenfolge ihrer Blühzeit: Erscheinunbgsbild, zugeschriebene oder tatsächlich nachgewiesene Heilwirkung, kulturhistorische Bedeutung. Diese liebevollen Betrachtungen reichen von A wie Akelei bis W wie Wald-Läusekraut und schließen die streng geschützten Orchideen ebenso ein wie den ordinären Löwenzahn. Es ist ein Lesebuch entstanden, das den Horizont für jeden Eifel- und Pflanzenliebhaber weit über die Botanik hinaus erweitert. Blumen sind eben mehr als ihre biologischen Merkmale und ihre ökologische Bedeutung. Sie sind dem Menschen nah und haben ihn seit eh und je begleitet, begeistert, ihm geholfen und ihn zum Nachdenken angeregt. Das tut auch dieses der Hand und dem Auge schmeichelnde, in Leinen gebundene Büchlein mit seinen hinreißenden, teils historischen Zeichnungen des Gegenstands der Betrachtung.

 

 

 

 

Robin Alexander: Machtverfall. Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik - Ein Report

Siedler, München 2021

 

Robin Alexander ist einer der bestinformierten Hauptstadt-Journalisten. Der Redakteur der Tageszeitung DIE WELT hatte bereits 2017 mit "Die Getriebenen" ein - auch verfilmtes - Buch vorgelegt, das die Hintergründe der Flüchtlingskrise von 2015 und das damalige Staatsversagen beleuchtete. Der Titel seines neuen Buchs ist nur bedingt stimmig, denn in der Corona-Krise 2020/21 verfiel die Macht der CDU-geführten Bundesregierung ja nicht nicht wirklich, im Gegenteil. Die Bundesregierung maßte sich vielmehr so viel Macht wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik an und überzog das Land mit einem Lockdown nach dem anderen, mit einer Bundesnotbremse und etlichen anderen Maßnahmen, die tief in die Grundrechte der Bürger eingriffen, Existenzen zerstörte und eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen massiv schädigte - viele davon in verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Kungelrunden wie der Ministerpräsidentenkonferenz am Bundestag vorbei beschlossen. Besser wäre also ein Titel wie "Machtanmaßung" gewesen.

Und doch geht es auch um Machtverfall, nämlich den der nach 16 Regierungsjahren erschöpften Angela Merkel. Sie hat es beispielsweise in der Dämmerung ihrer Kanzlerschaft nicht mehr geschafft, ihre Wunschnachfolgerin in Stellung zu bringen. Ursula von der Leyen wurde stattdessen als EU-Kommissionspräsidentin installiert, und das auch nur, weil CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak dank seiner polnischen Wurzeln beim starken Mann in Warschau, Jaroslaw Kaczynski, zum Bittgang antrat und die polnischen Bedenken gegen die ungeliebte Merkel-Favoritin ausräumte. Dass ein junger Generalsekretär die wichtigste Personalie der Kanzlerin retten musste, sagt viel über die Stellung Merkels zum Schluss in der europäischen Politik aus. Dass von der Leyen bei der Impfstoffbeschaffung versagte, warf auch einen Schatten auf die Frau hinter ihr, die deutsche Kanzlerin.

Das Buch ist voller solcher der Öffentlichkeit unbekannten Begebenheiten und Zusammenhänge, die die Klasse des Autors zeigen. Er ist so gut informiert, verfügt über so viele Quellen, dass man meint, er säße quasi im Kopf der Akteure. So wird endlich auch deutlich, wo der wahre Grund für die überzogene deutsche Corona-Politik liegt, die über Monate weder eine vernünftige Orientierung noch eine ruhige Hand noch schon gar nicht Maß und Mitte kannte: es war die persönliche, geradezu hysterische Angst Angela Merkels vor einer Ansteckung. Wie eine Besessene verstaute sie ihre Masken, von denen sie stets zwei bei sich hatte, in verschließbaren Plastikbeutelchen, trug sie länger und korrekter als jeder andere Mensch. Alexander beschreibt all dies detailliert.

Die Physikerin im Kanzleramt studierte die Luftströme in ihren Dienstwagen und ließ ihre Staatskarossen stehen, weil ihr nur ein simpler VW-Bus, in dem sie sich auf die hinterste Bank verkroch, als das Auto mit dem geringsten Risiko erschien. So musste das ganze Land unter der Angst seiner mächtigsten Politikerin leiden. Hinzu kam, dass sich Merkel nur von Propheten der Apokalypse beraten ließ - Virologen, die das größtmögliche Unheil an die Wand malten. Gemäßigte Experten wurden nicht in die exklusive Beraterrunde eingeladen. Einen Kinder- und Jugendpsychiater, der das ganze Ausmaß der staatlichen Maßnahmen auf junge Generation schildern konnte, hörte Merkel erst auf Druck der Ministerpräsidenten an, wie Alexander schreibt. Da war es schon zu spät. Von Machtverfall kann also nicht wirklich auf der ganzen Linie die Rede sein, wenn die persönliche Befindlichkeit der Kanzlerin der Maßstab für das Handeln eines ganzen Staates in einer Pandemie werden konnte. In jedem Fall ist das Buch ein Lehrstück darüber, wie sehr Macht auch in einer Demokratie mit Einzelnen zu tun hat - und wie sie segensreich oder zerstörerisch eingesetzt werden kann.

 

 

 

 

Heribert Prantl: Not und Gebot. Grundrechte in Quarantäne

C.H.Beck, München 2021

 

Ich gebe zu, dass Heribert Prantl nicht mein Leib-und-Magen-Publizist ist, so wie ich auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung der Süddeutschen Zeitung vorziehe, in deren Chefredaktion Prantl eine gefühlte Ewigkeit Mitglied war. Sein Buch "Not und Gebot" allerdings spricht mir aus der Seele. Der Jurist Prantl seziert die Corona-Politik der Bundesregierung und stellt der Bundeskanzlerin und ihrem Kabinett ein vernichtendes Zeugnis aus. So viele Grundrechtseingriffe, so viel Freiheitsentzug, so viel Durchregieren war noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Staat wurde plötzlich wieder zur Obrigkeit, die Menschen wurden zu Untertanen. Anstatt Maß und Mitte walten zu lassen und der Lage gemäß angemessen zu agieren, wurde der ganz große Hammer herausgeholt - die Bazooka, wie man heute sagt.

Und nun stellt sich nach und nach heraus, was man auch schon früher geahnt hat: dass ein Bruchteil der Maßnahmen gereicht hätte, um der Pandemie wirkungsvoll zu begegnen. Beispielsweise berichtete Prantls Süddeutsche Zeitung unlängst von wissenschaftlichen Erkenntnissen, nach denen die verheerenden Schulschließungen in diesem Umfang nicht notwendig gewesen wären.

Die Bundesregierung war dabei, aus Angst vor dem Tod Selbstmord zu begehen und ist mit ihren Pandemiemaßnahmen weit übers Ziel hinausgeschossen. Die Zahl der Opfer ihrer Politik übersteigt die der Corona-Opfer um ein Vielfaches. Nicht zuletzt sind es Kinder und Jugendliche, über deren Rechte die Bundesregierung im Zusammenwirken mit den Ministerpräsidenten wie ein Bulldozer hinwegfuhr. Die Spuren werden noch lange sichtbar sein. Auch die Folgen zahlreicher der vielen anderen existenzvernichtenden Verbote. Prantl geht all dem mit der Logik und der Konsequenz des Juristen nach.

Nicht zuletzt hat die Bundesregierung die Bevölkerung mit falschen Zahlen zur Belegung der Intensivstationen belogen, um ihre  wirkungslose, aber massiv wie nie zuvor in die Rechte der Menschen hierzulande eingreifende "Bundesnotbremse" durchzusetzen. Corona habe die Lust auf Totalitarismus bei der Regierenden geweckt, schreibt Prantl. Die Grundrechte des Grundgesetzes sollten, so war es 1949 gedacht, in einer Zeit der Nachkriegs-Not Sicherheit geben. In den Pandemiejahren 2020/21 sollte gerade das Gegenteil richtig sein: ihre Aussetzung sollte Sicherheit geben. Grundrechte als Ballast. Eine absurde Verdrehung unserer verfassungsmäßigen Grundlagen.

Eine Verfassung, so schreibt Prantl, sei eine Liebeserklärung an ein Land und seine Menschen. Wir haben in den Jahren 2020/21 gesehen, was die Mächtigen in einer "Virolokratie" (Prantl) davon davon halten - und wie über Grundrechte hinweggegangen werden kann, wenn es denn nur "für etwas Gutes" ist.

Prantl klagt die enormen Kollateralschäden einer Politik an, die aus Panik und auch aus Durchtriebenheit und Machtgier handelte und unserem Gemeinwesen schweren Schaden zugefügt hat. Der Hinweis, Not kenne kein Gebot, ist falsch. Prantls dringender Appell lautet, bei allem notwendigen Schutz vor dem Virus unsere Demokratie und unsere Freiheit vor noch viel größeren und lang anhaltenden Schäden zu bewahren.

 

 

 

 

Eberhard Illner / Norbert Koubek / Hans A. Frambach (Hg.):

Friedrich-Engels. Das rot-schwarze Chamäleon

Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2020

 

Friedrich Engels gilt als der "Erfinder des Marxismus". Der Industriellensohn und weltgewandte Unternehmer ist - aus den Tiefen des 19. Jahrhunderts stammend - einer der Vordenker des 20. Jahrhunderts geworden. Er war engagierter Journalist, tiefgründiger Philosoph und vielseitig interessierter Naturwissenschaftler. Heute steht er im Schatten von Karl Marx, der doch erst durch das Studium der Schriften Engels' zu eigenen Überlegungen einer politischen Ökonimie gekommen ist.

Der Sammelband der drei Engels-Experten Frambach, Illner und Koubek ist eine Bereicherung der bisherigen Engels-Forschung. Die Herausgeber versammeln zwölf hochkarätige Wissenschaftler, die sich mit zum Teil ganz ungewöhnlichen Themen des Phänomens Engels auseinandersetzen. So geht Kurt Möser beispielsweise der Frage nach, wie sich Engels in die Debatten um Seekrieg und Seetaktik eingebracht hat. Günter Chaloupek setzt sich mit Engels, Victor Adler und dem Austromarxismus auseinander. Demgegenüber ist Margrit Schulte Beerbühls Beitrag über Engels und den Wandel der Arbeitsverhältnisse in Manchester und London schon fast erwartbar in einem solch voluminösen Band. Horizonterweiternd sind die darin versammelten Aufsätze allemal. Am Ende steht die Frage, ob Engels wirklich nur "die zweite Geige" hinter dem großen Denker Marx gespielt hat - oder ob nicht eigentlich er die treibende Kraft des Marxismus war.

 

 

 

 

Daniela Rüther: Der "Fall Nährwert". Ein Wirtschaftskrimi aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs

Wallstein-Verlag, Göttingen 2020

 

1939 gründeten die Nationalsozialisten die "Gesellschaft für Nährwerterhaltung", um die Wehrmachtsoldaten mit haltbaren und möglichst hochwertigen Lebensmitteln zu versorgen. Es war eine - wir würden heute sagen - Public-Private-Partnership des Heeresverwaltungsamts mit führenden deutschen Lebensmittelunternehmen: Dr. Oetker, Tengelmann und Knorr. Es ging vor allem um Trockennahrungsprodukte, die heute Standardprodukte in jedem Supermarkt sind, deren Produktionsverfahren damals jedoch noch in den Kinderschuhen steckten. Trockennahrung konnte den Soldaten an der Front die fürs Kämpfen benötigten Kalorien liefern - und das bei geringstmöglichem Transportgewicht.

Die Umsatzzahlen schossen schon kurz nach der Gründung in die Höhe, doch spätestens mit der Vernichtung der 6. Armee in Stalingrad, deren Soldaten buchstäblich verhungerten, war der Höhenflug der "Nährwert" beendet. Von dem Zeitpunkt an trat die SS mit einer eigenen Truppen-Lebensmittelversorgung in Konkurrenz zur Wehrmacht und ihrer "Gesellschaft für Nährwerterhaltung". 

Die Bochumer Historikerin Daniela Rüther arbeitet ein bislang unbekanntes Kapitel nationalsozialistischer Wirtschafts- und Militärgeschichte hart an den Originaldokumenten heraus. Einmal mehr zeigt diese Untersuchung den vielfach erhobenen Befund vom Wirrwarr der miteinander im Dritten Reich konkurrierenden Dienststellen, Behörden und Einrichtungen, die manchmal nicht einmal etwas voneinander wussten. Gerne hätte man noch mehr Details aus der Technikgeschichte erfahren: wie etwa die Haltbarmachung der Lebensmittel funktionierte, welche Verfahren erprobt wurden und wie sie zum Vorläufer unserer heutigen so weit verbreiteten Instant-Suppen, Fertiggerichten und Trockenfleischprodukten wurden.

 

 

 

 

Tom Jackson / Julia Schroeder / Celia Coyne u.a.:

Big Ideas. Das Ökologie-Buch. Wichtige Theorien einfach erklärt

Dorling Kindersley, München 2020

 

Räuber-Beute-Gleichungen? Ökologische Resilienz? Biodiversität? Evolution? Wenn es um kurze und allgemeinverständlicher Informationen zu diesen und vielen anderen Fragestellungen aus der Ökologie geht, ist das Buch des siebenköpfigen internationalen Autorenteams unschlagbar. Nirgendwo sonst wird eine derartige Fülle von Themen aus der Ökologie so konzentriert beantwortet wie in diesem neuen Band aus einer Reihe, die sich bereits der Wirtschaftswissenschaft, der Soziologie, der Geschichte, der Kunst und einigen anderen Wissensgebieten angenommen hat und diese "einfach erklärt".

Einfachheit geht dabei nicht auf Kosten der Genauigkeit. Das zeigt beispielhaft das Kapitel über Ökosysteme, in dem die verknüpften Systeme in der Biosphäre ebenso präzise erläutert werden wie die Vorreiter der Erkenntnis der Vernetzung verschiedener Lebensräume vorgestellt - von George Perkins Marsh, der 1864 erstmals die Theorie des Ökosystems andeutete, bis zu dem amerikanischen Entomologen Paul Ralph Ehrlich, der 1970 als einer der ersten vor Eingriffen des Menschen in die Ökosysteme warnte.

In jedem Kapitel finden sich teilweise spektakuläre Fotos und anschauliche Grafiken, Kästen mit Zusatzinformationen und Zitaten, die weitere Einstiege in das jeweilige Thema ermöglichen. Über 90 ökologische Theorien, Bewegungen und Vorgänge werden so abgehandelt - von den frühen Vorstellungen der Evolution bis zu den Theorien über den globalen Klimawandel. Das Buch kann als Nachschlagewerk oder auch als bereicherndes Lesebuch genutzt werden. In jedem Fall ist es gewinnbringend für den Leser - für den Laien, für Schüler und Studenten ebenso wie für den Fachmann, der seinen Horizont allein schon über die Fülle der Themen erweitert. Für jeden an Natur- und Umweltschutz, Naturgeschichte und Biologie Interessierten sei es empfohlen.

 

 

 

 

 

Wilhelm Bode: Tannen

Mattthes & Seitz, Berlin 2021

 

Was wir gemeinhin aus Unkenntnis oft als "Tannenbäume" bezeichnen, sind in fast allen Fällen Fichten. Tannen und Fichten - das ist der ewige Kampf im Wald wie zwischen Gut und Böse. So stellt es Wilhelm Bode in seinem kurzweiligen Porträt über die Weißtanne dar, das nicht ohne den Widersacher, die Fichte, auskommen kann. Eigentlich müsste das Buch "Tannen und Fichten" heißen, so sehr setzt er sich mit den beiden Konkurrentinnen auseinander. Die eine ist die stabile Bewohnerin eines gesunden Plenterwalds, die ihrer Umgebung eine die Ökologie des Waldbodens stärkende Streu schenkt. Die andere ist Teil von gleichförmigen Holzäckern in Reih und Glied und mit beinahe bodenversiegelndem Nadelstreu, dank ihres Schnellwachstums und hohen Holzertrags gefördert von der preußisch-deutschen Forstwirtschaft seit 250 Jahren.

Während die Fichte in Zeiten von Hitze und Stürmen der Problembaum des deutschen Waldes schlechthin geworden ist, ist die Tanne seine gute Seele. Bode nimmt sich ihrer mit großer Sympathie an, erklärt ihre Biologie, ihre geschichtliche und kulturhistorische Bedeutung und sagt ihr eine große Zukunmt voraus, wenn nur die Forstwissenschaft angesichts des Klimawandels nicht wieder den Fehler früherer Zeiten wiederholt und falsche (vor allem hier nicht heimische) Bäume anpflanzt anstatt den hergebrachten Arten wie eben der Weißtanne eine Chance zu geben. Sie könnte - wenn sie standortgerecht steht - ein Rettungsanker für den Wald sein. Das Erfrischende an diesem reich bebilderten Buch aus der von Judith Schalansky herausgegeben Reihe "Naturkunden" ist Bodes klare Positionierung, ja man kann auch sagen: Abrechnung, mit der Forstwirtschaft. Die wird - so seine Vermutung - aus Schaden nicht klug und sieht die Lösungen für die gegenwärtigen Probleme so wenig wie den Wald vor lauter Bäumen nicht.

 

 

 

 

 

Heinrich Mann: Der Untertan. Roman

Reclam-Verlag, Stuttgart 2021

 

Zum 150. Geburtstag von Heinrich Mann hat der Reclam-Verlag seinen Roman "Der Untertan" als stattliche Hardcover-Ausgabe neu herausgebracht, ergänzt um ein gewinnbringendes Vorwort und vor allem einen Anmerkungsapparat, der das Werk in seiner ganzen Tiefe erschließt und keine Wünsche offen lässt.

Es ist ein Zufall, dass der Roman aus Anlass des Heinrich-Mann-Jubiläums gerade in dem Jahr neu erscheint, in dem durch die Corona-Pandemie in Deutschland Grundrechte teilweise eingeschränkt sind und das öffentliche wie private Leben in Deutschland in einer Weise reglementiert ist, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Dass manch ein Zeitgenosse sich in dieser Situation wieder als "Untertan" sehen und den Roman als das passende Buch zur aktuellen Situation empfinden mag, dürfte wohl nicht ausbleiben. Den Wert der Neuausgabe schmälert diese Einschätzung nicht.

Die Anmerkungen des Herausgebers Werner Bellmann arbeiten die engen Zeitbezüge heraus, die Heinrich Mann in seinen Roman eingebaut hat. Der Protagonist Diederich Heßling ist nicht nur eine satirische Kopie Kaiser Wilhelms II., sondern er spricht auch so wie der Monarch. Die Parallelen zwischen den Reden Wilhelms II. und der Sprache Heßlings werden durch die Anmerkungen auf frappierende Weise sichtbar. Bellmann beleuchtet überdies die gesamte Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieses großartigen Stücks deutscher Literatur. Andrea Bartl ordnet den Roman in ihrem Nachwort noch einmal vertiefend ein. Die kongenialen Zeichnungen von Arne Jysch, die das Buch schmücken, sind das i-Tüpfelchen auf einer in jeder Hinsicht gelungenen und verdienstvollen Neuausgabe eines Klassikers der Moderne.

 

 

 

 

Klaus Kemp: Eisenbahnchronik Eifel

Band 1: Die Eifelbahn Köln-Trier und die Vennbahn

Band 2: Die östlichen Eifelbahnen, Moselstrecke und Privatbahnen

EK-Verlag, Freiburg 2019

 

Die heutige Eifel ist ohne die Eisenbahn nicht denkbar. Das einstmals preußische Randgebiet wurde seit der Reichsgründung 1871 durch etliche Eisenbahnlinien erschlossen, die vorrangig militärischen Zwecken dienten, aber auch die wirtschaftliche und touristische Erschließung der Grenzregion mit sich brachten. Die Rheinstrecke Köln-Koblenz war bereits zwischen 1844 und 1858 angelegt worden. Die letzte Eifelstrecke (zwischen Trier und Irrel) wurde hingegen erst 1915 fertiggestellt.

Die großformatigen Hardcover-Bände stellen alle Bahnlinien ausführlich vor. Behandelt werden die Vorgeschichte, der Bau, der Betrieb und - leider - auch die Einstellung der meisten dieser Strecken, die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein ein engmaschiges Netz darstellten. Beispielsweise gingen vom Eisenbahnknotenpunkt Gerolstein fünf Strecken in alle Himmelsrichtungen ab. In Betrieb sind heute noch die Verbindung Trier-Köln und die Moselstrecke. Auf letzterer befindet sich mit dem einst nach Kaiser Wilhelm benannten Tunnel zwischen Cochem und Ediger-Eller ein technisch bemerkenswertes Bauwerk. Es war der längste Eisenbahntunnel Deutschlands, bis in den 1990er Jahren die ICE-Schnellfahrstrecke zwischen Hannover und Würzburg mit ihren zahllosen und sehr viel längeren Tunneln eröffnet wurde.

Die beiden Bände aus dem Eisenbahn-Kurier-Verlag behandeln das Thema Eisenbahn in der Eifel erschöpfend. Zahllose überwiegend historische Fotos, Karten und in Faksimile abgebildeten Dokumente ergänzen den überaus detailreichen Text, der keine Fragen offen lässt. Gerade die Fotos lassen das Herz eines jeden Eisenbahnfreundes höherschlagen.

 

 

 

 

 

Klaus-Dieter Hupke: Naturschutz. Ein kritischer Ansatz

Springer-Wissenschaftsverlag, Berlin/Heidelberg 2015 - Neuausgabe 2020

 

Was der Autor als "kritischen Ansatz" versteht, ist eine erfrischende Heransgehenweise für eine Einführung in den Naturschutz. Denn darum handelt es sich bei dem Band, der für jeden, der sich mit Naturschutz, Ökologie oder Geografie beschäftigt nützlich ist. Hupke, Professor für Geografie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, nimmt den Leser mit auf eine Reise durch den Naturschutz und stellt dabei teilweise schmerzhafte Fragen. So führt er zunächst aus, dass Naturschutz per definitionem nicht deckungsgleich mit Umweltschutz oder Tierschutz ist, sondern dass diese drei Domänen zum Teil sogar widerstreitende Interessen haben. Wenn zum Beispiel im großen Maßstab Energiepflanzen angebaut werden, hat dies wohl etwas mit Umweltschutz, nichts aber mit Naturschutz zu tun. Bei der Vorstellung der in Deutschland tätigen Naturschutzverbände BUND, NABU und WWF hinterfragt er deren Abhängigkeit von öffentlicher Meinung und Medien. Dass sowohl BUND als auch NABU die nachwachsenden Rohstoffe favorisieren, findet sein Missfallen. Der BUND trägt das Spannungsfeld zwischen Umwelt- und Naturschutz sogar im Namen. Auch die Politik nimmt der Autor ins Visier, wenn er etwa erläutert, dass der vergleichsweise hohe Anteil an Naturschutzflächen in Deutschland nur unter Einbeziehung des riesigen, aber wirtschaftlich ohnehin kaum nutzbaren Wattenmeeres zustande kommt. Auch sonst sind Naturschutzflächen meist Extremstandorte, die für die Landwirtschaft uninteressant sind. Es ist also wohlfeil, sich mit ihnen politischerseits zu brüsten - so wertvoll sie auch jeweils für die Natur sind. Vieles im Naturschutz ist also Etikettenschwindel, wie auch die Bezeichnungen Naturpark oder Landschaftsschutzgebiet zeigen, die mehr Marketinglabel als alles andere sind.

Hupke ist ein hervorragender Kenner der heimischen Flora und Fauna, was für einen Geographen nicht zwangsläufig zur Stellenbeschreibung gehört. Fulminant stellt er kurz und knapp und auch für den Laien verständlich dar, wie ökologische Subsysteme wie Magerrasen, Wiesen und Weiden oder Moore funktionieren. Gerade weil Hupke sein umfangreiches Wissen zum Thema sehr individuell und mit einer klaren eigenen Position ausbreitet, ist sein Buch anschaulich und anregend. Nicht umsonst hat der Verlag die neueste Ausgabe im Untertitel daher präzisiert und umbenannt - nämlich in das, was sie tatsächlich ist: eine kritische Einführung.

 

 

 

 

 

Avi Loeb: Außerordisch. Intelligentes Leben jenseits unseres Planeten

DVA, München 2021

 

Avi Loeb ist einer der renommiertesten Astronomen unserer Zeit. Er ist Vorsitzender des Fachbereichs Astronomie der Harvard-Universität und hat sich mit bahnbrechenden Forschungen zur Frühzeit des Universums einen Namen gemacht. Das muss man vorausschicken, bevor man sich seinem neuen Buch nähert: Loeb ist durch und durch seriös und ein ernstzunehmender Wissenschaftler. In dem Buch geht es allerdings um ein Thema, das von der Fachwissenschaft meist geringschätzig bis offen ablehnend behandelt wird. Die Frage nach intelligentem Leben außerhalb der Erde ist in unserem kulturellen Gedächtnbis überlagert von hanebüchenem Unsinn aus der Science fiction. Das macht es so schwer, sich mit ihr auf unvoreingenommen auf streng naturwissenschaftlicher Basis zu beschäftigen. Loeb unternimmt diesen Versuch dennoch.

Die Rahmenhandlung ist die Entdeckung eines Objekts, das im Oktober 2017 zehn Tage lang beobachtet wurde, als es unser Sonnensystem kreuzte, um dann wieder in den Tiefen des Alls zu verschwinden. Astronomen auf aller Welt haben dieses nach seinem Entdeckungsort, einem Teleskop auf Hawaii, Oumuamua genannte Objekt untersucht. Es weist zahlreiche Anomalien in Bezug auf Form, Konsistenz, Flugbahn und Herkunft auf. Mit den herkömmlichen Theorien über Asteoriden und Kometen lässt es sich nicht widerspruchsfrei erklären. Loeb erweitert das Theoriegebäude um die These, dass es sich bei Oumuamua um ein künstliches Objekt handeln könnte, ein Teil Weltraumschrott einer fremden, womöglich längst untergegangenen Intelligenz. Er untermauert seine Theorie konsequent auf Basis der vorliegenden Fakten so überzeugend, dass der Leser sich dem Reiz seiner Argumentation schwer entziehen kann.

Um diese Rahmenhandlung herum ist sein Buch ein Ausflug in die wichtigen Theorien der modernen Astronomie, in ihre Arbeitsweisen und auch in den Wissenschaftsbetrieb, der - das ist Loebs Kritik - durch die Verteilung von Forschungsgeldern und die Nachwuchsförderung zu konformem Denken führt und Kreativität unterbindet. Sein Vergleich mit der katholischen Kirche zu Zeiten Galileis mag übertrieben sein. Er weist aber in die richtige Richtung. Damals wollte das Establishment nicht durch Galileis Teleskop schauen. Heute will die Naturwissenschaft sich nicht näher mit einer Tatsache beschäftigen, die im Grunde längst Konsens ist: dass es intelligentes Leben im All nicht nur geben kann, sondern dass seine Wahrscheinlichkeit sogar hoch ist. Nach Loebs Ansicht vergibt sie sich damit eine große Chance, wenn sie dieses Thema nicht systematischer angeht. Nach Spuren einfachsten Lebens auf anderen Planeten sucht die Menschheit immerhin, wie die jüngsten Marsmissionen zeigen. Dies könnte ausgeweitet werden. Loeb macht dazu in seinem Buch einige bemerkenswerte und nachdenklich stimmende Vorschläge. 

 

 

 

 

Emmi Elert: Auf vulkanischer Erde. Roman

Mosel-Eifel-Verlag, Bad Bertrich 2000

 

Als Wanderführer, Natur- und Landschaftsführer sowie Gesundheitswanderführer bringe ich gerne Gästen die Geologie, Ökologie und Geschichte der Eifel näher. Meine Touren starten in Bad Bertrich, der einzigen Glaubersalzquelle Deutschlands. Bei den Recherchen zu einem neuen Ortsführer Bad Bertrich, der 2021 erscheinen wird, bin ich auf den vergessenen Roman "Auf vulkanischer Erde" gestoßen, der 1903 erstmals erschien und 2000 noch einmal aufgelegt wurde, aber leider nur noch antiquarisch lieferbar ist. Emmi Elert war die Frau des Kurdirektors Bruno Elert, der 30 Jahre lang - von 1899 bis 1929 - die Geschicke des Kurortes lenkte. Emmi Elert war auch Freundin der großen Eifel-Schriftstellerin Clara Viebig, die Jahrzehnte lang ihre Urlaube in Bad Bertrich verbrachte. Sie hat Emmi Elert stark beeinflusst.

"Auf vulkanischer Erde" beschreibt den Wandel des verschlafenen Dorfs Klinzig zum aufstrebenden Kurort aus der Sicht der jüngeren Generation, die - anders als ihre Vorfahren - nach und nach vom Tourismus zu leben beginnen und zu bescheidenem Wohlstand gelangen. Unverkennbar verbirgt sich hinter Klinzig Bad Bertrich. Emmi Elert hat damit dem Ort ein literarisches Denkmal gesetzt. Der Roman ist eine gelungene Milieustudie mit starken Lokalkolorit - bis hin zur wörtlichen Rede im Eifeler Platt. Für einen Zugereisten wie mich ist das nicht immer einfach zu verstehen, aber dieser Kunstgriff gibt dem Roman eine starke authentische Kraft. "Auf vulkanischer Erde" kann auch als erster Eifel-Krimi gelesen werden - ein Genre, dass es 1903 freilich noch gar nicht gab. Die Autorin schildert den Totschlag am Ortspolizisten und die anschließende Fahndung nach dem Täter. Eine spannende und wegen ihrer realen heimatkundlichen Hintergründe auch kulturell bereichernde Lektüre.

 

 

 

 

Joachim Krüger / Gundula Lidke u.a. (Hg.): Tollensetal 1300 v. Chr. Das älteste Schlachtfeld Europas

wbg Theiss, Darmstadt 2020

 

Acht Jahre, von 2002 bis 2010, habe ich in Neubrandenburg an der Tollense in Mecklenburg-Vorpommern gelebt. Ich wusste lange Zeit nicht, dass sich wenige Kilometer nördlich von Neubrandenburg im Tal der Tollense ein archäologischer Fundplatz von herausragender Bedeutung befindet. Tausende Skelett- und Gegenstandsfunde, davon alleine 12.500 Knochenteile, deuten auf einen großen Konflikt hin, der sich dort in der Bronzezeit abgespielt hat. Ist es das älteste Schlachtfeld Europas, wie es im Untertitel der umfangreichen Dokumentation zu den Ausgrabungen an und in der Tollense heißt? Archäologen haben zahlreiche Pfeilspitzen aus Feuerstein und Metall sowie die Überreste vieler junger Männer (Krieger?) entdeckt. Wer gegen wen und warum gekämpft hat - das ist bis heute nicht geklärt. Das Rätsel, was genau um 1300 v. Chr. im Tollensetal passiert ist, lässt auch der reich bebilderte und mit vielen Grafiken ergänzte Band offen. Hier ist noch weitere Forschungsarbeit nötig.

Zunächst gingen die Experten von einem bronzezeitlichen Friedhof aus. Doch aufgrund der puren Anzahl der Toten und der Waffenfunde schlossen sie diese Hypothese bald aus. Nahe lag der Gedanke einer gewaltigen Schlacht in einer in Mitteleuropa noch schriftlosen Zeit, als im Nahen Osten Ägypter und Hethiter schon eine Hochkultur aufbauten. Detlef Jantzen, Chefarchäologe in Mecklenburg-Vopommern, erklärte nun kürzlich, dass es sich mitnichten um eine Schlacht gehandelt haben muss. Die gefundenen Knochen, so Jantzen, wiesen nicht die Belastungsmerkmale auf, die bei einer Schlacht zu erwarten wären - etwa an den Armknochen oder den Schulterblättern der Beteiligten. Bei den Pferden handelte es sich überdies um junge Tiere, die gar keine Kämpfer hätten tragen können. Doch was hat sich dann im Tollensetal abgespielt?

Jantzen glaubt, dass hier Wegelagerer auf eine große Handelskarawane gestoßen sind und diese überfallen haben. Darauf deuten gefundene Ringe aus Gold und Zinn hin, die eher in die ökonomische Sphäre als zum Militär gehören. In jedem Fall sind die damaligen Menschen mit großer Gewalt aufeinander losgegangen, das zeigen die inzwischen analysierten Verletzungsspuren an den Skeletten: Schädel sind von Keulen getroffen worden, vielfach sind Hieb- und Stichverletzungen im Brustbereich nachweisbar. Das Buch zur vermeintlichen Schlacht im Tollensetal führt in eine ferne Phase unserer Geschichte, in der noch vieles im Dunkeln liegt. Eines aber wird bei der Lektüre deutlich: Schon unseren bronzezeitlichen Ahnen mangelte es nicht  an Härte und Unerbittlichkeit.

 

 

 

 

Telmo Pievani / Valéry Zeitoun: Homo sapiens. Der große Atlas der Menschheit

Theiss, Darmstadt 2020

 

Siegmar von Schnurbein (Hg.): Atlas der Vorgeschichte. Europa von den ersten Menschen bis Christi Geburt

Theiss, Darmstadt 2014

 

Die Vorfahren des modernen Menschen haben bemerkenswerte Wanderungen unternommen, als sie vor etwa 100.000 Jahren Afrika verließen und nach und nach die ganze Welt eroberten. Homo sapiens findet sich heute nicht nur auf allen Kontinenten - selbst in der Antarktis -, sondern er verändert seit Hunderten von Jahren in einer Art und Weise seinen Lebensraum, die dem Planeten längst nicht mehr zuträglich ist. Der in seiner Art einmalige Atlas "Homo sapiens" des italienischen Biologen Telmo Pievani und des französischen Paläoanthropologen Valéry Zeitoun zeichnet die weltweiten Wanderrouten der Frühzeit nach. Dabei fließen neueste Erkenntnisse aus der Paläoanthropologie, Genetik, Geografie und Geschichte in das interdisziplinäre Mosaik ein, das hier seinen Niederschlag in spektakulären Karten, Infografiken und Fotos findet. Man möchte einfach nur stundenlang in diesem Atlas blättern, die lehrreichen Texte lesen und schauen und staunen.

Ideale Ergänzung dazu ist das bereits vor einigen Jahren erschienene, nunmehr in der 3. Auflage vorliegende Kartenwerk "Atlas der Vorgeschichte", das von Siegmar von Schnurbein herausgegeben wurde, langjähriger Direktor der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts in Frankfurt. Er und seine sechs Autoren führen mit exklusiven Karten und zahlreichen Farbabbildungen in das vorgeschichtliche Europa ein - von den ersten Menschen auf unserem Kontinent bis zu den Bauernkulturen, die die Jäger und Sammler verdrängten.

 

 

 

 

Jürgen Kaube: Hegels Welt

Rowohlt Berlin 2020

 

Freiheit als Bildungsaufgabe - das ist ein Postulat, das im Jahr 2020 nicht aktueller sein könnte, in dem Mädchen aus Kassel sich wie Sophie Scholl fühlen, Fernsehköche  Verschwörungserzählungen in die Welt setzen und Reichsflaggen vorm Bundestag wehen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) hat Freiheit so aufgefasst: als Bildungsaufgabe. Ohne Bildung keine wirkliche Freiheit. In diesem Jahr feiern wir seinen 250. Geburtstag. Hegel ist einer der ganz großen deutschen Philosophen, und sein Anspruch ist ebenfalls groß bis überwältigend: die gesamte Wirklichkeit in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen zu erfassen und zu deuten. Jürgen Kaubes Biografie des Meisterdenker trägt daher den bezeichnenden und doppeldeutigen Titel "Hegels Welt". Es geht um die Welt, in der der Philosoph gelebt hat und um die Welt an sich, wie Hegel sie zu begreifen versucht hat - als ein großes Ganzes.

Nun ist Hegel, wie es sich für einen Philosophen von Format gehört, nicht einfach zu lesen und zu verstehen. Umso verdienstvoller ist Kaubes Ansatz, ihn dem Leser des 21. Jahrhunderts durch kräfte Farben, eingängige Anekdoten und plastische Nachzeichnung der verschiedenen Lebens- und Denkstationen näher zu bringen. Als an schwierigen Texten geschulter studierter Soziologe, Volkswirt und Philosoph durchdringt Kaube Hegels (Gedanken-)Welt und gibt sie als Journalist, der er als einer der vier Herausgeber der FAZ ist, in froher Sprache und lebensgesättigt an seine Leser weiter. Er hatte bereits 2014 den Soziologen Max Weber porträtiert. Man wünschte sich, mehr Bücher über die großen Philosophen (und Soziologen) wären so geschrieben. Dass die Lebensspanne Hegels mit ihren vielfältigen Umbrüchen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Technik natürlich auch dazu einlädt, sie als ein buntes Bild zu malen, kommt Kaube zupass. Er macht in jeder Hinsicht das Beste daraus. Mit dieser Hegel-Biografie hat Kaube ein Buch vorgelegt, das anregt, sich auf einen Philosophen einzulassen, dessen Werk auch ohne krampfhafte Aktualisierung nicht nur in Fragen der Bildung heute noch relevant ist.

 

 

 

 

 

Berndt Feuerbacher: Planeten. Missionen zu exotischen Welten

Motorbuch-Verlag, Stuttgart 2020

 

Unsere kosmischen Nachbarn sind fantastische Welten: mysteriöse Gasriesen wie Saturn oder Jupiter, Steinbälle wie Merkur und Pluto oder erdähnliche Planeten wie Venus und Mars. Der prachtvoll ausgestattete Bildband führt zu diesen exotischen Inseln im All und bringt sie uns in spektakuläreren Bildern nahe, die auf den verschiedenen Missionen in den vergangenen Jahrzehnten entstanden sind. Die Menschheit hat inzwischen alle Planeten des Sonnensystems aufgesucht. Ihre Sonden sind auf etlichen Himmelskörpern gelandet, haben andere umrundet oder sind zumindest mehr oder weniger nah an ihnen vorbeigeflogen. Zwei Sonden, Voyager 1 und 2, haben die Heliosphäre verlassen und befinden sich in den Tiefen des Alls. Mit 60.000 Kilometern in der Stunde bewegen sie sich auf fremde Galaxien zu. Und noch immer schicken sie Daten und Fotos: mit unserer Sonne als winzigem Punkt, ein Stern von Abermilliarden Sternen.

Mars ist am besten erforscht. 45 Sonden wurden zu unserem roten Nachbarplaneten geschickt, 23 haben ihr Ziel erreicht. Die Bilder seiner Landschaften - Dünen, Berge, Krater, Abbruchkanten, Ebenen - erinnern an die Erde und sind doch eigenartig fremd und unwirtlich. Mit Radarscans ist inzwischen auch die Oberfläche der Venus sichtbar gemacht worden, die sich unter strukturlosen Wolken verbirgt. Auch hier: Berge, Vulkane, Ebenen, Lavaströme, Canyons. Ihre Kohlendioxid-Atmosphäre macht die Venus zu einem extremen Ort: 450 Grad heiß ist es auf ihrer Oberfläche, es herrscht ein Druck wie in 1000 Metern Meerestiefe.

Das Buch mit seinen fantastischen Fotos und kurzen, informativen Texten lädt ein zum schmökern, staunen, schauen und träumen - von Schönheit und Fremdheit, vom technisch Machbaren und von der Anmut der Schöpfung. Denn diese Schönheit der Schöpfung gibt es nicht nur auf der Erde, sondern auch in den exotischen Welten, die zu unserer kosmischen Heimat gehören.

 

 

 

 

 

Werner Bätzing: Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform

C.H. Beck, München 2020

 

Werner Bätzing ist einer der bekanntesten Geographen Deutschlands - und als solcher nicht nur ein exzellenter Wissenschaftler, sondern auch ein Sachbuchautor, dem man gerne folgt und der es versteht, seine Thesen ansprechend zu formulieren. Weil ich selbst seit einigen Jahren auf dem Land lebe - noch dazu in einem "periphären ländlichen Raum", wie Bätzing es formulieren würde: anders gesagt "mehr Land geht nicht" - hat mich das Buch neugierig gemacht. Ich habe nach der Lektüre ein tieferes Verständnis gewinnen können für die historische Entwicklung des Dorfs und seiner unmittelbaren Bezüge (Garten, Ackerfläche, Viehweide, Wald) und auch der Stadt. Denn die denkt Bätzing in jedem Kapitel mit; die Stadt ist geradezu das verborgene Thema dieses Buches. Denn es liegt auf der Hand: die Stadt ist auf das Land bezogen, von den ersten Städten in Mesopotamien bis zu den Mega-Citys des 21. Jahrhunderts. Ohne Land, das die Stadt ernährt, ihr Wasser, 

Energie und Menschen zuführt, wäre die Stadt nicht denkbar.

Inzwischen lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten, und dieser Trend geht weiter. Welche Zukunft hat das Landleben daher? Bätzing geht dieser Frage anhand der Situation in Deutschland nach. Der Grundton des Buches ist pessimistisch: das Landleben wurde laufend und zunehmend entwertet, seit es Städte gibt. Alle raumordnerischen Reformen haben daran nichts ändern können, zum Teil haben sie die Situation des ländlichen Raums eher verschlimmbessert. Und das dürfte so weitergehen, meint Bätzing - wenn das Land weiter schleichend verstädtert und permanent Einwohner verliert. Kulturelle Identität, Stärkung regionaler wirtschaftlicher Potenziale, Verbesserung der der Infrastruktur und individuelle Lösungen für die verschiedenen Typen ländlicher Räume sind für Bätzing die Mittel zur Lösung des Problems. So recht scheint der Autor aber nicht von seinem Ansatz überzeugt zu sein. Seine Zweifel, dass die Negativspirale durch Bevölkerungsrückgang und Überalterung auf dem Land durchbrochen werden kann, sind groß. Wie immer es auch weitergeht, für Bätzing bleibt das Landleben unverzichtbar, weil es in unserer großstädtisch geprägten Welt immer neu in Erinnerung ruft, dass die Erfolge der Stadt letzten Endes auf den prägenden Eigenschaften des Landlebens beruhen: Natur als Voraussetzung, Leben als multifunktionales Agieren und Wirtschaften unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit.

 

 

 

 

 

Walter A. Sontag: Das wilde Leben der Vögel

C.H.Beck, München 2020

 

Vögel erfreuen sich großer Beliebtheit, und seit ich einen Teil des Jahres in der Eifel und damit auf dem Land verbringe, sind sie mir buchstäblich nahe gekommen.Hobby-Ornithologen wurde in den vergangenen Jahren mit einer Vielzahl von Titeln der Gegenstand ihrer Beobachtung und Zuneigung näher gebracht. Nun also das Buch des in Wien lebenden Biologen Walter A. Sontag. Er ist Schüler und Anhänger des Schweizer Verhaltensforschers Heini Hedinger, der die Individualität der Vögel erkannt und erforscht hat. Amsel ist nicht Amsel, Buchfink nicht Buchfink und Hausrotschwanz nicht Hausrotschwanz. Wer sich näher mit ihnen beschäftigt, stellt fest, dass es sich um gefiederte Persönlichkeiten handelt, die je und je so unterschiedlich sind wie andere höher entwickelte Lebewesen auch und durchaus ihre Eigenheiten haben. Jeder Jeck ist anders - dieses Kölner Sprichwort gilt auch für die Vogelwelt, und das arbeitet Sontag sehr schön heraus.

Auch wenn dieser Individual-Ansatz spannend ist: Er allein würde ein ganzes Buch über Vögel nicht füllen. Daher erfährt der Leser auch eine Menge bemerkenswerter Fakten aus dem Sozialleben der Vögel  - und zwar innerhalb der Art ebenso wie ihr Verhältnis zwischen den Arten. Sontag hütet sich davor - und der Leser muss sich ebenfalls hüten -, das Verhalten der Vögel aus der menschlichen Perspektive zu bewerten. Wenn ein Kuckucksjunge mit einer erstaunlichen Leistung an Kraft und Geschicklichkeit die Eier seiner Brutwirte aus dem Nest befördert, hat das nichts Gemeines oder gar Verbrecherisches, sondern er folgt einzig und allein seinem genetischen Programm und einer ziemlich verblüffenden Fortpflanzungsstrategie. Gleiches gilt für die vielfach zu beobachtende Promiskuität selbst bei Arten, die gemeinhin als monogam gelten. Partnerschaft und Feindschaft,Treue und Untreue - das sind menschliche Kategorien, die nicht auf Vögel anzuwenden sind, auch wenn Sontag diese und andere Begriffe für seine Kapiteleinteilung wählt. Herausgekommen ist ein kurzweiliges Buch über interessante, erstaunliche und manchmal verstörende Verhaltensweisen unserer gefiederten Mitbewohner - und zwar einzelner Exemplare ebenso wie ihrer jeweiligen Art als solcher.

 

 

 

 

 

Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste

Suhrkamp, Berlin 2018

 

Nach dem "Hals der Giraffe" ist dies das zweite Buch, das ich von der in Berlin lebenden Autorin und Buchgestalterin lese. Mich hat "Verzeichnis einiger Verluste" ratlos, ja verärgert zurückgelassen, und ich kann das einhellige Lob der Kritik nach Erscheinen des Buchs nicht teilen. Während der Tage der Lektüre ist mir erst nach und nach bewusst geworden, was genau mich an diesem Buch stört, das auf den ersten Blick einem ungewöhnlichen Ansatz folgt und neugierig macht.

Schalansky geht Dingen nach, die verschwunden sind: dem Kaspischen Tiger, Sapphos Liebesliedern, einem Gemälde von Casper David Friedrich, Selenografien eines Forschers aus dem 19. Jahrhunderts, dem Palast der Republik und anderem mehr. Zu fragen, was aus diesen Dingen geworden ist, warum sie überhaupt verloren gegangen sind, ist kreativ und überraschend und verspricht Lesegenuss. Zumal das Buch grafisch auch noch ausgesprochen anspruchsvoll gestaltet ist, was für Schalansky eine Ehrensache ist. Die zwölf Verluste werden mit mehr oder weniger kurzen enzyklopädischen Einführungen in ihrem Entstehung und Verschwinden eingeführt. Danach folgt jeweils ein Essay. Schalansky gibt sich eine strenge Form, denn jedes der zwölf Kapitel hat genau 15 Seiten. Die Verlustanzeigen beziehen sich auf Schriften, Kunstwerke, Lebewesen, Gebäude - und überraschen schon durch ihre Auswahl, weil sie etwas dem Vergessen zu entreißen suchen, das längst eingesetzt hat.

Was mich nun also stört - und zwar so sehr stört, dass die Lektüre am Ende für mich eher ein Ärgernis war als ein Genuss - ist die inhaltliche Weite der Essays Schalanskys zu den Verlustanzeigen. Sie haben praktisch nichts mit dem vorgestellten Verlustgegenstand zu tun. Allenfalls ein Band, wie es lockerer nicht sein könnte, führt zu einer Verbindung zwischen den - sprachlich ausnahmslos auf höchstem Niveau geschriebenen - Essays und dem vorangestellten enzyklopädischen Eintrag. Ich hätte mir gewünscht, statt dieser Abschweifungen mehr über die jeweiligen Verluste zu erfahren - und nicht die hiervon weitgehend abgehobenen vollkommen freien Assoziationen der Autorin lesen zu müssen, die in den Essays persönliches Erleben verarbeitet. Leider bleibt das Buch daher hinter meiner Erwartung deutlich zurück. 

 

 

 

 

 

Ingeborg Middendorf: Der Schatten seines Lächelns

Dahlemer Verlagsanstalt, Berlin 2020

 

Die Schriftstellerin Ingeborg Middenorf legt mit diesem Buch Zeugnis ihrer Mutterschaft ab, die tragisch endet. Der geliebte Sohn stirbt im Alter von 35 Jahren an Magenkrebs. Das Buch ist ausdrücklich nicht als Roman bezeichnet, denn seine Fiktionalität ist selbst eine Fiktion. Zwar sind die Namen der handelnden Personen verändert, aber wer Ingeborg Middendorf kennt, weiß, dass sie sich all das nicht ausgedacht hat, diese Geschichte von Menschwerdung und Liebgewinnung, von Zurückgestoßenwerden und Tod, von Loslassen und Befreiung. Nur der Grad der Fiktionalität bleibt im Dunkeln. Wo ist es beschriebene Realität? Wo Hinzugedachtes? Vermutlich ist es sehr wenig Fantasie und sehr viel hartes Selbsterlebtes.

Die Autorin, die uns als Luisa begegnet und von der in der in der dritten Person erzählt wird, lebt in einer Berliner Patchworkfamilie, in die Paul hineingeboren wird. Ein schon früh selbstbewusstes Kind, das bald seinen eigenen Weg geht. Er führt ihn ins Ausland, nach Wales, in die USA und nach Indien. Aus der Mutterbindung wird Entfremdung, erst seine todbringende Krankheit führen Mutter und Sohn wieder zusammen. Es ist ein zärtliches und tief bewegendes Protokoll der Lebensgeschichte zweier Menschen, die aufeinander bezogen sind wie niemand sonst. Jeder, der selbst Kinder hat, kann dieses Band zwischen beiden begreifen.

Ingeborg Middendorf hat ihren Sohn Julian 2013 verloren. Sie hat seinen Tod lange nicht verarbeiten können. So hat sie auch die Fertigstellung dieses Buches hinausgezögert, um ihn nicht endgültig zu verlieren. Aber das Loslassen musste sein, denn für sie geht das Leben weiter. Nun, da das Buch erschienen ist, ist es eine Befreiung. Sie schreibt, dass sie ihm, dem geliebten Sohn, endlich seine Ruhe und seine Freiheit lassen konnte, und ihr selbst auch. Bemerkenswert ist der Satzspiegel der 146 Seiten: Fast jeder Satz beginnt mit einer neuen Zeile, die einzelnen Textblöcke sind von zahllosen Absätzen voneinander getrennt, diese wiederum in 39 Kapitel aufgeteilt. Das erzeugt eine Unruhe, die dem Leser zuweilen vor den Augen flirrt. Das fehlende Gleichmaß wird durch Flattersatz noch unterstrichen. Das Fragmentarische und Unfertige dieser beider Leben von Mutter und Sohn findet somit auch ihren grafischen Ausdruck in der Gestaltung dieses ungewöhnlichen Buchs.

 

 

 

 

 

Hans-Peter Kunisch: Todtnauberg. Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung

dtv, München 2020

 

2020 ist ein Celan-Jahr: Vor hundert Jahren, 1920, wurde Paul Celan in Czernowitz geboren. Vor fünfzig Jahren, 1970, nahm er sich in Paris das Leben. Celan gilt als einer der am besten erforschten deutschsprachigen Autoren. Und doch gibt es immer noch Unerwartetes über ihn zu schreiben, wie das Celan-Jahr 2020 mit seinen Neuerscheinungen zeigt. Zumindest finden sich immer noch neue Blickwinkel, aus denen man diesen einflussreichen deutschsprachigen Dichter betrachten kann. 

Eine der merkwürdigsten Begegnungen Celans war die mit Martin Heidegger 1967 im Schwarzwald. Der jüdische Dichter, der seine Eltern im KZ verloren hatte, spazierte mit dem Antisemiten und wirkmächtigsten deutschen Philosophen seiner Zeit, der sich 1933 bei den Nazis angedient hatte, bei Regen durch ein Hochmoor. Insgesamt dreimal trafen sich die ungleichen Männer, von denen zu sagen wäre, dass sie sich eigentlich nichts zu sagen hätten.

Kunisch, Schweizer Germanist und Theaterwissenschaftler, hat die wohl seltsamste Landpartie der deutschen Geistesgeschichte in allen Details im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und in Archiven in Paris so gut es geht recherchiert. Dort, wo die Quellen schweigen, versetzt er sich in den Kopf des Autors von "Sein und Zeit" ebenso wie in den des Verfassers der "Todesfuge". So entsteht eine Miniatur von kriminalistischer Dichte: von rutschigen Knüppelwegen ist die Rede und von einsamen Katen. Von Hotelzimmern ohne Bad und mit knarrendem Parkett. Von Lichtstrahlen zwischen den Vorhängen, in denen Staubteilchen tanzen.Das Äußere der Begegnung spiegelt das Innere, das Unaussprechliche. Ein Thriller des Geistes, spannend von Seite zu Seite.

Kunisch gelingt ein Husarenstück psychologischer Annäherung an ein im Prinzip unmögliches Treffen, das - soviel sei verraten - misslang, misslingen musste. Zu groß waren die Widersprüche zwischen diesen beiden Menschen.  Dass Celan überhaupt bereit war zu den Gesprächen mit dem Philosophie-Giganten, erscheint in der Rückschau einerseits erstaunlich. Er musste sich dem nicht aussetzen. Andererseits war der Versuch eines Dialogs aber auch konsequent: Celan kannte seit dem Beginn seiner Beziehung zu Ingeborg Bachmann (die über Heidegger promoviert hatte) Heideggers Werk wie kaum ein anderer. Es war für ihn Quelle der Inspiration und der Auseinandersetzung. Er, der so Sprachsensible und Sprachkreative, schätzte Heideggers Sprache. Heidegger wiederum, dessen Philosophie für die Dichtung offen war, kannte das Werk Clans und bewunderte es, auch wenn er nicht alles verstand.

Celan hatte sich von Heidegger ein "kommendes Wort" erwartet - einen Bruch mit der Vergangenheit. Das aber bekam er nicht. Heidegger überlebte Celan um sechs Jahre und einen Monat; er starb 1976 im Alter von 87 Jahren.

 

 

 

 

 

Thomas Sparr: Todesfuge. Biographie eines Gedichts

Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020

 

"Der Tod ist ein Meister aus Deutschland..." Das ist der zentrale Satz im Gedicht "Todesfuge" von Paul Celan, das als das bedeutendste lyrische Werk deutscher Sprache nach 1945 gelten kann. Celan thematisiert darin die Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten. Der Literaturwissenschaftler Thomas Sparr, Jahrgang 1956, rekonstruiert die Geschichte dieses Gedichts - von seiner Entstehung 1944/45 über die Veröffentlichung in der Bundesrepublik 1952 und der kontroversen Aufnahme in der "Gruppe 47" bis zur bewegenden Rezitation im Deutschen Bundestag in der Gedenkstunde zum 9. November im Jahr 1988 durch die herausragende jüdische Schauspielerin Ida Ehre. Celan wurde von seinem berühmtesten Gedicht bis zu seinem Tod 1970 begleitet. Er war es, der den lyrisch treffendsten Ausdruck für das Morden im Dritten Reich gefunden hat. Bis heute inspiriert es Künstler in aller Welt. Von daher ist es nicht abwegig, ein ganzes Buch über ein einziges Gedicht zu schreiben. Indem Sparr die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der "Todesfuge" nachzeichnet, eröffnet er auch eine neue Perspektive auf das Leben seines Schöpfers, diesem wohl neben Goethe, Hölderlin und Kafka am intensivsten wahrgenommen deutschsprachigen Dichter.

 

 

 

 

 

Hans-Peter Bartels: Deutschland und das Europa der Verteidigung. Globale Mitverantwortung erfordert das Ende militärischer Kleinstaaterei

Dietz-Verlag, Bonn 2019

 

Der Titel des neuen Buchs von Hans-Peter Bartels könnte sperriger nicht sein. Wieder eines dieser trockenen Bücher zur Sicherheitspolitik, durch die man sich durcharbeiten muss - könnte man meinen. Mitnichten. Bartels hat ein ungewöhnlich anregendes Buch zur aktuellen Lage in Europa geschrieben, das sich wie von selbst liest. Bartels war Journalist, bevor er in die Politik ging uns schließlich Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestags wurde - und das merkt man mit jeder Zeile. Er schreibt eingängig und lässt profundes Wissen nicht nur der einschlägigen Fachliteratur durchblicken, sondern outet sich auch als Vielleser von Belletristik. Romane, die einen Bezug zur Sicherheitspolitik haben, zitiert er gern und reichlich, und das macht sein Buch ebenso bunt und anregend wie seine persönlichen Bekenntnisse, etwa seine Liebe zu Frankreich. Bartels These lautet: Europa braucht dringend mehr militärische Integration und mehr "zusammenwachsende Inseln funktionierender Kooperation", die "Festland" bilden müssten, wenn es von den Weltmächten USA, Russland und China ernst genommen werden will. Dem kann man nur zustimmen - nicht nur, weil seine These so leicht und bildhaft daherkommt.

 

 

 

 

 

Stefan Wolle: Ost-Berlin. Biografie einer Hauptstadt

Chr. Links Verlag, Berlin 2020

 

Ost-Berlin war die Hauptstadt der DDR. Und mit diesen beiden Bezeichnungen fängt die Problematik auch schon an. Nachdem Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg in vier Sektoren aufgeteilt wurde, lautete der amtliche Sprachgebrauch im sowjetischen Sektor noch Groß-Berlin. Spätestens seit den 70er Jahren setzte sich der Begriff "Hauptstadt der DDR" für Ost-Berlin durch. "Demokratischer Sektor" war eine weitere Bezeichnung, den die Machthaber gern verwendeten. Im Westen hingegen sprach man vom "Sowjetsektor" oder "Berlin (DDR)". Von 1961 bis 1989 war dieser Teil der Stadt von der Mauer vom Westen getrennt. Schon die Begrifflichkeit für den Ostteil der Stadt enthält je nach Standpunkt politische Implikationen.

Der Historiker Stefan Wolle, wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums, hat die meiste Zeit seines Lebens in Berlin gelebt und sich in seinem Buch nun auf Spurensuche nach jenem Ost-Berlin gegangen, das nur noch in der Erinnerung lebt und doch in den Stadtbezirken östlich des Brandenburger Tores präsent ist. Herausgekommen ist eine kurzweilige und 30 Jahre nach der Wiedervereinigung auch überfällige Geschichte der Hauptstadt der DDR. Sie eröffnet einem Westdeutschen - zumal jemandem wie mir, der inzwischen in Friedrichshain wohnt - buchstäblich die Augen für dieses fremde, vertraute Ost-Berlin, das mal die "merkwürdigste Stadt der Welt" war, wie der Autor findet. Wolle geht es um das Alltagsleben, den Einkauf, die Wohnungssuche, die Architektur, die Jugendkultur, später dann um die Opposition und die Kirche und schließlich um die Revolution des Jahres 1989 und den Mauerfall, bei dem die Welt einmal mehr auf diese Stadt geblickt hat, die auch heute noch merkwürdig und liebenswert, auf jeden Fall ein ganz besonderer Ort ist.

 

 

 

 

 

Hans Engels: DDR-Architektur

Prestel, München 2019

 

Mit DDR-Architektur verbindet der Westdeutsche oft Plattensiedlungen und einfallslose Zweckbauten. Doch findet sich in den ostdeutschen Bundesländern auch vielfach überaus gelungenes Bauen. Die Wohnhäuser an der Karl-Marx-Allee in Berlin sind vielleicht Idas markanteste Beispiel, der Fernsehturm am Alexanderplatz das augenfälligste, das städtebauliche Ensemble in Eisenhüttenstadt das geschlossenste. Eine Vielzahl von Einzelbeispielen ergänzt diese Liste: das 1954 wiederaufgebaute Theater in Neustrelitz, die Deutsche Hochschule für Körperkultur in Leipzig, das Filmtheater der Jugend in Frankfurt/Oder. Über den architektonischen Wert von Bauten der DDR-Moderne gibt es bis heute kein Einvernehmen. Kann und darf Architektur einer Diktatur schön sein? Es gibt subjektive Eindrücke. Wer in der DDR aufgewachsen ist, verbindet andere Eindrücke und Erinnerungen mit der umgebenden Architektur als ein Zugereister nach der Wende. Ich habe acht Jahre in den neuen Ländern gelebt und bin mit Interesse durch die Dörfer und Städte gelaufen, habe Abstoßendes und Anziehendes entdeckt.

Der Fotograf Hans Engels hat markante Beispiele der DDR-Architektur im Bild festgehalten.  Der Bildband gibt einen guten Überblick über die Epochen des Bauens in der DDR. Von der sachlichen Moderne der 1948 wiederaufgebauten Berliner Volksbühne über den stalinistischen Barockklassizismus der fünfziger Jahre, den ambitionierten Städtebauprojekten der sechziger Jahre (Prager Straße in Dresden), den Plattenbauvierteln der siebziger bis hin zur Wiederentdeckung des Alten in den Achtzigern (Rekonstruktion des Nikolaiviertels in Berlin, Integration von Jugendstildekors in Gebäude an der Ostseite des Berliner Gendarmenmarkts). Ein einführender Essay von Frank Peter Jäger zieht die große Linie durch 40 Jahre DDR-Architektur und erschließt dem interessierten Leser die ideologischen Hintergründe, politischen Vorgaben, äußeren Einflüsse und die inneren Widersprüche der DDR-Baugeschichte. 

 

 

 

 

 

Josef Aldenhoff: Bin ich schon alt oder wird das wieder? Älter werden für Ungeübte

C.Bertelsmann, München 2018

 

Alt werden war noch nie so einfach wie heute. Wer sich früh genug darauf vorbereitet, kann seinen Ruhestand in erfüllender und gesunder Weise erleben. Vor allem drei Dinge sind es, die möglichst frühzeitig vorbereitet werden müssen, denn wenn "das Alter" erstmal da ist, ist es zu spät, sich um sie zu kümmern: ein fitter Körper, finanzielle Ressourcen und soziale Kontakte (auch Freundschaften genannt). Voraussetzung für ein Alter in Fülle ist natürlich, dass einen kein unüberwindlicher Schicksalsschlag ereilt oder eine schwere, gar unheilbare Krankheit. Nicht alles kann man steuern, auch das macht das Buch deutlich.

Der Neurobiologe und Psychiater Josef Aldenhoff, selbst über 70, geht den verschiedenen Aspekten des Alters nach - von Freiheit bis Pflege, von Haarausfall bis Sex, von Weisheit bis Tod. Er tut dies in leichter Sprache, oft mit einem Augenzwinkern, aber ernst in seinen Ratschlägen. Eines ist ihm vor allem anderen wichtig: Bewegung, Bewegung, Bewegung. Und nicht rauchen! Dass Alkohol kein Grundnahrungsmittel ist und bewusste Ernährung eine bedeutende Rolle (nicht nur) im Alter spielt, ist für ihn als Arzt eine Selbstverständlichkeit.

Lebensqualität ist nicht objektiv, sondern eine höchst subjektive Angelegenheit, und Individualität spielt im Alter eine vielleicht noch größere Rolle als in anderen Lebensphasen. Aldenhoffs Buch liest sich beschwingt und nimmt dem Leser manche Sorge vor dem, was kommen mag. Viel Ungemach kann man vermeiden, wenn man sich früh genug mit der dritten Lebensphase auseinandersetzt. Mit Anderem kann man sich arrangieren. Und das, was an Zumutungen im Alter bleibt, ist zu akzeptieren - und immer öfter braucht man nicht einmal das, wenn man an die Fortschritte der Palliativmedizin denkt. Nicht Larmoyanz und Trübsal müssen das Alter prägen, sondern es können und sollten Neugier, Freude und Gelassenheit sein. In seinem provokanten Realismus ruft Aldenhoff seinen Lesern zu: Wer sich im Ruhestand zur Ruhe setzt, baut schnell ab. Wer sich neue Unruhe zumutet, lebt auf.

 

 

 

 

 

Bruno P. Kremer: Stille Wasser. Leben zwischen Regenpfütze und Salzsee

Theiss, Darmstadt 2019

 

Stille Wasser sind tief - manchmal. In jedem Fall sind sie interessant, gleich ob Pfütze, Tümpel, Dorfteich, Maar oder Talsperre. Der Biologe Bruno P. Kramer schaut gern genau hin, das hat er schon in seinem bemerkenswerten Buch "Die Wiese" getan. Seine Bücher sind Expeditionen in Lebensräume vor der Haustür, die sich als regelrechte Universen an vielfältigstem Leben mit seinen je eigenen Besonderheiten erweisen. Man kennt sie irgendwie, aber man weiß nicht viel über sie. 

Ausgehend von einer sehr ausführlichen und erkenntnisreichen Einführung in das, was Wasser eigentlich ist, wie es entsteht, in welchen Formen es auftritt und welch entscheidende Bedeutung es für unseren Planeten hat, fächert Kremer auf, welche Formen von Gewässern es eigentlich auf dem Festland gibt: Bäche, Flüsse, Ströme, Seen. Um die Seen geht es dann im Einzelnen. Kremer entfaltet eine ungemein interessante Typologie von Stillgewässern, in denen selbstverständlich die bekannten Formen wie Gartenteich oder Baggersee und viele andere mehr vorkommen. Aber auch seltenere Vertreter wie  Fethinge, Sölle oder Impaktseen werden vorgestellt. Ein Fething beispielsweise ist ein Süßwasserreich auf einer Hallig im Wattenmeer, ein Impaktsee ein mit Wasser gefüllter früherer Meteoriteneinschlag. Sölle kommen in den Jungmoränenlandschaften Norddeutschlands vor und sind meist kreisrunde im Acker verstreut liegende Kleingewässer.

All diese facettenreichen Lebensräume mit ihren unterschiedlichsten Tier- und Pflanzenarten erkundet der Autor mit der ihm eigenen anschaulichen Sprache und auf lehrreiche und unterhaltsame Weise. Der Text wird ergänzt durch eine Vielzahl von Fotos, die die verschiedenen Formen von Gewässern dokumentieren.  Hier wäre etwas weniger mehr gewesen, stattdessen kommen anschauliche Grafiken, die das Typische der vorgestellten Stillgewässer-Formen herausarbeiten etwas zu kurz. 

Insgesamt ist das Buch eine hervorragend gemachte populäre Einführung in die Limnologie, die  Wissenschaft von den Binnengewässern. Jeder an Geografie, Geologie, Biologie und Gewässerkunde Interessierte hat an diesem opulent gestalteten und akkurat-anschaulich geschriebenen Sachbuch seine Freude.

 

 

 

 

 

Bernd und Gabriele Steinicke / Winfried Nohn: Moselland. Ein Fluss, drei Länder, viele Facetten

Theiss, Darmstadt 2018

 

550 Kilometer zieht sich die Mosel von ihrer Quelle in Lothringen durch drei Länder - Frankreich, Luxemburg und Deutschland - bis zu ihrer Mündung in den Rhein. In Deutschland denken wir bei dem Begriff Mosel an das Weinland mit seinen Fachwerkdörfern, den steilen Rebhängen und den einzigartigen Mäandern, die sich vom Ausgang des Trierer Moselbeckens bei Schweich bis kurz vor Koblenz zieht. Doch bevor dieser spektakulärste Teil der Mosel durch das Rheinische Schiefergebirge beginnt, hat der Fluss bereits mehr als 300 Kilometer hinter sich, die dem deutschen Moselliebhaber meist unbekannt sind. Das Buch des Autorentrios Steinicke/Steinicke/Nohn stellt die Mosel in ihrem kompletten Lauf vor, von ihrer Kinderstube in den südlichen Vogesen bis zum Deutschen Eck in Koblenz.

Kurz vor dem Örtchen Bussang, gleich unterhalb der Passhöhe des Col de Bussang (727m) entspringt die Mosel. Die Autoren folgen ihrem Verlauf und erzählen die Geschichte der Orte und Landschaften links und rechts ihrer Ufer. Vier Städte sind es am französischen Lauf der Mosel, und die haben es historisch in sich: Épinal, Toul, Nancy und Metz. Es zeigt sich, die Mosel ist eine europäische Arterie, die Kernregionen unseres Kontinents verbindet. Schon Metz ist ein Spiegelbild des Hin- und Her der Völker in diesem Raum. Schengen an der Mosel, in Luxemburg am Dreiländereck mit Deutschland und Frankreich gelegen, steht mehr als jeder andere Moselort für die europäische Einigung, mit der die Mosel viel zu tun hat. Hier wurde der berühmte Vertrag von Schengen über die Freizügigkeit auf einem Schiff auf der Mosel unterzeichnet. Trier, die älteste Stadt Deutschland, ist der nächste Kulminationspunkt der Moselkultur. Hier entstand zur Römerzeit das Loblied auf den Fluss, "Mosella" des Dichters Ausonius. Und dann, wie gesagt, der landschaftlich spektakulärste Teil der Mosel: der enge Durchbruch zwischen Eifel und Hunsrück als tief eingeschnittener Canyon mit dramatischen landschaftlichen Blicken und dem, was die Mosel mehr als alles andere auszeichnet: dem Wein. Nikolaus von Kues spielt jetzt eine Rolle, sodann der Jugendstil in Traben-Trarbach und schließlich Koblenz, wo sich die Mosel mit einem anderen Fluss vereint, der vor allem als deutsch wahrgenommen wird, was er allein aber gar nicht ist: der Rhein. Das Buch ist Lesebuch und Bildband zugleich, eine kurzweilige Unterhaltung für alle Moselfreunde und ein erhellender Ausflug in eine Großregion, in der seit mehr als 2000 Jahren vielfach Geschichte geschrieben und einer der besten Weine der Welt erzeugt wird.

 

 

 

 

 

Magali Nieradka-Steiner: Exil unter Palmen. Deutsche Emigranten in Sanary-sur-Mer

Theiss, Darmstadt 2018

 

In Sanary-sur-Mer an der Côte d'Azur versammelte sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland die Crème de la Crème der deutschsprachigen Literatur. In dem Fischerdorf fanden sich Thomas Mann, Heinrich Mann, Klaus Mann, Lion Feuchtwanger, Franz Hessel, Franz Werfel, René Schickele, Arnold Zweig, Julius Meier-Graefe, Friedrich Wolf, Ludwig Marcuse, Bruno Frank, Walter Hasenclever, Alfred Kantorowicz, Hermann Kesten, Arthur Koestler und viele andere ein. Insgesamt 68 Namen trägt eine Gedenktafel im Ort, die an diese Zeit erinnert, als Sanary-sur-Mer die Hauptstadt der deutschsprachigen Exilliteratur war. Manche der Schriftsteller blieben nur kurz, andere einige Monate, manch einer wie Lion Feuchtwanger viele Jahre. Einige seiner berühmtesten Romane entstanden in Sanary. Nach der Besetzung Frankreichs und unter dem Vichy-Regime zogen die meisten notgedrungen weiter, manche trafen sich in Los Angeles als Nachbarn wieder.

Es ist erstaunlich, dass die Geschichte von Sanary-sur-Mer als Kulminationspunkt deutscher Exilliteratur erst jetzt aufgearbeitet wurde. Die deutsch-französische Romanistin Magali Nieradka-Steiner, die an den Universitäten Heidelberg und Mannheim lehrt, hat dieses längst überfällige Buch geschrieben. Es ist an Anregungen für eine Entdeckung oder Wiederentdeckung des einen oder anderen Autoren nicht zu überschätzen. Bildreich und in vielen verbürgten Anekdoten erzählt die Autorin von Lesewettbewerben in den Villen der Autoren und von anderen gesellschaftlichen Events, von Einheimischen, die dem am Hafen spazierengehenden Literaturgiganten Thomas Mann die Hand drückten, von Autounfällen und von dem englischen Schriftsteller Aldous Huxley, der freiwillig in Sanary lebte und sich von der einfallenden deutschen Literaturtruppe vor allem in seiner Ruhe gestört fühlte. Nicht zuletzt geht Nieradka-Steiner der Frage nach, wie die Gemeinde Sanary-sur-Mer heute mit ihrem deutschen literarischen Erbe umgeht (die Autorin veranstaltet dort selbst literarische Führungen): nämlich sehr positiv. Es gibt zwar noch keinen ausgesprochenen Literaturtourismus, aber die Orte des literarischen Geschehens in der Gemeinde sind erschlossen und beschrieben, und wer als Frankreich-Tourist diesem speziellen Aspekt der deutsch-französischen Geschichte näher kommen möchte, ist in Sanary-sur-Mer willkommen.

 

 

 

 

 

Peter Reichel: Der tragische Kanzler. Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik

dtv, München 2018

 

Die Weimarer Republik hat so viele Kanzler hervorgebracht, dass sich an die meisten nur noch Historiker oder historisch Interessierte erinnern: Bauer, Fehrenbach, Wirth, Cuno, Marx, Luther... Unter den bekannteren Namen Ebert, Scheidemann, Müller, Stresemann, Brüning, von Papen und von Schleicher ragt die Person Hermann Müllers heraus. Neben Friedrich Ebert ist er wohl der bedeutendste SPD-Politiker der zwanziger Jahre - und ist dennoch dem Vergessen anheim gefallen.

Als Außenminister hatte Müller den schweren Gang nach Versailles anzutreten und den Friedensvertrag nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zu unterzeichnen - ein Akt, mit dem man in der Heimat keinen Ruhm ernten konnte. Diese erste Tat, mit der Müller auf der großen politischen Bühne bekannt wurde, zeigt auch im besten Sinne seine Qualität: er ließ sich in die Pflicht nehmen, in schwierigster Zeit und für Aufgaben, die unangenehmer man sich für einen Politiker kaum vorstellen mag.

Müller war zweimal Reichskanzler, im Frühjahr 1920 und von 1928 bis 1930, als er die letzte von einer parlamentarischen Mehrheit gestützte Koalitionsregierung anführte. Schon ein Jahr später starb er erst 55-jährig an den Folgen einer Gallenoperation. Er war ein Parteisoldat, wie ihn vielleicht nur die SPD hervorbringt. Ein Fanatiker der Sachlichkeit in einer Zeit der ideologischen Schreihälse. Einer, der ruhig blieb und jede Anfeindung zumindest nach außen hin gelassen abwetterte.

Seit 1906 Berufspolitiker, arbeitete sich der gelernte Handlungsgehilfe, der nach dem frühen Tod des Vaters die Schule ohne Abitur verlassen musste, 15 Jahre lang im Parteiapparat hoch, ehe das erste Mal seine Stunde schlug. Das Kaiserreich war am Ende, die junge Republik stand auf tönernen Füßen, umgeben von äußeren Gegnern, in Frage gestellt von inneren Feinden. Die SPD übernahm 1918/19 in einer historischen Mission ihre Aufgabe als Staatspartei dieser ersten Demokratie auf deutschem Boden, und Müller wurde einer ihrer wichtigsten Repräsentanten. 1928 führte Müller dann erstaunliche zwei Jahre lang eine supergroße Koalition aus SPD, DVP, DDP, BVP und Zentrum. Wie manch anderem SPD-Regierungschef fühlte er sich am Ende von seiner eigenen Partei im Stich gelassen und gab auf. Damit begann der Anfang vom Ende der Weimarer Republik.

Es ist das Verdienst des emeritierten Hamburger Historikers Peter Reichel, Hermann Müller mit einer ersten Biografie überhaupt dem Vergessen entrissen zu haben - wobei die Gattungsbezeichnung Biografie in diesem Fall nicht ganz zutreffend ist. Reichel beschränkt sich nämlich nur auf Müllers Zeit und sein Wirken als Berufspolitiker. Er fährt ein über weite Strecken erdrückendes Material aus den Akten auf, was einzelne Vorgänge zwar minutiös nachzeichnet, aber den Menschen Hermann Müller verblassen lässt und überdies überhaupt nur durch ein gesichertes Vorwissen über die die Politik in der Weimarer Republik zu verstehen ist.

Dies führt zu einer mühevollen Lektüre, die nur durchhält, wer wirklich starkes Interesse am Thema hat. Insofern ist nur allzu verständlich, dass Reichel, wie er im Nachwort schreibt, lange Zeit keinen Verlag für sein Buch fand. Das lag nicht nur daran, wie er vermutet, dass eine Biografie über einen letztlich glücklosen Politiker ein verlegerisches Risiko darstellt. Sondern sicher auch an der Trockenheit der Aufbereitung des Stoffs. Reichel hat Hermann Müller wieder zu Recht aus den Falten der Geschichte geholt, in die er gerutscht war. Eine umfassende Müller-Biografie steht aber noch aus. Vor allem eine, die die Persönlichkeit dieses Staatsmannes facettenreicher und farbiger herausarbeitet. Vielleicht gibt Reichels Buch hierzu die Initialzündung.

 

 

 

 

 

Dörte Hansen: Mittagsstunde. Roman

Penguin, München 2018

 

In der Mittagsstunde wird es in dem Dorf Brinkebüll auf der schleswig-holsteinischen Geest still. Das Gastwirts-Ehepaar Ella und Sönke Feddersen legt sich zum Schläfchen hin, auch der Lehrer Steensen macht es, die Hamkes und auch Hauke Godbersen und das ganze skurrile Personal dieses fiktiven Orts. Das hat man immer schon so gemacht und wird es nie anders machen, wenn - ja wenn nicht moderne Zeiten einzögen. Nach Brinkebüll kehrten Anfang der 50er Jahre die Kriegsheimkehrer aus den Lagern in Magnetogorsk und sonstwo in Sibirien zurück, Fremde in vertrauter Umgebung, abgefrorene Zehen und Schweigen, schmerzhaftes Schweigen über das, was im Krieg geschehen ist. Mitte der 60er fielen die Landvermesser ein und brachten die Flurbereinigung über Menschen und Felder. Und doch blieb zunächst vieles gleich über die Jahre, die gleichmäßig dahinzogen wie der stets steife Westwind.

Doch dann: Veränderungen, erst unmerklich, später immer handgreiflicher. Die Jungen zogen weg, die Alten gaben die Höfe auf, bauten sich Bungalows. Die Dorfstraße wurde aphaltiert. Aussteiger aus Hamburg und Berlin entdeckten das Dorf - Menschen, die nicht Moin sagen und die in der abgewrackten Windmühle Schrott zu Kunstwerken zusammenschweißen, die kein Brinkebüller versteht.

Vor diesem Hintergrund findet Ingwer Feddersen, der Enkel von Ella und Sönke, ins Dorf seiner Kindheit und Jugend zurück. Die beiden Alten waren für ihn wie Eltern, weil seine Mutter Marret, eine der wunderlichsten Figuren im Brinkebüller Kabinett, irgendwann verschwunden war und nie wieder auftauchte. Er war einer der ersten, die gegangen waren, hatte - horribile dictu! - studiert und war auch noch Archäologe geworden. Kein Mensch im Dorf konnte etwas damit anfangen.

Ingwer lehrt an der Uni Kiel und lebt dort in einer Dreier-WG, zwei Männer und eine Frau. Kopfschütteln darüber in Brinkebüll. Ingwer hat sich ein Sabbatical genommen um Ella und Sönke, beide immer seniler werdend, bis ins Grab zu pflegen und kurz vor seinem 50. Geburtstag eine erste Lebensbilanz zu ziehen.

"Mittagsstunde" ist der zweite Roman von Dörte Hansen, die 2015 mit ihrem Debüt "Altes Land" einen großen Erfolg feierte. "Mittagsstunde" ist in der Zeichnung der vielfältigen Figuren - jede für sich eine echt norddeutsche Type, klar und rauh - noch grundierter als "Altes Land". Die promovierte Frisistin Hansen garniert ihren Roman mit reichlich Plattdeutsch, was der Geschichte eine authentische Note gibt. Vieles ist überspitzt gezeichnet, manches tragisch, etliches komisches. Es ist das kleine Universum einer verschworenen Gemeinschaft an der Westküste, die über die Jahrhunderte vom Sturm und von der Härte des Daseins gezeichnet wurde. Unter jedem Dach ein Ach. Mit dem Einzug der Moderne verliert diese Gemeinschaft ihr Gesicht und bricht auseinander. Ich habe diesen Roman in einem Zug gelesen, habe mich an seinem hintergründigen Witz erfreut und staunend die Familiengeschichte der Feddersens mit ihren Haken und Ösen verfolgt. "Mittagsstunde" ist ein Roman vom Rande Deutschlands, der in eine gar nicht so ferne und doch entrückte Welt führt und vor Augen führt, was in den vergangenen 50 Jahren verloren gegangen ist.

 

 

 

 

 

Jörg Später: Siegfried Kracauer. Eine Biographie

Suhrkamp, Berlin 2016

 

Siegfried Kracauer (1889-1966) war Journalist ("Frankfurter Zeitung"), Romancier ("Georg", "Ginster"), Mitbegründer der Filmkritik ("Von Caligari zu Hitler") und der Soziologie ("Die Angestellten"), Biograf ("Jacques Offenbach") und Philosoph. Ein Universal-Intellektueller des 20. Jahrhundert, der heute zu Unrecht leider weitgehend vergessen ist. Wegen seiner jüdischen Herkunft mussten "Krac", wie er sich im Exil im Freundeskreis nannte, und seine Frau vor den Nazis fliehen - erst ins geliebte Frankreich, dann in die USA. Seine Familie in Frankfurt wurde im Dritten Reich umgebracht. In den USA lernte Kracauer blitzschnell Englisch und publizierte fortan in der Sprache seines Gastlandes. Er baute sich unter großen Mühen eine neue Existenz auf, ohne wie andere Exil-Akademiker eine gesicherte Stellung als Professor zu bekommen oder dauerhaft vom Erlös seiner vielfältigen Werke leben zu können.

Es ist erstaunlich, dass 50 Jahre vergehen mussten, ehe eine erste Biografie dieses bedeutenden Denkers erschien. Der Freiburger Historiker Jörg Später hat - ausgehend von einem Hauptseminar an der Uni zu Kracauers Leben und Denken - eine Lebensbeschreibung verfasst, die keine Wünsche offen lässt. Eine beeindruckende Zahl von veröffentlichten und unveröffentlichten Quellen wurden vom Autor gesichtet und ausgewertet. Alleine das Literaturverzeichnis umfasst beinahe 40 eng bedruckte Seiten. Später stellt Kracauers komplexes Denken, seine Beziehungen zu Horkheimer und Adorno und seine Philosophie ebenso erschöpfend und auf einem hohen Niveau dar wie seine Arbeit als Journalist in Frankfurt und als Buchautor in Deutschland und den USA. Kracauer wird in Späters Biografie auf 606 Seiten plastisch im Denken und Wirken, aber auch in der bedrückenden Banalität des Alltags eines Exilanten, der um ausstehende Honorare aus Deutschland kämpft, ständig Geldsorgen hat, der verzweifelt auf das erlösende Visum für die Überfahrt nach New York wartet, der sich in der neuen Heimat mit unglaublichem Willen und nie versiegender Kraft einen Namen in der akademischen Welt erarbeitet, der in der jungen Bundesrepublik ganze 5000 D-Mark Entschädigung erhält und am Ende seinen Frieden mit dem Land seiner Herkunft und der Mörder seiner Familie macht, auch wenn er nicht mehr zurückkehren wollte. Da, wo es lebensgeschichtliche Lücken zu füllen gilt, greift Später auf Kracauers beiden autobiografischen Romane "Georg" und "Ginster" zurück. Das ist gewiss nicht unproblematisch. Insgesamt aber ist dem Autor ein großer Wurf gelungen, der sicherlich für lange Zeit den Maßstab in der Kracauer-Forschung setzt.

 

 

 

 

 

Yuval Noah Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von morgen

C.H. Beck, München 2017

 

Der 1976 in Haifa geborene Historiker Yuval Noah Hararo hat eines der verblüffendsten Bücher geschrieben, die ich seit Jahren gelesen haben. "Homo Deus" ist eine Tour d'horizon durch die Weltgeschichte und ein Aussicht auf das Kommende, die auf einem ungemein breiten Wissen und der kreativen Kombination unterschiedlichster Erkenntnisse aus praktisch alles Wissenschaften aufbaut. Der Autor bereitet seinen Stoff  in unvergleichlich attraktiver Form erzählend auf Er begibt sich dabei immer wieder in exemplarische Einzelbeispiele, ohne sich in der Fülle seiner Kenntnisse zu verlieren. Das ist angesichts des Umfangs des Stoffes angenehm.

Für Harari ist die Geschichte ein Akt der Selbstermächtigung des Menschen, der zunehmende Kontrolle über alle Ressourcen der Welt und des Lebens erlangt. Inzwischen aber sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir die Kontrolle über das von uns geschaffene globale System zu verlieren beginnen.

Im 18. Jahrhundert drängte der Humanismus Gott an den Rand, indem die Menschheit von einem geozentrischen zu einem homozentrischen Weltbild überging - aus dem homo sapiens wurde der homo deus, der sich selbst als allmächtig und autonom ansieht. Im 21. Jahrhundert könnte das homozentristische Weltbild von einem datazentristischen Weltbild abgelöst und damit der Mensch selbst an den Rand gedrängt wird.

Erste Anzeichen dafür gibt es: Nicht mehr das eigene Sein, das eigene Erleben ist wichtig, sondern das, was ich an Daten darüber produziere. Harari nennt als Beispiel die Begegnung eines Touristen mit einem Elefanten. Nicht die Erhabenheit der Beobachtung dieses majestätischen Tieres ist es, was den Touristen berührt, sondern allein die Möglichkeit, ihn zu fotografieren, ins Netz zu stellen und die daraufhin eingehenden Likes als Quelle der Freude zu verbuchen.

Ausgehend von der These, dass Lebewesen - und damit auch der Mensch - nichts anderes als Algorithmen seien und wir dabei sind, in unseren weltweiten Netzwerken immer perfektere, sich inzwischen auch selbst reproduzierende und verbessernde Algorithmen zu produzieren, fragt der Autor, wie lange es noch dauern könnte, bis diese Algorithmen den Menschen überflügeln und ihn schließlich nur als ein "leichtes Kräuseln im großen kosmischen Datenstrom" erscheinen zu lassen. Ist es der Sinn des Lebens auf der Erde gewesen, diese Algorithmen erschaffen zu haben, die ihre Schöpfer überdauern?

Hararis fulminante Darstellung ist einerseits in intellektueller Genuss wie selten. Er entwickelt zwar keine Vision der Zukunft, aber er rechnet gegenwärtige Entwicklungen hoch, bei der nicht klar wird, ob es eine Dystonie oder eine Utopie sein soll, ob diese neue künftige Welt gut oder schlecht ist. Wenn sich künftig Intelligenz vom Bewusstsein abkoppelt, wäre zu fragen: was ist wertvoller - Intelligenz oder Bewusstsein? Und was wird aus unserer Gesellschaft, unserer Politik und unserem Alltag, wenn nichtbewusste, aber hochintelligente Algorithmen uns besser kennen als wir uns selbst?

 

 

 

 

 

Jean-Paul Sartre: Der Ekel. Roman

rororo, Reinbeck 2017

 

Der Roman ist eines der Standardwerke des Existenzialismus. Sartre wurde mit ihm 1938 auf einen Schlag berühmt. Der Erzähler, Antoine Roquentin, arbeitet in der fiktiven Stadt Bouville (die an Le Havre erinnert, wo Sartre in frühen Jahren als Lehrer tätig war), an einer Biografie über den (ebenfalls fiktiven) Marquis de Rollebon. Roquentin berichtet von seiner Einsamkeit in einem als überdrüssig empfundenen Alltag in Form eines Tagebuchs und versucht sich dabei unnachsichtig in Selbsterforschung. Er will seinem Ekel vor den Menschen auf den Grund gehen, der ihn mehr als jedes andere Gefühl beherrscht. Die reine Existenz verursacht ihm Übelkeit, und nicht einmal der Tod kann ihn vor ihr bewahren, denn danach wäre er immer noch da, als totes Fleisch und Knochen. Roquentin sieht sich in das Leben hineingeworfen, einen Grund für seine Existenz vermag er nicht zu erkennen. Diese Sinnlosigkeit ist der Spiegel des Lebens, in dem er nur Stupidität und Selbsttäuschung entdeckt.

So ist der Roman erwartbar handlungsarm: Roquentin geht in die Bibliothek oder spazieren. Kontakt zu einem anderen Menschen baut er nur zu einem weiteren Bibliotheksbenutzer auf, den er den "Autodidakten" nennt. Diese Annäherungsversuche an den Anderen kommen mal traurig, mal komisch, immer aber irgendwie bitter daher. Er würde gerne alles umstürzen, muss aber erkennen, dass er als unwichtiger Einzelner nichts bewirken kann. Und zu was wäre auch ein Umsturz gut?

Der Roman bedient sich naturalistischer Sittenschilderungen und Elementen des Schelmen- und des Provinzromans, weitere Anleihen kommen aus der Horrorliteratur und der Technik der Textmontage. Die vorliegende Ausgabe ist ergänzt um einen Anhang, der die in der ersten französischen Ausgabe vom Autor gestrichenen Passagen enthält.

"Der Ekel" ist die Grundlegung von Sartres Denken. Das Buch hat diese philosophische Richtung vorgezeichnet; Camus' Figur des Meusault wäre ohne den "Ekel" nicht denkbar. Sartres Versuch einer Ortsbestimmung des Menschen als einen verlorenen Einzelnen in der modernen Welt, die er nicht versteht, hat die Weltliteratur bis heute geprägt.

 

 

 

 

 

Iris Hauth: Keine Angst. Was wir gegen Ängste und Depressionen tun können

Berlin-Verlag, München 2018

 

Der Titel weckt Erwartungen, die dass Buch nicht erfüllen kann: Es ist kein Ratgeber gegen Depressionen und Ängste, sondern ein Insiderbericht einer der profiliertesten Expertinnen der Psychiatrie in Deutschland. Iris Hauth leitet das Alexianer St. Joseph-Krankenhaus in Berlin-Weißensee, die größte psychiatrische Klinik der Hauptstadt. Von 2015 bis 2016 war sie Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). 

Als langjährig in diesem Bereich tätige Ärztin und als auch von der Politik gefragte Beraterin verfügt sie über umfassende Einblicke in die Psychiatrie - ein Bereich unseres Gesundheitswesens, über den immer noch weniger bekannt ist als von anderen und von dem eine Aura des "Besser-nicht-wissen-Wollens" ausgeht. Doch spätestens seit dem Fall Mollath und dem Selbstmord des Fußballers Robert Enke sind Themen der seelischen Gesundheit und jenes Zweigs der Medizin, der sich mit ihr beschäftigt, stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Hier leistet Hauths Buch einen wertvollen Beitrag zur Aufklärung.

Sie beschreibt in einem gedimmten, von großer Liebe zu ihrem Beruf getragenen Ton die wesentlichen psychischen Erkrankungen: Depressionen, Angststörungen, Psychosen. Sie berichtet, wie eine psychiatrische Klinik funktioniert und wie der Alltag dort aussieht. Sie räumt mit Vorurteilen, etwa über die Zwangsfixierung von Patienten, auf. Sie stellt die Reformen der Psychiatrie dar, die dem Patienten mehr Rechte gegeben haben und ihm seine Würde nicht mehr nehmen. Überhaupt klingt in Hauths Darstellung auf fast jeder Seite ihre Zuneigung zu den Patienten durch. Gleich das erste Kapitel trägt denn auch den Titel: "Man muss die Menschen lieben, sonst kann man nicht Psychiaterin sein".

Hauth geht auch auf die Probleme der medizinischen Versorgung auf diesem Feld ein: die langen Wartezeiten, um eine Therapie zu bekommen, der eklatante Mangel an Psychiatern und Psychotherapeuten insbesondere im ländlichen Raum. Das Ganze vor dem Hintergrund einer immer anspruchsvoller werdenden Berufswelt und einer rasch älter werdenden Gesellschaft, die ihre ganz eigenen Krankheitsbilder hervorbringen und die Psychiatrie und Psychotherapie vor neuen Herausforderungen stellen.

Wer sich über das Thema umfassend informieren möchte, ist mit Hauths Einblicken in eine den meisten von uns fremde Welt bestens bedient. Wer Hilfe braucht und einen Ratgeber braucht, sollte sich von dem Titel des Buchs nicht in die Irre führen lassen. 

 

 

 

 

 

Scott Kelly: Endurance. Mein Jahr im Weltall

C. Bertelsmann, München 2018

 

Die Autobiografie von Scott Kelly, der länger als jeder westliche Astronaut im All gewesen ist: 520 Tage, liest sich trotz ihrer 480 Seiten in einem Atemzug Sein letzter - einjähriger - Aufenthalt auf der ISS dauerte ein Jahr und endete am 1. März 2016.

 Dieses Jahr ist der Rahmen des Buches, in dem Kelly immer wieder auf sein Leben blickt: 1964 als Sohn eines Polizisten und einer Polizistin in kleinen Verhältnissen geboren (der Vater war alkoholkrank) weiß er zunächst nichts mit sich anzufangen, ist ein fauler und schlechter Schüler. Durch ein Stück Literatur findet er zu seinem Lebenstraum: „Helden der Nation“ von Thomas Wolfe ist ein Roman über die Anfänge der Weltraumfahrt, dem Kelly alles verdankt. Er arbeitet sich hoch, studiert Elektrotechnik, wird Navy-Pilot, fliegt alles was Flügel hat und landet auf Flugzeugträgern. 

Er und sein eineiiger Zwillingsbruder Mark werden ins Astronautenkorps der NASA aufgenommen und erfüllen sich mit unglaublichem Willen und noch unglaublicherer harter Arbeit mit vielen Entsagungen ihren Traum: sie fliegen und kommandieren irgendwann das Space-Shuttle, das komplexeste Fluggerät, das je gebaut worden ist. Allein die Beschreibung der Landung dieses antriebslosen Segelflugzeugs, das wenige Minuten vor dem Aufsetzen auf der Piste noch mit 45-facher Schallgeschwindigkeit der Airbase entgegen rast und die Kelly sauber hinlegt, ist lesenswert. Es folgt ein halbjähriger Aufenthalt auf der ISS, dann 2015/16 das Jahr im All. 

Kelly schildert den Alltag auf der Raumstation, die vielen banalen Dinge eines Jahres im Orbit, den minutengenau durchgetakteten Alltag ohne Privatsphäre und die dramatischen Momente - bei Feueralarm und bei Außenbordeinsätzen. Aber auch die Kameradschaff zwischen Menschen unterschiedlicher Nationen 400 km über der Erdoberfläche, die sich blind aufeinander verlassen müssen. Er ist ein durch und durch normaler Mann, die Zeit der Helden ist vorbei: er ist Vater zweier Töchter, steht eine Prostatakrebserkrankung durch, trägt eine Brille, seine Ehe geht in die Brüche, er verliebt sich neu (hat kürzlich die NASA-PR-Mitarbeiterin Amiko Kauderer geheiratet) und fliegt trotz allem mit 51 Jahren für ein Jahr ins All. Disziplin, Willenskraft und Empathie zeichnen ihn aus. 

Dieser Mann macht auch Fehler, zu denen er steht und aus denen er lernt. Er ist für jeden Klamauk auf der Station zu haben (erschreckt seine Crew an Bord in einem Gorilla-Kostüm). Er hat erhabene und traurige Gefühle in der Isolation des Alls (und auch lustvolle, als ihm beispielsweise einmal der anmutige Fuß seiner italienischen Astronauten-Kollegin auffällt, die sich derart grazil unter einen Haltegriff gehakt hat, dass er diesen Anblick einer Erwähnung wert findet). Er reflektiert sein Tun und er liebt seinen Beruf. Für diesen Traumjob hat er die Komfortzonen seines Lebens so oft verlassen und sich immer wieder derart Unangenehmem ausgesetzt, wie ich es nur bewundern kann. Ein Mann, der alles erreicht hat im Leben, was er sich - spät, aber dafür umso stringenter - vorgenommen hat. Ein Vorbild in jeglicher Hinsicht. Ein absolut empfehlenswertes Buch und eine ergreifende, atemberaubende Lektüre, die zur Frage nach dem eigenen Leben, nach den eigenen Zielen und Idealen führt und daher nahe geht. Wünschenswert wäre eine besser lesbare und übersichtlichere Darstellung der ISS gewesen.

 

 

 

 

 

Steven Levitsky / Daniel Ziblatt: Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können

DVA, München 2018

 

Am 11. September 1973 erschienen am Himmel der chilenischen Hauptstadt Santiago Kampfflugzeuge und bombardierten den Präsidentenpalast La Moneda. Putschende Soldaten unter Augusto Pinochet bemächtigten sich des Präsidenten Salvador Allende, der kurz darauf tot war. Die Demokratie in dem südamerikanischen Land endete auf brutale Weise.

Heute sterben Demokratien leiser. Sie sterben an der Wahlurne, wie die beiden amerikanischen Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt schreiben. Durch Wahlen kommen extreme Politiker an die Macht, die vielleicht noch nicht gleich, aber zu einem ihnen opportun erscheinenden Zeitpunkt die Demokratie außer Kraft setzen. Das geht langsam, wie in Zeitlupe und fällt nicht jedem sofort auf. Aber die Folgen können ebenso fatal sein wie der gewalttätige Staatsstreich 1973 in Chile. Dies zeigt das Beispiel Venezuela, wo ein legal an die Macht gekommener Politiker - Hugo Chávez - und sein Nachfolger Nicolás Maduro die Demokratie abschafften und das Land in eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe sondersgleichen stürzten. 

Levitsky und Ziblatt entwickeln einen "Lackmus-Test", wie sie schreiben, durch den man schon vor einer Wahl mit einer gewissen Sicherheit vorhersagen kann, ob ein Politiker oder eine politische Gruppe zur Gefahr für die Demokratie wird. Die Kriterien dieses Tests sind: 1. Ablehnung demokratischer Spielregeln, 2. Leugnung der Legitimität politischer Gegner, 3. Tolerierung oder Ermutigung zu Gewalt, 4. Bereitschaft, die bürgerlichen Freiheiten von Opponenten einschließlich der Medien zu beschneiden. Werde auch nur eines dieser Kriterien erfüllt, sind Gegenmaßnahmen zur Verteidigung demokratischer Werte geboten.

Das Buch legt seinen Schwerpunkt auf die USA. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Richard Nixon eines dieser Kriterien erfüllte, Donald Trump alle vier. Wie konnte es dazu kommen?

Die amerikanischen Verfassungsväter haben größten Wert auf eine Austarierung des Einflusses von Volkswillen (Neigung zum Populismus) und Parteienherrschaft (Neigung zur Elitenbildung) gelegt. Dieses System funktionierte einwandfrei bis 1972, als in den USA verbindliche Vorwahlen eingeführt wurden. Der Volkswille und seine Neigung zu populistischen Kandidaten und Lösungen bekam nun Überhand, konnte aber noch viele Jahre mehr oder weniger erfolgreich durch Mainstream-Medien und am Ende limitierten finanziellen Mitteln der einzelnen Kandidaten eingehegt werden. Bei der Kandidatur Donald Trumps - eines Mannes ohne jegliche Verwaltungs- und Politikerfahrung - funktionierte diese Einhegung nicht mehr. Das Partei-Establishment spielte schon lange keine Rolle mehr, die Mainstream-Medien wurden durch das Internet (Breitbart-News) und durch Fernsehsender, die journalistische Standards mit Füßen treten (Fox), ausgehebelt. Zudem standen Trump nie dagewesene Finanzmittel aus eigener Tasche zur Verfügung. Trump ist also, zu diesem Schluss kommen die beiden Autoren, der Fall, der nach dem Willen der amerikanischen Verfassungsväter nie hätte eintreten dürfen.

Das Buch ist eine auch angesichts des in Bewegung geratenen deutschen politischen Systems eine erhellende Lektüre, die die Mechanismen offenlegt, wie die Demokratie zugrunde gerichtet werden kann. Dies geschieht, wenn - und das ist der Vorwurf der Autoren - insbesondere die demokratischen Parteien ihre Rolle als Wächter der Demokratie aufgeben, sich in Nebensächlichkeiten verzetteln und nicht frühzeitig klare Botschaften der Ablehnung an Extremisten senden. Wohin dies führt, hat Deutschland am Ende der Weimarer Republik erlebt. Es sollte daraus gelernt haben - hoffentlich.

 

 

 

 

 

Andreas Tjernshaugen: Das verborgene Leben der Meisen

Insel, Berlin 2017

 

Meisen sind die häufigsten Singvögel in Deutschland. Kohl- Blau- und Haubenmeise kennt jeder Gartenbesitzer, sie sind unsere ständigen Gäste und teilen als Kulturfolger den Lebensraum des Menschen. Doch was wissen wir eigentlich über diese hübschen bunten Vögel? Jedenfalls nicht genug, sonst hätte sich der norwegische Soziologe und Hobby-Ornithologe Andreas Tjernshaugen sein Buch über Meisen sparen können. Von Kindheit an - zunächst angeleitet von seinem Großvater - beobachtet er Meisen, inzwischen in seinem Haus am Oslo-Fjord. Über die Jahre hat er so viele Erfahrungen mit den Vögeln vor seinem Fenster gemacht und so viele überraschende Erkenntnisse gewonnen, dass es sich lohnte, sie in einem lesenswerten Buch zusammenzufassen. Tjernshaugens Meisen-Geschichten sind durch und durch gelungen und überdies reich mit Fotos und schönen Skizzen angereichert. Auch wenn er im Plauderton von den gefiederten Nachbarn erzählt und der Autor kein Biologe ist, fehlt seinem Buch dennoch nicht die Wissenschaftlichkeit. Geradezu en passant, und oft mit einem Augenzwinkern vermittelt er seinen Lesern alles über Meisen, was man oftmals nur staunend zur Kenntnis nimmt.

Zum Beispiel, dass Meisen der Vielweiberei frönen. Oder dass sie Fledermäuse erlegen und ihnen bei lebendigem Leibe das Gehirn herauspicken, weil es  besonders lecker schmeckt und nahrhaft ist. Wem das zu grausam ist, kann sich an den Erkenntnissen über das Erlernen des Meisen-Gesangs erfreuen, der so komplex ist, dass sich inzwischen nicht nur Ornithologen, sondern auch Sprachforscher für ihn interessieren. Erstaunlicherweise gibt es auch bei Meisen Dialekte. Dieses Buch ist für alle gedacht, die Freude daran haben, Vögel zu beobachten und ihrem Verhalten auf den Grund zu gehen. Wer sich näher mit ihnen beschäftigen möchte oder ihnen auch nur über den Winter helfen möchte, der ist mit Tjernshaugens Hinweisen bestens bedient.

 

 

 

Daniel Kehlmann: Tyll. Roman

Rowohlt, Reinbek 2018

 

In Kehlmanns zweitem großen Roman nach der "Vermessung der Welt" geht es nur vordergründig um die Figur des Till Eulenspiegels, der als umherziehender Schalk im 14. Jahrhundert im Braunschweigischen seine Streiche spielte. Kehlmanns Tyll ist auch ein Gaukler, der aber seine großen Stunden 300 Jahre später, im Dreißigjährigen Krieg, hat. Der Roman ist - anders, als sein Titel vermuten lässt - also kein Eulenspiegel-Roman, sondern ein Panoptikum dieser schlimmen Zeit von 1618 bis 1648, in der ganz Mitteleuropa brannte.

Kehlmann hat akribisch recherchiert, aber die historische Faktenlage wird poetisch sehr frei ausgelegt. Es geht um Hexenglaube und Folter, ja um den richtigen Glauben überhaupt, protestantisch oder katholisch. Eine Frage, die die  Mächtigen Europas in die merkwürdigsten Bündnisse mit- und gegeneinander bringt und die das Volk alle nur denkbaren Grausamkeiten auferlegt.

In diese Szenerien springt immer wieder die Hauptfigur des Romans, der Müllersohn Tyll, dessen Vater Naturwissenschaft betrieb und der deshalb von den Jesuiten hingerichtet wurde. Als Vagant stehen Tyll alle sozialen Schichten offen. Ein Narr wie er hat alle Freiheiten, und so bekommt der Leser mit ihm Einblicke in die Herrschafts- und Leidenswelten des 17. Jahrhunderts. Er ist beim fahrenden Volk ebenso zu finden wie auf den Schlachtfeldern des Krieges oder am Hofe des Pfalzgrafen Friedrich V., dem Prager "Winterkönig" und seiner englischen Gattin Elizabeth Stuart. Kehlmann erzählt gegen die Kausalität, das macht einen weiteren poetischen Reiz seines Buchs aus, der eben kein historischer Roman ist, sondern ein geschickt komponiertes und in mehreren Ebenen aufgezogenes Kunststück, eine Mischung von Geschichte und Erfundenem. Die verästelten Strukturen haben einen hohen Lesereiz ebenso wie die immer wieder vorzüglich getroffene Sprache der jeweiligen sozialen Schichten, durch die Tyll reist. Die Beschreibung der Grausamkeiten jener Zeit ist schnörkel- und mitleidlos.Allerdings wird Tyll selbst nicht vollkommen literarisch durchdrungen. Die Figur bleibt merkwürdig blass in all den Ungeheuerlichkeiten und kontrastiert daher mit dem Furor der Gegebenheiten, in der sie sich bewegt, die dadurch nur noch drastischer hervortreten.

 

 

 

Uli Hauser: Geht doch! Wie nur ein paar Schritte mehr unser Leben besser machen

Knaus, München 2018

 

Der Untertitel dieses Buches ist eine glatte Untertreibung! Der Autor und Journalist Uli Hauser hat nicht nur ein paar Schritte getan, um sein Leben besser zu machen, sondern er hat sich bei seinem Chef gleich sechs Monate freigenommen und ist von Lüneburg nach Rom gelaufen. Ein paar tausend Kilometer kamen da auf seiner Wanderung mit einem Abstecher hierhin und einem Umweg dortlang zusammen. Die aber hat sein Leben als meist gebeugt sitzender Journalist nachhaltig verbessert. Und mit Sicherheit hat er Recht: der Mensch ist zum Laufen geboren, wir haben das Laufen in unserer Gesellschaft mit ihren bewegungsarmen Jobs verlernt, und mit ihm das Glück der Bewegung - insofern machen auch schon ein paar Schritte mehr täglich unser Leben besser. Es muss nicht gleich Lüneburg-Rom sein.

Was Hauser zu erzählen hat von seiner Wanderung, macht Lust auf eigenes Erleben. Lust auf den frühen Aufbruch am Morgen, Lust auf Sich-Fallenlassen auf freiem Feld, Lust auf Baden in Flüssen, Lust auf wechselnde Landschaften, Lust auf ein Voranschreiten, bei dem die Seele mitkommt, Lust auf Begegnungen mit Bauern, Handwerkern, Burgherren, Professoren, Mönchen, Gastwirten, alten Freunden, jungen Burschen und hübschen Mädchen.

Was die Lektüre ein wenig hemmt, ist Hausers immer wiederkehrender Blick nach unten, auf die eigenen Füße. Dass solch ein Marsch in Luther-Manier in die ewige Stadt nicht ganz ohne ist und auch an den Füßen nicht spurlos vorübergeht, leuchtet ein. Aber Hauser übertreibt es ein wenig mit der Selbstbespiegelung zwischen großem Zeh und Achilles-Ferse. Hier wäre weniger mehr gewesen. Noch mehr hätte es dagegen sein können von den großartigen Landschaften, die er sich erlaufen hat und von den bezaubernden Menschen, denen er begegnet ist. Von solchen Schilderungen lebt dieses Buch - und davon nährt sich auch die Aufforderung an den Leser, es dem Autor gleichzutun. Es müssen ja nicht gleich tausende Kilometer sein, aber vielleicht fängt man mit den Wanderwegen in der näheren Umgebung an. Deutschland ist schließlich in jeder Hinsicht ein "wanderbares" Land.

 

 

 

 

Frank Stauss: Höllenritt Wahlkampf - Ein Insider-Bericht. Erweiterte Neuausgabe

dtv, München 2013/2017

 

Aus gegebenen Anlass - weil ich erstmals in meinem Leben einen Wahlkampf nicht als journalistischer Beobachter berichtend und kommentierend begleite, sondern als Pressesprecher der FDP-Fraktion im Hessischen Landtag selbst unmittelbar aus der Perspektive der Wahlkämpfer erlebe - habe ich zu diesem bereits vor einigen Jahren und kürzlich in einer erweiterten Neuausgabe erschienen Buch gegriffen. Frank Staus gilt als "Macht im Hintergrund"(Stern) für viele Parteien, die den Diplom-Politologen Jahrgang 1965 gern anheuern, wenn es um eine möglichst erfolgreiche Kampagne geht. Stauss ist vermutlich der Wahlkampf-Macher in Deutschland. Seit mehr als 25 Jahre berät er die Parteien beim Ringen um Stimmen. Er hat oft Erfolg gehabt, aber auch ein paar krachende Niederlagen erlebt, was ihn nur besser macht. Zuletzt ist Staus bekannt geworden als Mitautor einer von der SPD in Auftrag gegebenen schonungslosen Analyse über ihr Versagen im Bundestags-Wahljahr 2017.

In "Höllenritt Wahlkampf" bietet Stauss Insider-Einblicke in seine Wahlkämpfe von 1990 in der DDR bis zum "Wunder von Mainz" am 13. März 2016, als Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) in einer fulminanten Aufholjagd entgegen allen Erwartungen und anfänglichen Umfragen doch noch gegen ihre Herausforderin Julia Klöckner (CDU) gewann. Der Leser erfährt, welch Knochenjob die Kreativen in den "Maschinenräumen" der jeweiligen Wahlkampfzentralen haben, welch Fehler der politische Gegner macht und manchmal auch die eigenen Leute und wie wichtig das "Momentum" ist, jenes passende Zusammentreffen von Kandidat, Thema, politischer Großwetterlage und Stimmung in der Bevölkerung, ohne das kein Politiker eine Wahl gewinnen kann. Für jeden politisch Interessierten und letztlich für jeden Wähler ist die Lektüre dieses Buchs ein Gewinn für das Verständnis der Mechanik von Wahlkämpfen. Für mich ist es eine Handreichung und ein Ratgeber, wie man es machen kann im Wahlkampf - und was man tunlichst vermeiden sollte.

 

 

 

 

 

José Ediardo Agualusa: Eine allgemeine Theorie des Vergessens. Roman

C.H.Beck, München 2017

 

Die Geschichte klingt verrückt und ist es auch: Kurz vor dem Unabhängigkeitskampf Angolas von der portugiesischen Kolonialherrschaft 1975 mauert sich Ludovica in ihrem Apartment im obersten Stockwerk eines Hochhauses in Luanda ein, nachdem sie aus Notwehr einen Eindringling erschossen hat. Auf seinem Grab auf der Dachterrasse züchtet sie in den folgenden 30 Jahren Grünzeug fürs tägliche Überleben, vom Balkon unter ihr angelt sie sich Federvieh als Mahlzeit. Als Heizmaterial verfeuert sie nach und nach Mobiliar und Parkettboden. Ludovica gerät in Vergessenheit, ebenso die Wohnung da oben, die niemand mehr kennt, als nach der Revolution andere Menschen in dieses "Haus der Beneideten" einziehen und das Leben da unten in den Straßen Luandas einen anderen, neuen Gang geht. Diese angeblich "ganz und gar wahre Geschichte" ist ein Kammerspiel, von dessen eng begrenzter und isolierter Bühne der Erzähler auf drei Jahrzehnte afrikanischer Geschichte schaut, bis in unsere Tage, da Luanda durch das Ölgeschäft zu einer unbezahlbar teuer gewordenen Sieben-Millionen-Metropole mit glitzernden Fassaden geworden ist.

Der 1960 in Angola geborene und aufgewachsene portugiesische Autor José Eduardo Agualusa hat einen Roman in der Tradition des magischen Realismus geschrieben, bei dem man nicht alles für bare Münze nehmen, bei dem man aber in jedem der kurzweiligen Kapitel die Lust am Fabulieren spüren kann. Das Fantastische wird zu einer Art höheren Gerechtigkeit und führt den Leser in tragikomische und groteske Szenen, die ein Fest des Erzählens sind.

 

 

 

 

 

Karan Mahajan: In Gesellschaft kleiner Bomben. Roman

Culturbooks, Hamburg 2017

 

Indische Literatur ist hierzulande etwas für Spezialisten. Aus diesem Grund ist der zweite Roman des 1984 geborenen indischstämmigen Schriftstellers Karan Mahajan auch nicht in einem der großen Publikumsverlage auf deutsch erschienen, sondern in dem kleinen Hamburger Literaturverlag Culturbooks. "In Gesellschaft kleiner Bomben" wurde von der New York Times immerhin unter die zehn besten Bücher des Jahres gewählt und verdient ein großes Publikum. Mahajan erzählt darin die Geschichte einesTerroranschlags in Neu Delhi in den 90er Jahren, und das an sich ist schon etwas Besonderes. Der islamistische Terror ist noch nicht sehr oft Sujet der internationalen Literatur gewesen. Wie Druckwellen einer Explosion folgt Mahajan den Lebensläufen von Opfern, Angehörigen und Tätern. Auf kunstvolle Weise verschränkt er die einzelnen Schicksale miteinander. Dabei gelingt es ihm, die Psychogramme der Täter ebenso gut herauszuarbeiten wie das Leid der Opfer - beide Male ohne zu emotionalisieren, aber auch ohne sich in die kühle Distanz des neutralen Beobachters zu retten. Die offensichtliche Gratwanderung wirkt dabei nicht einmal bemüht, das ist das Überraschende. Mahajans literarisches Können macht den Reiz dieses Romans aus: er nähert sich einem höchst aktuellen Thema auf nicht emotionalisierende, aber doch auf seine eigene mitreißende Weise. Unerwartete Wendungen bleiben nicht aus, und am Ende treffen die unterschiedlichen Charaktere auf kaum für möglich gehaltene Weise zusammen.

 

 

 

 

 

Thorsten Schäfer-Gümbel: Die sozialdigitale Revolution. Wie die SPD Deutschlands Zukunft gestalten kann

Murmann 2018

 

Der hessische Landes- und Fraktionsvorsitzende des SPD, Thorsten Schäfer-Gümbel, hat sechs Monate vor der Landtagswahl am 28. Oktober 2018 ein Buch zu dem neben der Einwanderungspolitik drängendsten Thema der deutschen Politik geschrieben: Wie kann die Digitalisierung politisch so gestaltet werden, dass sie den Menschen Nutzen und Deutschland voranbringt?

Schäfer-Gümbel geht davon aus, dass die Politik noch keine befriedigenden Lösungen für den digitalen Wandel gefunden hat, dessen Geschwindigkeit seit der Jahrtausendwende dramatisch zugenommen hat. Er möchte die Politik aus der Beobachterrolle dieses Prozesses herausholen. Dabei vergleicht er die gegenwärtige Situation mit der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts, die tiefgreifende soziale und gesellschaftliche Umwälzungen nach sich gezogen hat. Schäfer-Gümbel sieht in der aktuellen vierten industriellen Revolution, wie er es nennt (nach der Mechanisierung des Handwerks im 19. Jahrhundert, der systematischen Arbeitsteilung seit etwa 1920 und der Einführung von Computern in den 70er Jahren), Folgen auf unsere Gesellschaft zukommen, die umstürzender sein werden als bei allen vorhergehenden Veränderungen. 

Die Notwendigkeit zur Gestaltung dieses tiefgreifenden Prozesses verortet der SPD-Politiker auf sieben Feldern: der Veränderung der Arbeitswelt ("Von der Arbeit zur Aufgabe"), dem Bildungssystem ("Blick über den Tellerrand und Mut zur Lücke"), dem Sozialstaat ("Abgesichert ins 21. Jahrhundert"), dem Datenschutz ("Meine Daten gehören mir"), der Plattformökonomie der Internetkonzerne ("Groß, größer, zu groß"), der Maschinenethik ("Sollen Roboter über unser Leben bestimmen dürfen?) und dem digitalen Staat ("Mehr Effizienz und bessere Services").

Der Autor zeichnet keine Dystopie, sondern er dekliniert - ganz Sozialdemokrat - durch diese sieben Themenfelder seine These von einem aktiven Staat, der in die Prozesse eingreifen müsse: "Die Gestaltung der sozialdigitalen Revolution ist eine Aufgabe für alle gesellschaftlichen Akteure." Insbesondere die SPD sei hier aufgefordert, auch wenn sie, wie er einräumt, noch keine überzeugenden Antworten hat. Der historische Auftrag der Sozialdemokratie laute, aus technologischem Fortschritt gesellschaftlichen Fortschritt zu machen. Sein Buch, so Schäfer-Gümbel, solle hierzu einen Beitrag leisten.

 

 

 

 

Christian Lindner: Schattenjahre. Die Rückkehr des politischen Liberalismus

Klett-Cotta 2017

 

Am 22. September 2013 endete ein Stück bundesdeutscher Geschichte. Bei der Wahl zum Deutschen Bundestag flog die FDP mit 4,8 Prozent aus dem Parlament - die Partei, die die Bundesrepublik in Koalitionen mit CDU oder SPD so lange mitgestaltet hatte wie keine andere. Rund zehn Prozentpunkte Verlust lagen zwischen den Bundestagswahlen 2009 und 2013 und führten zur Implosion der der Partei, die den ersten Bundespräsidenten gestellt hatte und die wegweisende Weichenstellungen für Deutschland eingeleitet und mitgetragen hatte, wie die Ostpolitik Anfang der siebziger Jahre oder die Wende von 1982. Zu viele Fehler hatte sie zuletzt in der Koalition mit Bundeskanzlerin Angela Merkel gemacht. Als Funktionspartei hatte sie ausgedient. Mit der Wahlniederlage der FDP endete 2013 erst so recht die Bonner Republik. Eine Zäsur.

Christian Lindner wurde kurz darauf neuer Parteichef der in Trümmern liegenden Liberalen und baute die Partei in vier mühevollen Jahren in der außerparlamentarischen Opposition wieder neu auf - jahrelang quasi unbeobachtet von der Öffentlichkeit, weil die FDP keinem Journalisten auch nur noch einen Pfifferling mehr wert schien. Zum traditionellen Dreikönigstreffen 2014 kamen nicht einmal mehr die Sternsinger. Von diesen "Schattenjahren" erzählt er in seinem Buch. Es ist eine Mischung aus Rückblick, politischer Analyse, politischer Programmatik, Selbstrechtfertigung, Vergewisserung und Biographie. Lindner lässt den Leser teilhaben am Wiederaufstieg der Freien Demokraten, der mit dem Wiedereinzug in den Bundestag im September 2017 seinen vorläufigen erfolgreichen Abschluss fand. Dazwischen lag ein personeller Neuanfang, ein intensiv geführter Leitbildprozess mitsamt einer inhaltlichen Neuaufstellung und schließlich eine neue visuelle Linie der FDP. Das Buch gewährt Einblicke in die Mechanismen der Politik und des Berliner Politikbetriebs. Lindner schreibt sachlich, er ist weder übermäßig diplomatisch noch wirklich verletzend im Urteil. So können dieses Buch auch jene gut lesen, die Lindner und die FDP auf dem Weg zum gegenwärtig interessantesten Parteiprojekt nicht folgen mochten oder die ihm und der Partei den Erfolg des Phönix aus der Asche neiden.

 

 

 

 

 

Günter Müchler: 1813 - Napoleon, Metternich und das weltgeschichtliche Duell von Dresden

Theiss, 2012

 

Manchmal entscheiden Männer im Zwiegespräch über den Fortgang der Geschichte. Ein solches Gespräch über rund acht Stunden fand am 26. Juni 1813 im Palais Brühl-Marcolini in Dresden zwischen dem Kaiser der Franzosen, Napoleon Bonaparte, und dem Außenminister Österreichs, Fürst Metternich statt. Es ging um nichts weniger als die Zukunft Napoleons und damit die Zukunft ganz Europas. Napoleon war im Jahr zuvor geschlagen aus Russland zurückgekommen, hatte aber im Nu eine neue Armee ausgehoben. Wieder schwankte der Kontinent zwischen Krieg und Frieden. Napoleon kam es darauf an, dass der bisherige Verbündete Österreich bei den bevorstehenden Feldzügen an der Seite Frankreichs blieb. Immerhin war Napoleon mit der Tochter des österreichischen Kaisers Franz I. verheiratet. 

Außenminister Metternich, der Napoleon aus seiner Zeit als Botschafter in Paris kannte, traf den mächtigsten Mann Europas zu einem Tête-à-Tête im besetzten Dresden. Zeugen waren keine dabei, aber es gibt Aufzeichnungen beider Männer. Es muss eine knisternde Spannung zwischen den unterschiedlichen Charakteren geherrscht haben. Hier der diplomatisch geschickte Metternich, da der impulsive und aufbrausende Napoleon. In diesen acht Stunden fokussierte sich Weltgeschichte auf zwei Männer auf engsten Raum, die sich musterten, die miteinander rangen und die sich ein bemerkenswertes Rededuell lieferten. Am Ende fiel Österreich von Frankreich ab, Napoleon erlebte kurz darauf in der Völkerschlacht bei Leipzig ein Fiasko; seine Zeit neigte sich dem Ende entgegen.

Der Historiker und Journalist Günter Müchler, früher Programmdirektor des Deutschlandfunks, zeichnet das Aufeinandertreffen von Napoleon und Metternich aufgrund aller bekannter Aufzeichnungen minutiös nach. Er leitet es her aus einer langen Vorgeschichte, seit Napoleon sich in Russland von den Resten seiner Armee trennte und inkognito durch halb Europa zurück nach Paris reiste. Eine Miniatur der Weltgeschichte, historisch profund dargelegt und mit dem Können des Journalisten spannend erzählt.

 

 

 

 

Graham Greene: Der dritte Mann. Roman

Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016

 

"Der dritte Mann" wurde nicht geschrieben, um gelesen, sondern um gesehen zu werden. Dem britischen Schriftsteller Graham Greene (1904-1991) war es unmöglich, ein Drehbuch ohne vorherige Erzählung zu schreiben. Als er von Produzent Alexander Korda um ein Drehbuch zu einem Krimi gebeten wurde, der im Nachkriegs-Wien spielen sollte, musste er zunächst passen. "Man bringt den ersten Schöpfungsakt nicht in Drehbuchform zustande", meinte Greene. Also schrieb er einen Roman, der dann zu einem Drehbuch umgearbeitet wurde. Herausgekommen ist die Geschichte einer unglücklichen Liebe, die sich als Thriller tarnt. "Der dritte Mann" war als Romanveröffentlichung also zunächst gar nicht vorgesehen, sondern wurde erst 1950, ein Jahr nach dem Film-Welterfolg, herausgebracht Ein ziemlich seltenes Vorgehen in der Literaturgeschichte.

Nun liegt im Paul Zsolnay Verlag eine Neuübersetzung von Nikolaus Stingl vor. Natürlich haben wir alle diese Figuren aus dem Film im Kopf: der die Hälfte der Zeit ziemlich betrunkende Groschenromanautor Holly Martins (Joseph Cotten), die rührend-hinreißende Anna Schmidt (Alida Valli), der ebenso einfühlsame wie gestrenge Major Calloway (Trevor Howard) und - selbstredend! - der diabolische Groß-Schurke Harry Lime (Orson Welles). Wir haben die Bilder des Films im Kopf: das verschneite Wien mit seinen Ruinen, die muffige Amtsstube Calloways, die Wohnung von Lime-Kumpan Kurtz, die Riesenrad-Szene im Prater, die grandiose Verfolgungsjagd in der Wiener Kanalisation. Und doch ist der Roman mehr als der Film, weil er tieferen Einblick gewährt in die Charaktere, ihre Gefühle und in ihre Motivation als es der Film je könnte. Die kühl-elegante Sprache Greenes überträgt Stingl wundervoll ins Deutsche. Geschickt: wie es Greene gelingt, dass der nicht allwissende Erzähler (Calloway) den Leser doch so eng an der Hand führt, dass der Leser immer ein Detail mehr kennt als der Erzähler selbst. Die Levitation, die Lime und Martins in der Riesenrad-Szene über das menschliche Elend erleben, wird erst in der Assoziation des Lesers wirksam. Der Schauspieler Hanns Zischler hat in seinem erhellenden Nachwort zur Neuübersetzung darauf zu Recht hingewiesen. Von daher also: ein großer Neuübersetzungs-Wurf eines Klassikers des 20. Jahrhunderts, den es als Roman ursprünglich gar nicht hatte geben sollen. 

 

 

 

 

Frank Unruh: Trier. Biographie einer römischen Stadt

Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt 2017

 

Zwei Städte streiten sich, welche von ihnen die älteste in Deutschland ist: Trier (Augusta Treverorum) und Kempten (Cambodunum), Trier ist zwar ein Tick älter, wurde aber im Gegensatz zu Kempten nicht von Anfang an als Stadt gegründet, sondern zunächst als Militärlager. Eine amtlich bestätigte "älteste Stadt Deutschlands" gibt es nicht, der Gelehrtenstreit hierüber wird andauern. Auf jeden Fall bekam Trier in römischer Zeit bald eine herausragende Bedeutung als Hauptstadt der Westprovinzen des Reichs, die über die Rolle Kemptens weit hinausreichte. Hier residierte nicht zuletzt Kaiser Konstantin der Große. Nicht weniger als acht Weltkukturerbestätten, sechs davon aus römischer Zeit, bezeugen bis heute die Bedeutung Triers in der Antike.

Die Geschichte Triers von den Anfängen bis zum frühen Mittelalter hat jetzt der am Rheinischen Landesmuseum Trier tätige Althistoriker Frank Unruh vorgelegt. Der reich bebilderte großformatige Band lässt das Herz eines jeden an der antiken Geschichte Triers Interessierten höher schlagen. Unruh stellt die römische Stadt an der Mosel auf Grundlage neuester Forschungen vor. Ihm gelingt dabei das Kunststück, Wissenschaftlichkeit und gute Lesbarkeit zusammen zu bringen. Nicht ohne Hintergedanken lautet der Untertitel seines wertvollen und sicherlich schon bald bibliophil geltenden Buchs "Biographie". Spannend wie eine Lebensgeschichte lässt sich in der Tat vom Entstehen, Werden und Vergehen des römischen Trier erzählen. Dass heute noch so viel des antiken Trier zu sehen ist, ist Ausweis der Bedeutung, die die Stadt einstmals hatte. Wer wissen möchte, wie es dazu kam, ist mit Unruhs Buch bestens bedient.

 

 

 

 

Heinrich Böll: Und sagte kein einziges Wort. Roman

dtv, München 1994

 

Das zerstörte Köln in den ersten Jahren der Nachkriegszeit ist Vorbild des Schauplatzes dieses Romans, mit dem Heinrich Böll 1953 seinen ersten literarischen Erfolg hatte. In 13 Kapiteln schildern die getrennt lebenden Eheleute Fred und Käte Bogner ihre gegenwärtige Situation: Fred, der als Telefonist "bei einer kirchlichen Einrichtung" arbeitet, offensichtlich dem Generalvikariat des Bistums, ist von zu Hause ausgezogen, weil er die Enge des einen Zimmers, in dem die fünfköpfige Familie leben muss, nicht mehr ertragen kann. Ein nachtragender Pfarrer hatte verhindert, dass die Familie nach sechs Jahren Suche endlich in eine eigene Wohnung einziehen kann. Fred trinkt, ist jähzornig und schlägt die Kinder. Käte leidet unter der Bösartigkeit der Vermieterin Frau Franke, die "jeden Tag den Ring des Bischofs küsst". Während Käte Trost im Gebet findet, ist Fred in eine zynische Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Leben abgeglitten. Böll stellt in exakten, zum Teil klischeehaften Detailbeschreibungen das Lebensumfeld dieser am Rande der Existenz lebenden zerrissenen Familie dar, die mehr schlecht als Recht das Bild einer Familie aufrechtzuerhalten versucht - Fred eher noch als Käte, deren Realitätssinn besticht. Leitmotiv des Romans ist der Schmutz, in dem beide leben, Käte im herabrieselnden Putz der Wände ihres Zimmers, Fred im Dreck seiner nächtlichen Unterkünfte in der Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs oder in schmierigen Hotels. Dieses Leitmotiv findet seinen Kontrast im zeitgleich in der Stadt stattfinden Drogistenkongress, bei dem Accessoires des hygienisch-sterilen Lebensstils der jungen Bundesrepublik als Gratisproben angeboten werden. Den Werbeslogan "Vertrauen Sie sich Ihrem Drogisten an" lesen Fred und Käte immer wieder in der Stadt - angesichts Kätes neuerlicher Schwangerschaft blanker Zynismus. Bölls Roman löst eine Beklemmung aus, die mich an Falladas "Kleiner Mann - was nun?" erinnert. Doch während Johannes Pinneberg dort noch gegen seinen sozialen Abstieg kämpft und die Figur etwas Heroisches auszeichnet, hat  Fred Bogner hier diesen Abstieg längst vollendet. Dass er je wieder aus diesem materiellen und emotionalen Elend herausfindet, zu dieser Hoffnung bietet der Roman keinen Anlass.

 

 

 

Peter Wohlleben: Das geheime Leben der Bäume. Was sie fühlen, wie sie kommunizieren - die Entdeckung einer verborgenen Welt

Ludwig-Verlag, München 2015

 

Dieses erste Buch des Eifel-Försters Peter Wohlleben habe ich erst nach seiner zweiten Veröffentlichung "Der Wald. Eine Entdeckungsreise" gelesen. Wohlleben ist mit dem "Geheimen Leben der Bäume" berühmt geworden. Die Lektüre hat mich angenehm überrascht, da das Buch längst nicht so esoterisch daherkommt wie "Der Wald. Eine Entdeckungsreise". Zwar ist der Autor in der Wahl seiner aus dem menschlichen Leben, insbesondere dem Familienleben stammenden Bildern, die er auf Bäume überträgt, auch hier nicht zimperlich. Aber er gleitet (noch) nicht in eine Welt ab, in der Bäume bessere Menschen sind, wie er es in seinem zweiten Buch tut. "Das geheime Leben der Bäume" ist für jeden Naturfreund sehr erhellend und nützlich, bietet es doch eine Fülle an Informationen, die verstehen und würdigen helfen, welches Wunder sich in den Wäldern in unserer Heimat abspielt. Wohlleben gelingt es auf sehr plastische Weise, die komplizierte Ökologie des Waldes zu veranschaulichen. Darin liegt das Geheimnis des Erfolgs dieses Buches: wirklich jeder versteht, was zwischen Boden und Baumkrone passiert. Man braucht keine biologischen Vorkenntnisse und kann sich ganz dem Staunen hingeben, was die Natur da hervorgebracht hat. Wohlleben gebührt das Verdienst, die Forstwissenschaft breiten Bevölkerungskreisen verständlich und einfühlsam nahegebracht zu haben. Das Buch ist in jeder Hinsicht ein Gewinn und sein andauernder Erfolg sehr gut nachvollziehbar.

 

 

 

 

Christel Aretz / Peter Kämmereit (Hg.): Clara Viebig. Ein langes Leben für die Literatur

Rhein-Mosel-Verlag, Alf 2010

 

Es gibt bedauernswerterweise noch keine Biografie über eine der wichtigsten deutschen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts, die zu Unrecht vergessene Clara Viebig. Sie hat den deutschen Gesellschaftsroman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich mitgeprägt, ihre literarischen Studien über die Situation der unteren sozialen Schichten im Berlin des Kaiserreichs und der Weimarer Republik zählen zum Besten, was die deutsche Literatur hervorgebracht hat. Auch einen Namen als Frauen- und Heimatschriftstellerin hat sich diese vielfältige Autorin gemacht. Einst standen die Romane von Clara Viebig im bürgerlichen Bücherschrank neben denen von Theodor Fontane und Heinrich Manns. In den 30er Jahren brach ihre literarische Produktion ab, 1952 starb sie im Alter von 92 Jahren in Berlin. Die Dokumentation zu ihrem 150. Geburtstag aus dem Rhein-Mosel-Verlag ersetzt so gut es geht die fehlende Biografie zu Clara Viebig. Christel Aretz und Peter Kämmereit von der Clara-Viebig-Gesellschaft in Bad Bertrich haben zahlreiche Dokumente, Bilder und Handschriften zusammengetragen und gesichtet und in diesem schönen Sammelband veröffentlich, dessen einzelne Aufsätze das Leben und Werk Clara Liebigs erhellen - zumindest solange, bis endlich eine Biografie die schmerzliche Lücke füllt.

 

 

 

Sandra Konrad: Das beherrschte Geschlecht. Warum sie will, was er will

Piper, München 2018

 

Ein Buch über (vornehmlich weibliche) Sexualität im 21. Jahrhundert. Quintessenz: es bleibt schwierig, auch wenn Frauen im heutzutage Freiheiten haben, von denen ihre Vorfahrinnen nur träumen konnten. Sie sind, wie es heißt, "sexuell befreit". Doch diese Freiheit "kommt mit dem Terror des Ja" daher, wenn sich nämlich Freiheit als Gesetz tarnt und jegliche Abweichung und jeder Widerspruch als uncool gilt, wie die Hamburger Psychologin Sandra Konrad schreibt. So sind Frauen immer noch auch Gefangene. Ihre Gefängniswärter heißen unter anderem: Körperideale, harte Urteile, Leistungsdruck,  Machtspiele. Die #metoo-Kampagne Ende 2017 hat gezeigt, wie kompliziert das Geschlechterverhältnis auch jetzt noch ist.

Die Autorin geht dem Verhältnis von Mann und Frau auf verschiedene Weise auf den Grund: sie folgt zum einen einer historischen Perspektive, etwa der Geschichte der Prostitution und der Pornographie. Und sie wertet zum anderen Interviews qualitativ aus, die sie mit hunderten von Frauen jeden Alters geführt hat. Nicht zuletzt sind es ihre Erfahrungen als Einzel-, Paar- und Familientherapeutin, die in dieses Buch einfließen. Es ist aufschlussreich für diejenigen, um die es geht: Frauen. Aber nicht minder auch für Männer, denn jede Aussage, die die Autorin über Frauen trifft, berührt direkt oder indirekt Männer - sei es, indem für sie die gegenteilige Aussage gilt, die sich der Leser freilich denken muss. Sei es, indem Sandra Konrad ausdrücklich die männliche Perspektive in ihre Ausführungen einbezieht. Die Autorin formuliert am Ende den Eindruck, Frauen sei das Bild, das sie nach außen abgeben wollen, wichtiger als ihre innersten Bedürfnisse. Spätestens da erreicht das Buch auch den Mann. Denn dieser Befund gilt für beide Geschlechter. Hier zu einem neuen Selbstbewusstsein zu kommen, ist die Aufgabe der Stunde, für Frauen wie für Männer. Und zwar ganz im liberalen Sinne von Rousseau, der vor knapp 300 Jahren postulierte: "Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will."

 

 

 

 

Helmut Böttiger: Wir sagen uns Dunkles. Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan

DVA, München 2017

 

Ingeborg Bachmann und Paul Clean waren die beiden großen Empfindsamen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Ihre Herkunft hätte unterschiedlicher nicht sein können. Sie wuchs in behüteten Verhältnissen in Österreich als Tochter eines überzeugten Nationalsozialisten auf. Er stammte aus einer jüdischen Familie in der Bukowina, erlebte den Terror des Dritten Reichs und verlor seine Eltern im Arbeitslager. 1948 lernten sie sich in einem Wimpernschlag ihres Lebens in Wien kennen - eine amour fou, durch die sie unzertrennlich wurden, aber doch nie wirklich zusammen kamen.

Diese Liebesgeschichte ist nicht deshalb so interessant, weil Bachmann und Celan beide unabhängig voneinander hochdekorierte Literaten wurden, ohne die die Literaturgeschichte der jungen Bundesrepublik nicht denkbar wäre. Nein, es sind vielmehr die bislang mehr oder weniger verborgen gebliebenen Wechselwirkungen in ihrem Werk, vor allem in der Lyrik, die diese aufeinander bezogenen Dichter prägten und einander abhängig voneinander machten.

Nach der ersten Begegnung in Wien kamen sie nur mehr oder weniger flüchtig körperlich zusammen. Celan ging nach Paris, heiratete dort in eine angesehene französische Familie ein. Bachmann lebte in Italien und der Schweiz, hatte wechselnde Liebschaften und Partner, der bekannteste war Max Frisch.

In ihren Briefen und ihren Gedichten tauschten sie sich miteinander aus, der eine griff die literarischen Motive des anderen auf, reagierte darauf, sporn sie weiter und bot wiederum dem anderen eine Vorlage. Wie ein unsichtbares literarisches Myzel sind die Werke von Celan und Bachmann verbunden. Es ist dem Literaturhistoriker Helmut Böttiger zu verdanken, diese Hinweise im jeweiligen Werk entdeckt, ausgeleuchtet und interpretiert zu haben. Sein Buch ist an keiner Stelle langweilig, es liest sich ganz im Gegenteil atemlos. Es öffnet die Augen für die Bezogenheit zweier Menschen aufeinander, deren Unglück es war, nicht zusammen zu kommen. Dessen Unglück es aber gewiss auch gewesen wäre, wenn sie zusammengekommen wären. Für eine wirkliche Beziehung waren beide emotional zu empfindsam und literarisch zu stark. So liegt eine große Tragik über ihrer Geschichte. Es nimmt nicht wunder, dass beide, auch wiederum unabhängig voneinander, den Freitod wählten. Celan stürzte sich 1970 vom Pont Mirabeau in Paris in die Seine und ertrank. Drei Jahre später erlag Bachmann den Folgen ihrer Tablettensucht.

 

 

 

Clara Viebig: Unter dem Freiheitsbaum. Roman

Rhein-Mosel-Verlag, Alf 1997

 

1922 erschien dieser historische Roman von Clara Viebig, geschrieben ganz unter dem Eindruck des Endes des Ersten Weltkriegs und der Besetzung von Teilen Deutschlands. Es geht um die Zeit nach 1794, als französische Revolutionstruppen die linksrheinischen Gebiete besetzten und bei der Bevölkerung rasch Ernüchterung über die Freiheit eintrat, die einzuführen die Franzosen vorgaben. In den Wirren jener Zeit mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung und ihrem nicht reibungslos verlaufenden Herrschaftswechsel machten Räuberbanden den Hunsrück und die Eifel unsicher. Durch eine dieser Banden wird Johannes Bückler als Schinderhannes berühmt, ein später auch von Carl Zuckmayer bearbeiteter Stoff. Kopf der berüchtigten Moselbande war der frühere Gardesoldat und Schmied Hans Bast aus dem kleinen Nest Krinkhof, heute ein abgelegener Ortsteil von Hontheim, wo ich wohne. 

Clara Viebig verwebt mit leichter Feder spannend und mit viel Lokalkolorit die verschiedenen Handlungsstränge der Räuberbanden, der französischen Besatzungsmacht und der deutschen Verwaltungsbeamten. Auch wenn sie große Gefühle wie Liebe und Hass, Versöhnung und Verachtung ebenso packend darzustellen versteht wie grausame Verbrechen und die ergreifende Innerlichkeit ihrer Protagonisten, so ist der Roman doch mehr als Unterhaltungsliteratur. Im Hintergrund steht die über den eigentlichen Stoff weit hinausgreifende Frage, wo in wirren Zeiten Schuld beginnt und was eigentlich Freiheit ist. Das Buch erfuhr in den zwanziger Jahren mehrere Auflagen bei der Deutschen Verlagsanstalt. Dennoch wurde es vom Erfolg des Theaterstücks "Schinderhannes" von Zuckmayer überflügelt, das auch verfilmt wurde und schließlich den Roman von Clara Viebig in Vergessenheit geraten ließ. Inzwischen ist er beim Rhein-Mosel-Verlag dankenswerterweise wieder aufgelegt worden.

 

 

 

 

Carola Stern mit Inge Brodersen: Kommen, Sie, Cohn! Friedrich Cohn und Clara Viebig

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006

 

Drei Kilometer entfernt von dem Eifeldorf, in dem ich lebe, liegt Bad Bertrich. Der Kurort mit der einzigen Glaubersalzquelle Deutschlands war jahrzehntelang Urlaubsort der in Trier geborenen Schriftstellerin Clara Viebig und ihres Mannes Friedrich Theodor Cohn, einem Berliner Verleger. Clara Viebig hat ein riesiges Werk an Romanen, Novellen und Theaterstücken hinterlassen. Sie gilt als "deutsche Zolaide", als Schülerin Emile Zolas, in dessen naturalistischen Stil sie überaus erfolgreich schrieb. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Viebig eine weithin bekannte Literatin, ihre Bücher standen in den bürgerlichen Bücherschränken neben denen Theodor Fontanes oder Thomas Manns. Heute ist sie - zu Unrecht - weitgehend vergessen.

Die Publizistin Carola Stern hatte sich in ihrem letzten Buch der Lebensgeschichte von Clara Viebig und ihrem jüdischen Ehemann Friedrich Theodor Cohn angenommen. Es ist eine doppelbiografische Skizze, wegen des Todes von Carola Stern von ihrer Lektorin Inge Brodersen zu Ende geführt. Eine maßgebende Clara-Viebig-Biografie steht noch aus. Stern/Brodersen geben Einblick in das Leben dieser Frau, die - was für eine Tochter eines preußischen Beamten sehr ungewöhnlich war - im Kaiserreich zu schreiben begann und die einen enormen Erfolg hatte. Schon Ende den zwanziger Jahren aber galt sie nur noch als literarische Anstandsdame des untergangenen Kaiserreichs, weil sie einerseits nicht auf der Kitschwelle von Hedwig Courths-Mahler mitschwimmen wollte, andererseits aber auch den modernen zeitgenössischen Stil der Neuen Sachlichkeit, verkörpert von Autorinnen wie Vicki Baum und Irmgard Keun, verpasste. Nach dem Tod ihres Mannes 1936 bat Clara Viebig um Aufnahme in die Reichsschrifttumkammer, aber ihr Ruhm war da schon längst vorüber. Dabei hatte sie wie keine andere in ihren sozialkritischen Berliner Romanen dem Bürgertum die furchtbare Situation in den Weddinger Hinterhöfen nahegebracht, für ein starkes Selbstbewusstsein der Frauen ihrer Zeit gekämpft und durch ihre packenden Eifelromane die Region tief im Westen, die lange Zeit als "preußisch Sibirien" galt, zu einer literarischen Landschaft gemacht. 1952 starb sie in Berlin-Zehlendorf - in der Bundesrepublik vergessen, von der DDR als eine "fortschrittliche" Autorin geehrt.

 

 

 

 

Lesley M.M. Blume: Und alle benehmen sich daneben. Wie Hemingway seine Legende erschuf

dtv, München 2017

 

Die Stellung Ernest Hemingways als Ausnahme-Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts lässt sich nicht verstehen ohne die ungebärde Pariser Literaturszene der 1920er Jahre, in der eine Gruppe von Amerikanern um die berühmte Gertrude Stein um neue literarische Ausdrucksformen für das kulturell gerade erst nach dem Ersten Weltkrieg begonnene 20. Jahrhundert ringt. Die Zäsur des Krieges hatte den schwülstigen Expressionismus beendet, aber noch war das Neue nicht da, das Maßstäbe setzen sollte. Zwei Protagonisten schälten sich heraus, die sich den Wettkampf um die heiß erwarteten neuen literarischen Ausdrucksformen lieferten: F. Scott Fitzgerald und Ernest Hemingway. Am Ende siegte Hemingway, weil er nicht nur einen innovativeren, extrem sachlichen und verkürzten, literarischen Stil schuf, sondern weil er sich auch in für einen Schriftsteller in nie vorher dagewesener Weise ein Image zuzulegen verstand und dies geschickt vermarktete: als todestrunkener, stierkämpfender Aficionado, machohafter Draufgänger, lebenshungriger Expatriate und hartgesottener Trinker. Wieviel Eitelkeit, bewusste Inszenierung und zielorientierte Eigen-PR hinter diesem Bild steckte, das Hemingway zur Kultfigur der Lost Generation machte, das erzählt die amerikanische Journalistin und Autorin Lesley M.M. Blume in diesem ungewöhnlichen Buch. Es ist zugleich (Teil-)Biographie und Epochen- und Sittengemälde. Ihre These ist stark, ihr Ansatz ist kreativ und ihre Schreibe ist so plaudernd und beiläufig, als hätte die Autorin selbst mit am Tisch in den Bars der Rive gauche oder in den Restaurants bei der Stierkampfarena von Pamplona gesessen und Hemingway persönlich über die Schulter geschaut, wie er sich seine eigene Legende erschuf.

 

 

 

Siegfried Lenz: Deutschstunde. Roman

Hoffmann und Campe, Hamburg 2017

 

Hahnöfersand ist eine Elbinsel bei Hamburg, in der sich eine Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche befindet. Siggi Jensen, einer der Insassen, soll 1952 im Deutschunterricht einen Aufsatz über "Die Freuden der Pflicht" schreiben. Innerhalb dieser Rahmenhandlung blickt der Erzähler zurück auf die Ereignisse zwischen 1943 und der unmittelbaren Nachkriegszeit im fiktiven Dorf Rugbüll, dem nördlichsten Polizeiposten Deutschlands. Dort war Siggi Jensens Vater, der Dorfpolizist, den Pflichten seines Amtes rücksichtslos ergeben, als er gegenüber dem berühmten Maler Nansen, einem Jugendfreund, das von den Nazis verhängte Malverbot wegen "Entartung" durchsetzte. Siggi, der diesen erbitterten, aber stillen Machtkampf der beiden Männer Männer als Kind erlebte, wird der zu schreibende Aufsatz zum Versuch, sich selbst und seine Zeit zu begreifen. Der sich über Monate ziehende Aufsatz ist auch eine Auseinandersetzung zwischen einem jungen Mann und seinem Vater, die Loslösung von einer übermächtigen Figur und das Finden eines eigenen Weges.

"Deutschstunde" ist Lenz' bekanntestes Werk und wurde einer der größten Verkaufserfolge des deutschen Buchhandels. Der Roman gehört heute zum Kanon zeitgenössischer Literatur. Er greift eines der zentralen Themen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts auf: blinder Gehorsam und unreflektierte Pflichterfüllung als Haltungen, die  in den Abgrund führen. Lenz erzählt in dem 1968 erschienenen Roman der ihm eigenen Weise, die mich immer wieder anspricht: weit ausholend, breit beschreibend, mit Liebe zum Detail. Seine Sprache beruhigt durch Verlässlichkeit und scheut verwörtlichte Hysterien, wie Peter Härtling zu Recht feststellte. Dieser ruhige Schreibfluss schwillt zu einem Strom von fast 600 Seiten an. Auf weiteren 150 Seiten finden sich in diesem Band 7 der neuen und maßgeblichen "Hamburger Ausgabe" der Werke Lenz' exzellent recherchierte Kommentare und Materialien.

 

 

 

Christian Peter Dogs (mit Nina Poelchau): Gefühle sind keine Krankheit. Warum wir sie brauchen und wie sie uns zufrieden machen

Ullstein, Berlin 2017

 

Niemand ist gern traurig oder eifersüchtig. Niemand spürt gern eine hemmungslose Wut im Bauch. Niemand möchte in das Loch stürzen, wenn er verlassen worden ist oder unter mangelnder Anerkennung leidet. Und doch sind all diese Gefühle normal, ja sie sind sogar gesund. Christian Peter Dogs ist Psychiater und Psychotherapeut, der sich der menschlichen Emotionen einmal von einer ganz anderen Warte aus annimmt. Ich bin auf ihn und sein Buch durch ein Interview in der Zeitschrift "Stern" gekommen, in dem er so plausibel und emphatisch über Gefühle - gerade auch die sogenannten negativen - sprach, dass ich neugierig geworden bin und mehr lesen wollte von ihm.

Wo Peter Schmidbauer in seinem aktuellen Buch "Raubbau an der Seele" (siehe weiter unten) die psychische Situation der Gesellschaft insgesamt kritisch in den Blick nimmt, geht es Dogs um den Einzelnen. Er hält nichts davon, Gefühle zu pathologischeren, sondern rät dazu, sie wahrzunehmen als etwas zum Menschen Gehöriges und ihnen einen positiven Wert beizumessen. Es ist ein Plädoyer für Gefühle und als solches eine faszinierende Mischung aus psychologischem Sachbuch, Ratgeber, Kritik am psychosomatischen Medizinkomplex in Deutschland und (das ist für einen Therapeuten selten!) Autobiographie.

Dogs ist von seinem Vater (paradoxerweise selbst Psychotherapeut...) jahrelang schwerst misshandelt worden und erlebte als Kind und Jugendlicher die Hölle. Dass aus ihm einmal ein erfolgreicher und mitfühlender Arzt werden würde, war ihm nicht in die Wiege gelegt worden. Er hatte das Glück, manchen Förderer und vor allem eine zähe psychische Konstitution, verbunden mit einem enormen Willen, zu haben. Die schwere Lebensgeschichte prägte ein Leben lang seine Arbeit als einfühlsamer Therapeut ganz nahe dran an seinem Gegenüber und vielfach auch ungewöhnliche Methoden erfolgreich  ausprobierend. Mehr als 30.000 Patienten hat er in seinem Leben behandelt - sein Buch ist die Quintessenz dieses Lebens und seiner Beschäftigung mit den ihm anvertrauten Menschen. Ein Buch in nur vier Tagen am Stück durchzulesen - das sagt alles aus über die Freude und den Gewinn, die ich an und mit diesem Titel hatte. Sehr empfehlenswert!

 

 

 

John Williams: Stoner. Roman

dtv, München 2017

 

Ich kann mich nicht daran erinnern, einen Roman gelesen zu haben, der mich derart tief bewegt hat. Die Lebensgeschichte einen Anglistik-Professors an der Universität von Missouri in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Ein Leben geprägt von Gelehrsamkeit, Bescheidenheit und der Kälte einer Ehe, in der es keine Liebe gibt, nur Vorwürfe - und die auch noch unausgesprochen. Die einzige Frau, die Stoner wirklich die körperliche und transzendente Liebe gab, die er ein Leben lang so sehnlich suchte, war eine Studentin. Eine unmögliche Beziehung, die scheitern musste. Ansonsten: die Intrigen der Uni, neidische Kollegen, faule Studenten, die Lust des Wissens, die Freude am Forschen. Eine missratene Tochter, die als Kind das Glück dieses Mannes war, später Alkoholikerin wurde. Und am Ende: Krebs mit Mitte 60, Siechtum, eine allumfassende Einsamkeit und Trostlosigkeit im Sterben.

John Williams ist einer der großen Unbekannten der amerikanischen Literatur. Er geht unter die Haut. "Ein zutiefst menschliches Buch über einen menschlichen Mann", schrieb Elke Heidenreich. Für mich ist es das Literatur gewordene berühmteste amerikanische Gemälde, "American Gothic" von Grant Wood, das mich in seiner Beziehungskälte auch immer wieder schaudern lässt.

 

 

 

Wolfgang Schmidbauer: Raubbau an der Seele. Psychogramm einer überforderten Gesellschaft

Oekom-Verlag, München 2017

 

Die Tagesmenge an Antidepressiva, die in Deutschland verschrieben wird, hat sich zwischen 2000 und 2013 verdreifacht. Die Gesetze der Leistungsgesellschaft bringen immer mehr Menschen an ihre Grenzen; Selbstausbeutung und Selbstoptimierung verstärken sich gegenseitig negativ und führen zu Depressionen und ihren Vorformen wie Burn-out oder Mobbing. Dabei spaltet sich die Gesellschaft immer mehr zwischen den Voranschreitenden und den Zurückbleibenden auf. Doch kein Voranschreitender ist dafür gefeit, plötzlich zu den Zurückbleibenden zu gehören. Die Angst zu versagen zerstört die Seelen.

Der Psychotherapeut Wolfgang Schmidbauer geht in seinem neuen Buch dieser Dauerüberforderung des homo consumens, des konsumierenden Menschen, nach und stellt fest, das die so notwendige Regeneration heute keine Chance mehr hat. Wir leben von unserem seelischen Kapital und verstehen es nicht mehr, neues aufzubauen. Daraus erwächst ein Großteil unserer Probleme. Statt Muße werden Medikamente verschrieben, normale Stimmungsschwankungen werden pathologisiert.

Schmidbauer plädiert für eine Rückkehr zu alten Einsichten, um mit den Anforderungen unserer Zeit zurechtzukommen: Befriedigende Beziehungen zu einem Partner, zur Familie und Freunden festigen das Selbstgefühl besser als Spitzengehalt und Dienstwagen. Auch die Traurigkeit hat ihren lebensgeschichtlichen Sinn. Auch gesunde Menschen sind nicht frei von täglich etwa einem halben Dutzend Missempfindungen.

Schmidtbauers Schlüsselbegriff ist in die diesem Zusammenhang die manische Abwehr. Darunter versteht er ein Verhalten, bei dem der Betroffene so tut, als hätte er gar kein Problem. Dieses Leugnen der Realität ist für Schmidbauer neben der steigenden Zahl an verordneten Psychopharmaka Ausdruck der seelischen Krise der Gegenwart.

Zu kurz kommt in dem Buch das segensreiche Wirken der nicht-medikamentösen Psychotherapie. Wo Menschen heutzutage in der Familie und im Freundeskreis unter einem ähnlichen Leistungsdruck stehen wie im Beruf, kommt das aufbauende, wohltuende zwischenmenschliche Gespräch zu kurz. Psychotherapeuten und Heilpraktiker für Psychotherapie leisten durch wertschätzendes Zuhören und helfende Hinweise zur Lebensgestaltung ihrer Patienten einen großen Beitrag, um die Folgen des Raubbaus an der Seele nicht noch größer werden zu lassen.

 

 

 

 

Novalis: Hymnen an die Nacht

in: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 1

Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999

 

"Hymnen an die Nacht" ist Teil eines 1800 erschienenen Gedichtzyklus' Friedrich von Hardenbergs (1772-1801), der sich Novalis nannte. In der Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft sind die beiden Fassungen, in denen dieses Werk existiert, auf gegenüberliegenden Seiten abgedruckt: die handschriftliche Vers-Fassung links, die Druckfassung in rhythmisierter Prosa rechts. Novalis beschreibt in den sechs Hymnen aus der Ich-Perspektive die Entwicklung vom Leben in der glücklichen Phase des irdischen Lichts über die Phase der schmerzhaften Entfremdung bis zur Befreiung in der ewigen Nacht. Novalis verwebt dabei Erdachtes mit Autobiografischem, insbesondere versucht er den Tod seiner gerade 15-Jährigen Verlobten Sophie von Kühn im März 1797 zu verarbeiten. Während die Nacht bislang in Kulturgeschichte, Christentum und Literatur negativ konnotiert war, gewinnt ihr Novalis Positives ab und bereitet damit der schwärmerischen Nachtverehrung der Romantik den Boden. Die "Hymnen" gelten als der lyrische Höhepunkt in Novalis' kurzem Schaffen und als das wohl bedeutendste Werk der Frühromantik. Mich hat es während der Arbeit an meinem Buch über das Lied "Stille Nacht, heilige Nacht" angeregt, mich mit dem Motiv der Nacht zu beschäftigen. Hardenbergs Konzept der Nacht dürfte auch den Textdichter von "Stille Nacht", Joseph Mohr, beeinflusst haben.

 

 

 

 

Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen

rororo, Reinbek b. Hamburg 2016

 

Ein 15-jähriger ungarischer Jude erlebt Arbeitsdienst, Auschwitz und Buchenwald. Kertész gelingt mit dem "Roman eines Schicksallosen" etwas in der Literatur über das Dritte Reich Einmaliges: ohne zu deuten, ohne zu werten bleibt er der Perspektive eines staunenden Jugendlichen über die Ungeheuerlichkeiten der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie treu und steigt mit ihm zu jener Grenze hinab, wo das nackte Leben zu etwas banalem wird. Das Grauen wird nicht nur ohne Empörung beschrieben, sondern sogar auch noch mit Verständnis für die Folgerichtigkeit jeder einzelnen Maßnahme. Ich frage mich, woher Kertész, der selbst als 14-Jähriger Nach Auschwitz und Buchenwald deportiert wurde, die Kraft nahm, seine eigenen Erfahrungen in einer derart den eigenen Gefühlen entgegen stehenden Perspektive zu beschrieben. Der "Roman eines Schicksallosen" konnte erst 1975 in Ungarn erscheinen. 2002 erhielt Kertész den Literaturnobelpreis, 2016 ist er in seiner Heimatstadt Budapest gestorben.

 

 

 

Ernest Hemingway: Fiesta

in: Gesammelte Werke 1

Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1977

 

Im Paris der 1920er Jahre arbeitete Ernest Hemingway an seinem ersten Roman, der ihm den Durchbruch bringen sollte. Nach mehreren veröffentlichten Kurzgeschichten erschien 1926 "The Sun also rises" (in der deutschen Übersetzung: "Fiesta"), der auf Reisen mit seinem Pariser Kreis und seiner Frau Hadley nach Pamplona zum Stierlauf und zum Stierkampf zurückgeht - der nach dem Ersten Weltkrieg "verlorenen Generation", wie sie von Hemingways Pariser Förderin Gertrude Stein etikettiert wurde. "Fiesta" ist eines der bedeutendsten Werke Hemingways und ein Meilenstein der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts. Hemingway setzt hier eindrucksvoll seine poetologische "Eisberg"-Theorie um, nach der der Autor nur die Dinge anzudeuten braucht und der Leser sich den größten Teil denkt und somit Teil der kreativen Arbeit des Schriftstellers wird. Außerdem überzeugte Hemingway nun auch in der großen Form des Romans mit seinem sparsamen  Stil und der über weite Strecken umkommentierten Wiedergabe von Dialogen, die ihn auszeichnete. 

 

 

 

Ernest Hemingway: Schnee auf dem Kilimandscharo

in: Gesammelte Werke 6

Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1977

 

Wer selbst schreibt, sollte immer mal wieder zu Hemingway greifen, jenem Groß-Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, dessen Stil zum Goldstandard für Generationen von Autoren und Journalisten geworden ist. Die Kurzgeschichte "Schnee auf dem Kilimandscharo" ist 1936 zunächst im "Esquire" veröffentlicht worden, zwei Jahre später in der Anthologie "The Fifhth Column and the First Forty-Nine Stories". Es ist wohl Hemingways erzähltechnisch und stilistisch reifste Story. Der Schriftsteller Harry liegt in der ostafrikanischen Wildnis im Sterben; er hat sich bei der Jagd eine Verletzung zugezogen, durch den Wundbrand stirbt sein Bein ab, er wird ihn am Ende umbringen. In Rückblenden kommen Harry Geschehnisse in den Sinn, die für sein leben so wichtig waren, dass er immer wieder zögerte, sie aufzuschreiben. Nun ist es jedoch zu spät. Ehe die Hilfe aus der Luft das Lager erreicht, ist Harry tot.

Hemingways Schreibe zeichnet sich durch scheinbare Objektivität aus. Adjektive sind ihm zuwider. Das Reale der Welt und das Reale der Gedankenwelt seiner Protagonisten sind der Stoff, aus dem seine Geschichten sind. Knapp und präzise, zielsicher dem Höhepunkt entgegenstrebend ist sein Stil.Die Lektüre von Hemingway: immer wieder hilfreich gegen Wortgeschwurbel. 

 

 

 

Peter Sloterdijk: Nach Gott

Suhrkamp, Berlin 2017

 

Wenn ein Philosoph nach Gott fragt, wird es interessant. Vor allem, wenn es sich um einen so wirkungsmächtigen Philosophen wie Peter Sloterdijk handelt, ein bekennender Atheist und daher nicht dem Verdacht unterliegend, auf der intellektuellen Payroll einer Religion zu stehen. Aber Philosophie und Theologie haben sich in den vergangenen 2000 Jahren mehr als einmal aufs innigste berührt. Christliche Theologie ohne Philosophie ist schlechterdings undenkbar. Und so macht der Gegenstand in Sloterdijks neuestem Buch, das er sich selbst zum 70. Geburtstag geschenkt hat, neugierig.

Der Autor widmet sich einer theologischen Aufklärung über die Theologie von der Zeit der Welterschaffungsmythen durch einen Gott oder gleich deren mehrerer bis hin zu den zeitgenössischen Träumereien über womöglich gottähnliche künstliche Intelligenz. Gott ist für Sloterdijk eine Ordnungsmacht, die vor allem eines in die Welt gebracht hat: Unglück. Nicht nur durch die Berufung von Kriegern aller Jahrtausende auf ihren Gott, sondern auch durch (meist unerfüllbare) moralische Forderungen. Eine besondere intellektuelle Freude ist sein Kapitel über die "Jesus-Zäsur", also über das Christentum. Die Evangelien werden als "Konfabulationen" entlarvt, an denen kaum ein Wort wahr sein kann, Jesus als ein "Bastard Gottes" bezeichnet, der aus der Fiktionsarbeit derer entstanden ist, die ihm nachfolgten. Das ist nicht neu und auch nicht originell, aber in der Wortgewalt und der Logik, in der Sloterdijk seine Kritik am christlichen Mythos darlegt, ist die Lektüre doch ein genussvolles intellektuelles Abenteuer. Immerhin hält er dem Christentum eines zu Gute: durch die Taufe haben die Christen eine über Abstammung, Familie, Stand, Reichtum, persönlichen Eigenschaften und weltlichen Zwängen hinausgehende transzendente Freiheit erlangt, die wohl das gewaltigste Verdienst dieser Religion ist, deren Anhänger daran glauben, dass Gott seinen Sohn in die Welt geschickt hat, der mit jedem Einzelnen seiner Anhänger im Geiste mitgeht. 

 

 

 

Anthony Beevor: Die Ardennen-Offensive 1944. Hitlers letzte Schlacht im Westen

C. Bertelsmann, München 2016

 

Wäre der Roten Armee der Durchmarsch von der Weichsel an die Oder in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs so rasch gelungen, wenn Hitler nicht rund 200.000 Soldaten um den Jahreswechsel 1944/45 im Westen gegen Briten und Amerikaner eingesetzt hätte? Die Operation mit dem Decknamen "Wacht am Rhein" ging als Ardennen-Offensive in die Militärgeschichte ein, führte kurze Zeit zu überraschenden deutschen Geländegewinnen, aber nicht zur vorgesehenen Besetzung Antwerpens, um den Nachschub der westalliierten Truppen zu unterbinden. Für die Amerikaner wurde die von ihnen "Battle of the Bulge" genannte Operation zur größten und zur blutigsten Landschlacht des Zweiten Weltkriegs. Der britische Militärhistoriker Anthony Beevor reißt die Eingangsfrage lediglich an, er beantwortet sie nicht. Überhaupt bietet seine 475 Seiten umfassende Untersuchung keine tief gehende militärische oder gar politische Analyse der Geschehnisse vom 16. Dezember 1944 bis 21. Januar 1945. Dafür zeichnet er mit großer Akribie einzelne Truppenbewegungen nach, geht verschwenderisch mit Namen von Kommandeuren, Verbänden und Einheiten und Ortsbezeichnungen um. Ja, er verliert sich in einer Lawine von Fakten und Details, und mit ihm verliert der Leser die Orientierung. Hier wäre weniger mehr gewesen: weniger minutiöse Details, mehr Blick auf das große Ganze. So verschenkt er sein Thema, denn die Ardennen-Offensive ist eines der erschreckendsten und düstersten Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, kam doch mit dieser Schlacht die Grausamkeit der Ostfront im Westen an. Beevor konzentriert sich bei den Quellen zum größten Teil auf britische und amerikanische Archive. Wichtigste Quelle für die deutsche Seite scheinen jene geheimen Abhörprotokolle zu sein, die Briten und Amerikaner von Gesprächen deutscher Kriegsgefangener anfertigten. Leider listet der Anhang zwar die verwendete Literatur auf, nicht jedoch systematisch die benutzten Archive und Archivalien. Dass Beevor im für dieses Thema so außerordentlich wichtigen Militärarchiv des Bundesarchivs geforscht hätte, wird nicht deutlich. Dies unterlassen zu haben, würde aber den Wert der Untersuchung deutlich mindern - jedenfalls, wenn man sie als Gesamtdarstellung der Ardennen-Schlacht angelegt hat, wie es der Autor getan hat.

 

 

 

Friedrich Hebbel: Meistererzählungen

dtv, München 2013

 

Im Juni 2017, bei einem Besuch an der schleswig-holsteinischen Westküste, habe ich das Hebbel-Haus in Wesselburen besucht, in dem der Dramatiker eine Zeit lang gewohnt hat. Dies war der Ausgangspunkt, sich mit Friedrich Hebel näher zu beschäftigen, der mit seiner Dramatisierung des Nibelungen-Stoffes das deutsche Nationalepos neben Richard Wagner mit nachhaltigstem Erfolg auf die Bühne gebracht hat. Hebbels Prosa ging den dramatischen Stoffen oftmals voraus. In dem von der Hebbel-Forscherin Monika Ritzer herausgegeben Sammelband mit Kurzgeschichten, Novellen und einem Kurzroman dringt immer wieder Hebbels Kernfrage durch: Sind wir Produkte der Umstände oder prägen wir handelnd unser Leben? Da ist in der Novelle "Anna" die Magd, die aufrecht den Zudringlichkeiten ihres Herrn widersteht und am Ende ein ganzes Dorf abfackelt. In "Eine Nacht im Jägerhause" sind es zwei Studenten, die sich einbilden, vom düster wirkenden Jäger ermordet zu werden, der sich aber am nächsten Morgen als friedliebender Mensch herausstellt und sie als Gefangene ihrer eigenen wilden Fantasie. Oder "Barbier Zitterlein", der seine Tochter auf krankhafte Weise für sich behalten will und daran zugrunde geht. Hebbel zeigt die Brüche, Widersprüche und das Schockierende der menschlichen Existenz in präzisen und konzisen Worten, mal als provokative Komik, mal als kalte Sachlichkeit. In jeden Fall sind es lesenswerte Kabinettstückchen am Übergang von der Romantik zum literarischen Realismus.

 

 

 

Bernd und Gabriele Steinicke / Bruno P. Kremer: Magie der Vulkaneifel. Unterwegs zu Maaren, Kratern und Geysiren

Theiss, Darmstadt 2015

 

Seit ich in der Eifel wohne, fühle ich eine wachsende innere Verbundenheit zu dieser vielfältigen, mal kargen, mal reichen Landschaft, mit ihren weiten Hochebenen und den tief eingeschnittenen Tälern, mit ihren Maaren und den wildreichen Wäldern. Gut, sich mit der Geologie dieser einsamen Region im tiefen Westen Deutschlands näher zu beschäftigen. Der Chemiker und Geowissenschaftler Bruno P. Kremer und die beiden Landschaftsfotografen Bernd und Gabriele Steinicke haben einen großformatigen Band vorgelegt, der schon allein wegen seiner atemberaubend schönen Naturaufnahmen lohnenswert ist. Er gibt durch die gut geschriebenen Texte zu den erdgeschichtlichen und geologischen Phänomenen, von denen die Eifel ja mehr als andere Regionen Deutschlands zu bieten hat, aber auch einen formidablen Einblick in die Besonderheiten auf und unter der Erdoberfläche zwischen Nürburg und Andernach, zwischen der Ahr im Norden und der Nette im Süden. Das i-Tüpfelchen dieses schönen Buches wären noch zwei, drei (oder gern auch mehr) ansprechende Landkarten gewesen, die diese Bezeichnung verdienen, um die vielen im Text erwähnten und im Bild gezeigten geologischen Stätten zuordnen zu können. Die beiden sehr groben und schematischen Skizzen im Einband erfüllen diesen Zweck leider nicht.

 

 

 

 

Willi Achten: Nichts bleibt. Roman

Pendragon, Bielefeld 2017

 

Das Buch ist eine Empfehlung des Literaturmagazins im Deutschlandfunk. Es wurde in einer Themensendung zu Krimis vorgestellt, allerdings war sich der Rezensent bewusst, dass man den Roman als Krimi lesen kann, aber nicht lesen muss. Er ist viel mehr. Es ist die Geschichte einer sorgfältig inszenierten Vergeltung. Und - noch weiter gefasst - die Geschichte von Verlust, ja von vielen Verlusten. Der Kriegsfotograf Franz Mathys, der in den Krisenherden der Welt zu Hause war und die schlimmsten Dinge erlebt hat, die Menschen Menschen antun können, verliert die Überzeugung vom Sinn seines Berufs. Er zieht sich in ein abgelegenes Waldhaus (in der Eifel?) zurück. Er verliert seinen Sohn und er verliert seinen Vater, der von durchgeknallten Wilderern erst pflegebedürftig zusammengeprügelt wird und später an den Folgen des brutalen Überfalls stirbt. Auf der Jagd nach den Wilderern, die das grausame Töten von Töten als Performance mit künstlerischem Anspruch verkaufen ("Animal Death! Thrill Art!"), verliert Mathys auch seine gerade erst in sein Leben getretene Freundin; denn er kann seinen überströmenden Hass auf die Täter immer schlechter kontrollieren, weswegen sie ihn verlässt. Am Ende bleibt - nichts, außer Rache. In einem fulminanten Showdown im Tiroler Hochgebirge führt Mathys die Wilderer dem Schicksal zu, das er für sie bestimmt hat. Der Roman liest sich atemlos, er ist düster und traurig und voller Spannung, und der Erzähler wird zum Chronisten einer grausamen Welt. Willi Achten arbeitet als Sonderpädagoge; er schreibt seit den neunziger Jahren. Für seine Gedichte bekam er den Düsseldorfer Lyrikpreis (2. Platz), außerdem wurde er mit dem Diotima-Literaturpreis und dem Dormagener Federkiel ausgezeichnet.

 

 

 

 

Ingeborg Middendorf: Die Missachtung. Vom Süchtigsein und Nüchternwerden

Attempto, Tübingen 1995

 

Bei einer Lesung aus meiner Fallada-Biografie in der Buchhandlung "Der Zauberberg" in Berlin im März 2017 lernte ich die Schriftstellerin Ingeborg Middendorf kennen, mit der sich in der Folgezeit ein Mailaustausch entwickelte. Eine beeindruckende Frau mit einem Lebenslauf, der sie die Höhen des Lebens, aber auch die Tiefen bis in alle Bitterkeit hat ausloten lassen. Wir kamen über ihre schriftstellerische Arbeit und meine biografischen Forschungen zu Fallada ins Gespräch, ich besorgte mir bei Amazon den längst vergriffenen Roman "Die Missachtung" von ihr - womöglich ein Schlüsselwerk zum Verständnis ihres Lebens und ihres Werks. Doch ist es überhaupt ein Roman? Das Autobiografische überwiegt, womöglich ist es einzig und allein ein Erfahrungsbericht - und der hat es in sich! Ingeborg Middendorf hat ein erschütterndes Zeugnis einer Beziehungssucht abgelegt: Dokument einer reziproken seelischen Vernichtung zweier Menschen, die jede Achtung voreinander verlieren, in der Gewalt, Verachtung, Geringschätzung und glühender Hass die Hilflosigkeit der Suche nach Geborgenheit, Halt, Zärtlichkeit und Liebe ins Unermessliche steigern. Die erniedrigte Frau, aus deren Perspektive dieser hektische, kurzatmige, sich an sich selbst verschluckende Roman geschrieben ist, erkennt in der zerstörerischen Beziehung zu ihrem Partner die destruktive Beziehung zu ihrer verstorbenen alkoholkranken Mutter wieder, die früh Witwe geworden war und mit dem Leben nicht fertig wurde. Das Leben der jungen Frau ist ein einziges Sehnen nach Geborgenheit und Anerkennung. Es scheitert zunächst an der erschütternden inneren Abhängigkeit zu Bezugspersonen, die eine Selbstzerstörung bewirkt, welche für den Leser unfassbar ist. Ohne den Lichtblick, mit dem das Buch endet, wäre es nicht zu ertragen. Nicht ohne Grund haben ein theologischer Ethiker und ein Psychiater das Vor- und das Nachwort zu diesem aufwühlenden Stück Literatur verfasst. Letzterer schreibt: "Trotz Gewalt und Brutalität ist das Buch voller Poesie und Hoffnung. Es wird ein Weg aus dieser Beziehungshölle aufgewiesen. Wenn die Autorin einen Ausweg für sich gefunden hat, dann ist er auch für andere Betroffene möglich."

 

 

 

 

Richard Rohr: Reifes Leben. Eine spirituelle Reise

Herder, Freiburg 2015

 

Das Buch fiel mir bei einer Tagung im Karmeliten-Kloster Springiersbach im dortigen Klosterladen in die Hände. Richard Rohr kenne ich als den "amerikanischen Anselm Grün" - Franziskaner-Pater und Autor zahlloser Bücher zur christlichen Spiritualität, nicht alle sind von großem Gewinn. Dieses Buch jedoch hat mich sehr angesprochen, weil es mich in einem Moment erreicht hat, in dem Dinge in der zweiten Lebenshälfte größere Bedeutung bekommen als früher: Kontemplation, Freude an den kleinen Dingen, ein gutes Miteinander mit den Menschen, Qualität von Beziehungen, inneres Wachstum.

Rohr veranschaulicht die zwei Phasen des Lebens im Bild eines Gefäßes: in der ersten Hälfte sind wir bemüht, das Gefäß, das unser Leben aufnehmen soll, überhaupt erst zu schaffen: indem wir eine Ausbildung machen, es im Beruf zu etwas bringen, materiell aus- und vorsorgen, eine Familie gründen, unsere Persönlichkeit entwickeln, unsere Talente und Macken entdecken. In der zweiten Hälfte aber gilt es, dieses Gefäß zu füllen mit einem liebenden Blick auf die Schöpfung, mit Klugheit im Handeln, mit Abwägung im Urteil, mit Gelassenheit im Handeln - kurz: mit Weisheit.

Diese zweite Phase beginnt bei manchen Menschen schon in den 40ern (selten früher), bei manchen erst in den 60ern oder 70ern, bei vielen aber - das bedauert Rohr sehr - gar nicht. Narzissmus, Macht- und Gewinnstreben, Selbstverleugnung und Selbstausbeutung, ein idealisiertes Ich, Infantilität, ein unreifes Gefühlsleben bestimmen manche Menschen auch in der zeitlich zweiten Hälfte ihres Lebens. Sie werden nie "reif" in dem Sinne, wie die eigenen Möglichkeiten es an sich vorsehen. Rohrs Buch hat mir selbst geholfen zu verstehen, welche wundersame und kraftvolle Veränderung - mehr noch: Entwicklung - sich in mir seit einiger Zeit abspielt. Ich habe es mit großem Gewinn um meinen 52. Geburtstag herum gelesen.

 

 

 

 

Peter Wohlleben: Der Wald. Eine Entdeckungsreise

Heyne, München 2016

 

Peter Wohlleben ist der wohl bekannteste Förster Deutschlands. Seine Bücher "Das geheime Leben der Bäume" und "Das Seelenleben der Tiere" sind Bestseller. Auch in dem Buch "Der Wald" breitet er seine an Herz und Gefühl appellierende Philosophie einer naturnahen Forstwirtschaft aus - und schießt dabei weit übers Ziel hinaus. Wohlleben anthropomorphisiert Bäume, sieht in ihnen geradezu menschliche Wesen und etikettiert sie mit menschlichen Begriffen, die dem Gegenstand seiner Betrachtungen nicht gerecht werden. Den Tiefpunkt dieser romantisierenden Sichtweise erreicht das Buch auf Seite 218: "Denn wird mit der Motorsäge über die Jahre ein Baum nach dem anderen gefällt, so werden Kameraden getrennt, Kindern ihren Eltern weggenommen und das Kleinklima auf den Kopf gestellt." Fehlte nur noch, dass Wohlleben Förster und Waldarbeiter als Mörder bezeichnet, die Bäume umbringen. Weniger wäre hier mehr gewesen.

Zu Recht weist der Autor auf Mängel in der modernen Forstwirtschaft und auf Verbesserungsmöglichkeiten hin (Mischwälder statt Fichten-Monokulturen, einheimische Pflanzen vor importierten Arten usw.). Jedoch geht er vom Idealzustand des mitteleuropäischen Buchen-Urwalds vor der Besiedelung durch den Menschen aus. Wer diesem Zustand nachtrauert wird mit jeglicher Forstwirtschaft in einem hochindustrialisierten und dicht besiedelten Land hadern müssen. Der Mensch ist nun mal da, so sehr Wohlleben das auch bedauern mag.

Und noch eines blendet Wohlleben in seiner Kritik an den aktuellen Waldbaumethoden aus: jeder Baum, der für die Möbelindustrie, als Bau- oder auch nur als Brennholz nicht in Deutschland geschlagen wird - mit seinen strengen Waldbau- und Naturschutzgesetzen - kommt als Import aus womöglich zweifelhafter Herkunft zu uns. Denn so berechtigt manche Kritik Wohllebens auch ist: kaum irgendwo in der Welt, wird so viel ökologische Rücksicht genommen im Waldbau wie in Deutschland. Nicht in Fernost und schon gar nicht in tropischen Ländern, wo tagtäglich Quadratkilometer um Quadratkilometer Wald vernichtet wird.

 

 

 

 

Hermann Hesse: Kinderseele. Erzählung

in: Hermann Hesse: Die Fremdenstadt im Süden. Ausgewählte Erzählungen

Diogenes, Zürich 1977

 

Von einem lieben Menschen aufmerksam gemacht worden und angelesen, habe ich die Erzählung "Kinderseele" in einem Sammelband von Hesse-Geschichten im Bücherregal gefunden und nun zu Ende gelesen. Das wurde zu einer Wiederentdeckung Hesses, den ich - wie wohl ganze Generationen von Jugendlichen - als Pubertierender als den für mich passenden Schriftsteller in jener Zeit empfunden habe, der aber später von anderen, spannenderen Autoren verdrängt wurde. Sein Gedicht "Stufen" ("Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne...") hat mich jedoch auf jedem meiner Lebensschritte von der Enge ins Weite begleitet. Wenn ich heute in Hesses Werke schaue, entdecke ich anderes als damals als Jugendlicher: nicht mehr das Existenziell-Einsam-Sehnsüchtige eines "Siddharta" oder eines "Steppenwolf", sondern die Altersweisheit des gereiften Autors mit seinem liebevollen Blick aufs Leben, den ich je mehr teile, je älter ich selbst werde. In "Kinderseele" schaut Hesse zurück auf ein Erlebnis in seiner frühen Jugend, als er dem Vater aus dessen Arbeitszimmer - banaler könnte es nicht sein - Feigen stahl, und ihn daraufhin Gewissensbisse in einer grausam übersteigerten Art und Weise quälten, wie sie wohl nur in der Muffigkeit eines pietistischen Elternhauses im ausgehenden 19. Jahrhunderts auftreten konnten. Die vermeintlich schlimme Tat und die ihr folgende innere Qual, letztlich auch die Strafe des überstrengen Vaters - ein Sonntagnachmittag auf dem Dachboden weggesperrt - stehen in keinem Verhältnis zueinander. Hesse geht dieser Qual seiner frühen Jahre in der Erzählung mit tiefem Blick in die Psychologie und die Verhältnisse nach. Der Vater hatte ihm nach Absitzen der Strafe zwar die Tat verziehen. Der Sohn dem Vater aber seine fehlende Milde und Barmherzigkeit nicht. Ein vernichtendes Resümee einer Sohn-Vater-Beziehung im Brennglas einer einzigen, prägenden Kindheitserinnerung.

 

 

 

 

Hugo M. Enomiya-Lassalle: Zen unter Christen. Östliche Meditation und christliche Spiritualität

Topos, Kevelaer o.J.

 

Der Autor war Jesuit, der einen großen Teil seines Lebens in Japan verbracht hat und durch sein jahrzehntelanges Wirken Christentum und Buddhismus einander näher gebracht hat. Als Zen-praktizierender Christ war ich besonders neugierig auf Lassalles Einschätzung, wie die westliche Religion zu dieser östlichen Meditation steht. Es war erfreulich für mich zu lesen, dass immer mehr Christen durch Zen auch zum Zentrum ihres Glaubens kommen. Neben den Jesuiten setzen sich auch Benediktiner und Franziskaner für eine Verständigung zwischen diesen großen Religionen ein. Als Franziskaner im säkularen Zweig des Ordens habe ich im Herbst 2015 im Franziskaner-Kloster Hofheim/Taunus in einer Sesshin die Praxis des Zen kennen gelernt und möchte sie seitdem nicht mehr missen. Sie tut meinem Christsein keinen Abbruch, ganz im Gegenteil, sie bereichert es. Dies vom Nestor des christlich-buddhistischen Dialogs auch noch einmal zu lesen, war für mich hilfreich und den weiteren Weg weisend.

 

 

 

 

E.M. Forster: Die Maschine steht still. Erzählung

Hoffmann und Campe, Hamburg 2016

 

Was würde passieren, wenn auf einmal das Internet abgestellt würde. Bräche die Welt, wie wir sie kannten, zusammen? Kämen unbekannte Wahrheiten ans Licht? Gäbe es Tod und Verderben auf der ganzen Welt? Würde eine Gruppe Menschen neu beginnen mit einem Lebensentwurf, der durch das Internet abhanden gekommen ist? 

Der britische Schriftsteller E.M. Forster hat diese Frage in seiner bereits 1909 (!) erschienenen Dystopie "Die Maschine steht still" vorweggenommen. In seiner düsteren Zukunftsvision leben die Menschen abgekapselt voneinander unter der Erde in einer Kunstwelt, die in allen Details von einer geheimnisvollen "Maschine" kontrolliert wird. Solange die Maschine funktioniert, ist alles gut: es gibt intellektuellen Austausch, regelmäßiges Essen, frische Luft, man kommuniziert mittels blau leuchtender Scheiben weltweit miteinander (iPads???). Doch niemand weiß mehr, wie diese alles beherrschende Maschine eigentlich funktioniert, ja, warum sie überhaupt gebaut wurde. Die Algorithmen sind verloren gegangen, das Wissen der Erbauer ebenso. Und dann bricht diese Maschine plötzlich zusammen - und mit ihr geht die Menschheit unter, ausgenommen ein kleines Häuflein Renegaten, denen es - vielleicht - gelingt, eine neue Zivilisation zu begründen. Der 1879 geborene Autor hat ohne Zweifel das Internet vorausgesehen und 100 Jahre vor dessen Entfaltung als Apokalypse beschrieben. Seine Erzählung mit ihren visionären technischen Details, die auf verblüffende Weise vorausgreifen, kann als eine Mahnung verstanden werden, sich nicht zu sehr auf eine Technologie zu verlassen, in die es keine Eingriffsmöglichkeiten mehr gibt. 

 

 

 

 

Diane Brasseur: Der Preis der Treue. Roman

dtv, München 2016

 

Noch einmal, wie schon in Goethes Wahlverwandtschaften: ein Mann zwischen zwei Frauen. Diesmal zeitgenössisch, französisch und unter den Bedingungen des Jahres 2014. Ein namenloser französischer Anwalt, 54 Jahre, verheiratet, eine 14-jährige Tochter, verliebt sich in die 23 Jahre jüngere attraktive Alix. In einem den gesamten Roman ausfüllenden inneren Monolog lässt er das Jahr dieser Affäre Revue passieren und versucht seine Gefühle und sein Verhalten gegenüber der Geliebten wie gegenüber der Ehefrau zu deuten und zu rechtfertigen. Diane Brasseur hat mit ihrem Erstling einen beeindruckenden Roman vorgelegt, der so vielschichtig und voller Sympathie für ihre Figuren den Komplex "außereheliche Affäre" beleuchtet, wie ich es sonst weder aus der Literatur noch aus dem Film her kenne. Kein Klischee wird hier bedient, keine Schuld ausgesprochen, keine Moralfrage erörtert. Das Ende des emotionalen Ausnahmezustands des Mannes bleibt offen. Verlässt er seine Frau oder bleibt er bei ihr?

Besonders beeindruckend ist das Vermögen der Autorin, sich als 37 Jahre alte Frau in die Gedanken- und Lebenswelt eines 54-jährigen Mannes hineinzufühlen. Wie viele zahllose Männer finden sich in der Figur des Protagonisten wieder? Wie viele zahllose junge Frauen in der Rolle der Alix, die, obzwar nur zweite Hauptfigur, aber dennoch durch den Gedankenstrom des Liebhabers in ihrer vorteilhaften wie zugleich problematischen Situation angemessen Kontur gewinnt? Ich habe diesen Roman an einem Abend atemlos in vier Stunden durchgelesen. Er hat mich angeregt zur Reflexion über die höchst komplexen Situationen, in denen sich Menschen schuldlos wiederfinden und über die zu urteilen niemandem zusteht. Manchmal sogar den Akteuren selbst nicht.

 

 

 

 

Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman

in: Johann Wolfgang von Goethe: Werke, Bd. 6: Romane und Novellen I

dtv, München 1998

 

Ein Mann zwischen zwei Frauen. Eine klassische Konstellation, ausgelotet in Goethes vielleicht reifstem Roman aus dem Jahr 1809. Charlotte und Eduards Ehe auf einem geografisch nicht näher lokalisierten Gut bricht auseinander, als mit Otto und Ottilie zwei weitere Personen in die Einsamkeit des Paares hinzutreten. Der Begriff "Wahlverwandtschaften" stammt aus der Chemie und bezeichnet aufeinander bezogene Elemente, die unter bestimmten Umständen neue Verbindungen eingehen, und rührt von Goethes Interesse an den Naturwissenschaften her. Die Anziehung zwischen den vier Akteuren dieses prosaischen Kammerspiels schafft neue Verhältnisse und stellt Vernunft und Gefühle auf die Probe. Das Ganze endet in einer Katastrophe. Goethe ist nach wie vor ein unter die Haut gehender Autor, der menschliche Gefühle nachvollziehbar und berührend in Sprache gießt. Mich bewegt sein tiefes Verständnis des Menschlichen, Allzumenschlichen. Was sich zwischen Charlotte, Eduard, Otto und Ottilie abspielt, ist zeitlos und aktuell. Konstellationen dieser Art gibt es heute sicher öfter als in Goethes Zeitalter. Daher hat der Reiz dieses Stoffes nicht nachgelassen. Nur das Ergebnis solcher Liebesgeschichten ist im realen Leben heute in der Regel nicht derart dramatisch, wie Goethe es gestaltet. Und die gesellschaftlichen Konventionen erlauben Lösungen, von denen der Frauenfreund Gothe nicht zu träumen gewagt hätte. Gottseidank.

 

 

 

 

Willi Winkler: Luther. Ein deutscher Rebell

Rowohlt-Verlag, Berlin 2016

 

Eine der zahlreichen Luther-Publikationen, rechtzeitig erschienen vor dem Reformations-Gedenken 2017 - und ein deutlicher Unterschied zu klassischen Luther-Biographien. Willi Winkler ist kein Fachhistoriker, sondern Schriftsteller, Übersetzer und Journalist. Er schreibt für die "Süddeutsche-Zeitung", war vorher bei der "Zeit" und beim "Spiegel". Nach Büchern über Bob Dylan, Mick Jagger und den Beatles nun also - Luther. Winkler hat augenscheinlich ein Herz für Rebellen, und Luther ist für ihn der größte, den Deutschland je gesehen hat. Der Autor wirft den Leser mitten hinein in dieses ungewöhnlich reiche Leben eines Mannes, der quasi aus dem Mittelalter kommt und der die moderne Welt in vorderster Linie mitgestalten wird. Ungewöhnliche Details wie die Beschreibung der Lage der Juden in Regensburg geben dem über 600-seitigen Werk eine besondere Note. Mehr noch: Als jemand, der die Medien und ihre Effekte kennt, bürstet Winkler Luther und die Reformation gegen den Strich. Eine seiner plakativen Thesen lautet: in der Kulturöde von Wittenberg entstand unsere moderne Medienwelt. Oder: Der Ablass war eine gute Idee. Eine andere: Luther ist ein Popstar seiner Zeit (was viel mit Lucas Cranach zu tun hat). Und: Für seine Bibelübersetzung hat er regelrechte Redaktionskonferenzen abgehalten. Schließlich: Papst Franziskus sollte Luther heiligsprechen. Das alles macht neugierig, gewiss. Aber erwartet der Leser das? Sucht er das, wenn er sich für Luther interessiert?

Wer sich erstmals mit Luther näher beschäftigt, sollte lieber zur klassischen Biographie aus der Feder eines Fachhistorikers oder Theologen greifen. Winkler erwartet viel seinen Lesern, nicht immer macht er es ihnen leicht, ihm zu folgen. Schwierig an dem Buch ist beispielsweise: Winkler zitiert Luther immer wieder im frühneuhochdeutschen Original. So flott seine Geschichte des Reformators geschrieben ist, so sehr hemmt dieses für ein sich populär verstehendes Buch exzentrische Vorgehen den Lesefluss. Winklers "Luther" ist somit in mehrfacher Hinsicht eine Blüte unter den aktuellen Luther-Biographien.

 

 

 

 

Anna Maria Sigmund: Die Frauen der Nazis

Wilhelm Heyne Verlag, München 2000

 

Die Wiener Historikerin Anna Maria Sigmund zeichnet die Lebenswege einiger Frauen nach, die im Dritten Reich eine herausgehobene Rolle spielten - bis auf Leni Riefenstahl und Gertrud Scholtz-Klink allesamt aber nur als Ehefrauen bekannter Nazis oder zumindest definiert über ihre Beziehungen zu Männern: Carin und Emmy Göring, Magda Goebbels, Henriette von Schirach, Hitlers Nichte Geil Raubal und seine Geliebte Eva Braun. Die nationalsozialistische Ideologie wies den Frauen keine eigenständige Rolle im Staat zu. In der Partei- und Reichsführung waren sie nicht zu finden. Insofern fallen die Filmemacherin Leni Riefenstahl und Reichsfrauenführerin und Multifunktionärin Gertrud Scholtz-Klink aus dem Rahmen der hier vorgestellten acht Frauen. Was sie verbindet, ist ihre bedingungslose Hingabe an die völkische Ideologie der Nazis und eine fanatische Gefolgschaft. Die Nazigrößen selbst wiederum sind ohne ihre Frauen nicht zu verstehen. Carin Göring war ihrem Mann geradezu verfallen, er wurde durch sie, was er war. Magda Goebbels spielte die First Lady des Dritten Reichs. Trotz einiger Ungenauigkeiten im Detail sind die Portäts wertvolle Ergänzungen zum Verständnis der Geschichte des Nationalsozialismus. Anna Maria Sigmund hat diesem ersten Band zwei weitere folgen lassen.

 

 

 

Hermann Kant: Das Impressum. Roman

Aufbau-Verlag, Berlin 2005

 

Am 14. August 2016 ist in Neustrelitz Hermann Kant gestorben, der offielle Groß-Schriftsteller der DDR, der in seinen Büchern nach west- wie ostdeutscher Lesart geschickt Kritik am System zu verstecken verstand. Der aber als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes der DDR, als Volkskammer-Abgeordneter und als Mitglied des ZK der SED zugleich ein "Täter wie wenige" war, wie Erich Loest befand. Günter Kunert sprach von Kants "schäbiger Rolle" im Unterdrückungsapparat der DDR. Viele kritische Autoren haben unter ihm und seiner Macht über sie gelitten. "Das Impressum" ist der erste Roman Kants überhaupt, den ich - angeregt durch die Nachrufe aus Anlass seines Todes - las. Er ist sicher nicht sein bester, denn der Stil ist schwer verdaulich. Satzwürmer, die sich wie Girlanden über ganze Seiten winden, prägen die mehr als 450 Seiten lange Geschichte des wackeren Kommunisten David Groth, der es vom Laufburschen zum Chefredakteur einer Ost-Berliner Illustrierten geschafft hat und nun, gerade mal 40 Jahre alt, zum Minister befördert werden soll. Aus diesem Anlass lässt er sein Leben Revue passieren, breitet der Autor opulent und nicht gerade wohlbekömmlich die Geschichte Groths als eine Geschichte des Widerstandes gegen des Dritte Reich und für den Aufbau der DDR aus, zugleich eine Bilanz dieses Staates ziehend, die durchaus nicht immer positiv ausfällt. Fritz J. Raddatz nannte den Roman ein mustergültig missglücktes Buch: der Plauderton verdächtig, die Ironie ein Zwinkereffekt, die Kritik eine Meckerecke, die gestemmten Gewichte hohl. Vielleicht ist "Das Impressum" einfach das falsche Buch, um sich Hermann Kant anzunähern. Ich will nicht aufgeben. "Die Aula" und "Der Aufenthalt" sollen besser sein. Mal sehen.

 

 

 

 

Oliver Hilmes: Berlin 1936. Sechzehn Tage im August

Siedler, München 2016

 

Vom 1. bis 16. August 1936 fanden in Berlin die Spiele der XI. Olympiade statt, ein gigantisches Propagandaspektakel der Nationalsozialisten. Der Historiker Oliver Hilmes hat Begebenheiten, Anekdoten, Tagebuchnotizen, offizielle Meldungen, Hintergründe und Banalitäten bis hin zum täglichen Bericht des Reichswetterdienstes dieser sechzehn Tage zusammengetragen und in journalistisch-plakativer Sprache, aber stets orientiert am historischen Faktum, aufbereitet. Dies ist ein attraktiver Zugriff auf dieses Ereignis, mit dem große Politik mit Alltäglichem verwoben wird. Ein Schwerpunkt Hilmes' ist das Berliner Nachtleben in jenem August, das in Lokalen wie dem Quartier Latin, Schlichters oder der Ciro-Bar noch einmal einen Höhepunkt hatte, ehe die NSDAP Jazz und Swing endgültig verbot. Die Diktatur gab sich zwei Wochen lang weltoffen. Viele Kuriositäten versammelt Hilmes, die bekannteste wohl diese: Die jüdische Fechterin Helene Mayer gewann für das Dritte Reich eine Silbermedaille und zeigte bei der Siegerehrung den Hitlergruß. Hilmes versteht es, eine Episode deutscher Geschichte auf ungemein lesenswerte Weise darzustellen. Das Buch ist ebenso kurzweilig wie lehrreich, weil es multiperspektivisch und kaleidoskopartig erzählt und Zugänge schafft, die von einer historischen Darstellung so in der Regel nicht erwartet werden.

 

 

 

 

Marjane Satrapi: Persepolis. The story of a childhood. Graphic Novel

Pantheon Books, New York 2004

 

Die preisgekrönte Graphic Novel der iranischen Künstlerin Marjane Satrapi erzählt die Kindheit und Jugend der Autorin in ihrer Heimat vor und nach der Islamischen Revolution und dem Sturz des Schahs 1979. Die Hauptfigur Marji ist einintelligentes und aufgeschlossenes Mädchen, das in einer links-bürgerlichen, westlich orientierten Familie aufwächst und die Gewalt und Unterdrückung des neuen Mullah-Regimes am eigenen Leibe erfährt - vom plötzlichen Zwang, einen Schleier tragen zu müssen, bis zur allgegenwärtigen religiösen Indoktrination. Satrapi spart die Schilderung von Folterungen nicht aus. Manche Episoden gehen unter die Haut. Erst als ihre Eltern sie im Alter von 14 Jahren nach Wien und später nach Paris schicken, kann sie sich und ihre Talente wieder voll entfalten. Satrapi lebt heute als Comiczeichnerin und Illustratorin in Frankreich. Ihre einprägsame, naiv anmutende Darstellungsweise im Stile Art Spiegelmans ist einprägsam und und hat zum weltweiten Erfolg dieser Graphic Novel - auch zum Protest des Teheraner Regimes - beigetragen. Ihr gelingt es auf minimalistische Weise, die Komplexität des Konflikts zwischen dem alten Regime und den neuen Machthabern zu schildern. Das Buch wurde von der Kritik international gelobt, ist vielfach übersetzt und wurde inzwischen auch verfilmt. Ich habe es in der amerikanischen Version gelesen.

 

 

 

 

Walter Kardinal Kasper: Martin Luther. Eine ökumenische Perspektive

Patmos-Verlag, Ostfildern 2016

 

Ein Beitrag eines prominenten Katholiken zum Reformations-Jahr 2017, der zurückgeht auf einen Vortrag im April 2016 an der Humboldt-Universität Berlin. Kardinal Kasper war von 2001 bis 2010 Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen und ist als solcher einer der profiliertesten Ökumeniker innerhalb der katholischen Kirche. Wenn er sich dem Reformator Martin Luther zuwendet, verspricht das klug und inspirierend zu werden. In der Tat: Kasper holt Luther aus der interessengeleiteten Vereinnahmung heraus und sieht in ihm mehr als alles andere einen authentischen Katholiken, dem es um Wiederherstellung des Eigentlich-Katholischen gegangen war. So schreibt der Autor der Amtskirche zu Beginn des 16. Jahrhunderts maßgebliche Mitschuld an der Kirchenspaltung zu. Heute ist Luther für Kasper ganz im Sinne von Papst Franziskus ein Vertreter der Barmherzigkeit Gottes, der Antwort auf die persönliche Not des Menschen zu geben vermag - im Sinne einer die Konfessionen verbindenden universellen Botschaft.

 

 

 

 

Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis. Novelle

Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2016

 

Der frühere Kleinverleger Reither hat sich in einem Apartmenthaus am Alpenrand zur Ruhe gesetzt und in der Hausbibliothek ein Romanmanuskript ohne Autorennamen entdeckt. Eines Abends klingelt eine Mitbewohnerin an seiner Tür, die frühere Modistin Leonie Palm. Beide kommen ins Gespräch, aus dem Gespräch wird ein nächtlicher Ausflug an einen Bergsee, aus dem Ausflug eine mehrtägige Spontanreise bis nach Sizilien, aus der Begegnung ein Widerfahrnis - eine Geschichte nicht ohne Pathos zwischen Liebe und Zärtlichkeit einerseits, Abschied und Tod andererseits. In das Idyll der Zuneigung zweier reifer Menschen zueinander bricht die Wirklichkeit in Gestalt eines Flüchtlingsmädchens, das die beiden spät Liebenden auch wieder auseinanderbringt. Somit bleibt es nicht bei einer vorhersehbaren Road Novel, sondern Kirchhoff überrascht mit einer Wendung, die klassischerweise einer Novelle zugeschrieben wird, die ja eine "unerhörte Begebenheit" erzählen will. Kirchhoff ist für mich immer wieder ein lesenswerter Autor, der das alltägliche Sein auf eine höhere Ebene zu transzendieren vermag. Das ganz normale Leben wird in seinen Büchern zu einer Form der Poesie, geschildert in einer zärtlichen Sprache, die mich berührt.

 

 

 

Irmgard Keun: Gilgi - eine von uns. Roman

List, Berlin 2016

 

Irmgard Keun ist heute eine zu Unrecht fast vergessene Schriftstellerin. Sie ist neben Hans Fallada eine der wichtigsten Vertreterinnen der Neuen Sachlichkeit, die die Literatur der Weimarer Republik prägte. "Gilgi - eine von uns" ist ihr erster Roman, mit dem die damals 26-Jährige 1931 auf einen Schlag berühmt wurde. Wie in Falladas "Kleiner Mann, was nun" geht es auch hier um die neue Klasse der Angestellten. Gisela Kron, genannt Gilgi, ist zu Beginn des Romans eine 20 Jahre alte Stenotypistin aus Köln. Sie erfährt an ihrem 21. Geburtstag, dass sie nicht bei ihren leiblichen Eltern aufgewachsen ist und nimmt daraufhin ihr Leben in die Hand. Sie ist damit eine Vertreterin den "neuen Frau", die auch in Krisen wie der Arbeitslosigkeit aufrecht bleibt. Auf der Suche nach ihrer Mutter und nach dem Glück, verliebt sie sich in den Bohemien Martin, wird schwanger von ihm, verlässt ihn und bleibt sich in ihrem Streben nach Selbstständigkeit treu. Im Gegensatz zu Falladas Büchern wurde Keuns "Gilgi" und der kurz darauf erschienene Roman " Das kunstseidene Mädchen" von den Nationalsozialisten als "Asphaltliteratur" verfemt und verboten, Keun ging ins Exil, kehrte aber nach Deutschland zurück, versteckte sich jahrelang bei Freunden. Ihr dritter Roman "Nach Mitternacht" erschien in den Niederlanden und wurde ein vielfach übersetzter Bestseller. Nach dem Krieg konnte Irmgard Keun nicht mehr an ihre früheren Erfolge anknüpfen. Sie wurde alkohol- und medikamentenabhängig. In den siebziger Jahren entdeckten der "Stern" und der Claassen-Verlag sie noch einmal kurzzeitig. 1982 starb sie in Köln.

 

 

 

 

Juli Zeh: Unterleuten. Roman

Luchterhand, München 2016

 

In Unterleuten ist man unter Leuten - und was für welchen! In dem Dorf in der Ostprignitz bekämpfen sich schon ein Leben lang der frühere Großgrundbesitzer Gombrowksi und sein Gegenspieler Kron, der immer noch der DDR nachtrauert. Ein geheimnisvoller Todesfall vor 20 Jahren und Krons zerschmettertes Bein verbinden die beiden Männer auf ebenso unglückliche wie geheimnisvolle Weise. Ein West-Berliner Intellektueller, gescheitert als Dozent an der Uni, dafür umso dogmatischer als Vogelschutz-Aktivist und seine halb so alte junge hysterische Generation-Y-Frau mit Baby gehören ebenso zum Personal dieses bemerkenswerten Dorfes wie ein Mechaniker ohne Gedächtnis, eine Pferdeflüsterin aus dem Oldenburgischen, ein träumender Computerspieleentwickler, eine verhärmte Alte mit 20 Katzen, ein verkrachter Theaterautor, eine taffe Gerichtsmedizinerin, eine ausbüxende Fünfjährige und ein früh verwitwerter melancholische Dorfbürgermeister. Außerdem ein stinkreicher Investor aus dem Westen im Cabrio, geradezu die Karikatur des Wessis.

Als Windräder am Ortsrand gebaut werden sollen, gerät der von persönlichen Feindschaften, alten Fehden, Nachbarschaftsstreitigkeiten, subtilen Seilschaften, Alt und Jung, Wende-Gewinnern und -Verlierern, Eingesessenen und Zugezogenen, Linken und Rechten geprägte Mikrokosmos von Unterleuten ins Wanken. Plötzlich tun sich nicht nur neue Koalitionen auf, sondern menschliche Abgründe Jeder haut jeden übers Ohr, der Feind meines Feindes ist mein Freund. Mit grotesken Konsequenzen.

Juli Zeh ist ein ganz großer Wurf gelungen. Nicht nur der knapp 650 Seiten wegen, sondern wegen der atemberaubenden Chuzpe, mit der in ihrem Roman ganz normale Menschen gegen andere Menschen vorgehen, wenn sie nur einen eigenen Vorteil wittern, und sei er noch so gering. Die deutsche Gesellschaft im heißen Sommer des Jahres 2010 wie unter dem Brennglas eines fiktiven brandenburgischen Nests. Der Schweiß tritt aus allen Poren, nicht nur der Hitze wegen. Unterleuten ist überall. Der Mensch dem Menschen ein Wolf, nicht nur in der Prignitz. Faszinierend: die Kunstgriffe mit denen Juli Zeh ein fiktives Buch - einen Lebensratgeber - in den Plot einbaut, von dem niemand weiß, ob es nicht doch existiert. Oder die eingestreuten Internet-Adressen, die auf real existierende Webseiten verweisen, deren Inhalte aber wiederum selbst fiktiv sind: der Unterleutener Gasthof zum Beispiel (http://www.maerkischer-landmann-unterleuten.de) oder die Homepage des örtlichen Vogelschutzbundes (www.vogelschutzbund-unterleuten.de), auf der einer der fiktiven Personen des Romans sogar im Foto zu sehen ist. Wie kann das sein? Verblüffende moderne deutsche Literatur at ist best, auch oder vielleicht weil der Stil herrlich konsequent realistisch ist, schmucklos und schlicht. So wie Unterleuten eben. Der Stoff schreit nach Verfilmung.

 

 

 

 

Thomas Melle: Sickster. Roman

Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 2013

 

Ein Roman aus der Welt des Marketings und der Corporate Communication. Magnus, ein desillusionierter und frustrierter Journalist, schreibt für die Kundenzeitschrift eines Ölkonzerns. Der Marketing-Manager Thorsten dagegen führt ein Hochglanzleben mit Erfolgsdruck und Alphatierneurosen. Magnus beginnt sich zu Torstens Freundin Laura hingezogen zu fühlen. Die Fassaden bröckeln.

Das Roman-Debüt des 1975 in Bonn geborenen Thomas Melle hat mich nicht überzeugt. Er verschenkt sein Thema, indem er es in einer selbstverliebten Sprache ertränkt. Er opfert die eindringliche Darstellung des in letzter Konsequenz in einer Kunstwelt verschwendeten Lebens seiner Figuren auf dem Altar von sprachlichem Firlefanz und Wortneuschöpfungen, die nur scheinbar attraktiv sind. In Wahrheit verstellen sie den Blick auf das Spannende, was er aus seinem Roman hätte machen können: ein verstörendes Porträt papiernen Lebens zwischen Quartals-Kennzahlen, gläsernen Aufzügen, Productplacement, schnellem Sex und heimlicher Alkoholsucht. Die Kälte dieser Welt durch Pathos brechen zu wollen, das ist nicht geglückt.

 

 

 

 

Holger Sonnabend: Nero. Inszenierung der Macht

Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt 2016

 

Rechtzeitig vor der großen Nero-Ausstellung in Trier von Mai bis Oktober 2016 hat die Wissenschaftliche Buchgesellschaft im Verlag Philipp von Zaubern eine neue Nero-Biographie vorgelegt. Nero ist wohl der bekannteste römische Herrscher. Dass er Rom angezündet haben soll, ist die römische Legende schlechthin, die jeder Schüler kennt - auch solche, die in Geschichte nicht gut aufgepasst haben. Sein zweifelhafter Ruhm hat zwei Jahrtausende überdauert, das muss einer historischen Gestalt erst einmal jemand nachmachen. Die Biographie des Stuttgarter Alt-Historikers Holger Sonnabend zeichnet selbstverständlich den Lebensweg Neros nach, auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnis, wie es sich für eine Biographie gehört. Sie zeigt aber darüber hinaus, wie schon die antiken Biographen daran arbeiteten, ein Bild von Nero zu zeichnen, das mit der Wirklichkeit nicht unbedingt etwas zu tun haben musste. Nero selbst verstand es geschickt, seine Macht zu inszieren - beispielsweise mit dem auf seine Zeitgenossen faszinierend wirkenden achteckigen Speisesaal mit der beeindruckenden in seiner Residenz domus aurea in Rom, die er nach dem Brand erreichten ließ. Nero, das macht Sonnabends Untersuchung deutlich, war mehr als der Tyrann, als der er dargestellt wird. Er war ein Herrscher, der den Spagat zwischen Politik und Kunst versucht hat - und dabei auch ziemlich ausrutschte.

 

 

 

Lutz Hachmeister: Hannover. Ein deutsches Machtzentrum

Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016

 

Der Titel macht neugierig - und stutzig. Wie kann die gemeinhin als langweilig geltende Stadt Hannover ein Machtzentrum sein? Ist das Häme? Einer der vielen Witze, die man über Hannover zu machen pflegt? Nein, es ist keine Häme, mit der der frühere Leiter des Grimme-Instituts und Dokumentarfilmer der Stadt begegnet, ganz im Gegenteil. Er rückt Hannover in ein Licht, das der Stadt in der Tat zukommt. Denn Hannover unterscheidet sich eben doch von anderen Landeshauptstädten. Es kann sich nicht messen mit München oder Düsseldorf. Geschenkt. Aber es spielt eben auch in einer anderen Liga als Erfurt, Kiel oder Saarbrücken.

Hannover war nach dem Krieg, als es vom Reißbrett weg geplant wurde, die Zukunftsstadt in Deutschland schlechthin, autogerecht, architektonisch und städteplanerisch avantgardistisch. Dass man die Dinge Jahrzehnte später anders beurteilt, ist nicht die Schuld der Stadt.

Die Messe machte Hannover zu einem wirtschaftlichen Impulsgeber. Die Wiedervereinigung rückte Hannover in eine zentrale Lage (ein Knotenpunkt war es schon immer). Der politische Komplex Hannovers seit der Ära Schröder/Wulff und sein Einfluss auf die Bundespolitik ist hinreichend beschrieben worden und nimmt auch in Hachmeisters Buch breiten Raum ein als Kaderschmiede und Resonanz- und Rückzugsraum für die Berliner Politik. Intensiv setzt sich der Autor mit den kulturellen Schwergewichten auseinander, die diese Stadt geprägt haben: Leibniz, Schwitters, Negt und andere. Der "Spiegel" wurde hier gegründet, der Madsack-Konzern ist heute einer der führenden deutschen Player im Medienmarkt. Die Beschreibung der frühen "Spiegel"-Jahre sind der schwächste Teil in Hachmeisters Darstellung. Zu viel Abschweifung. Stark ist das Buch immer dort, wo es biographisch wird und die Hannover-Akteure durchleuchtet - wie den "Finanzdienstleister" Maschmeyer, die Präsidentengattin Bettina Wulff oder den rätselhaften Strippenzieher und Rechtsanwalt von Fromberg. Meine Heimatstadt mal in einer ganz anderen Perspektive, mit ganz anderen Implikationen. Ich werde das Buch verschenken - an Hannoveraner, die noch mehr darüber wissen wollen, wo sie eigentlich leben oder woher sie kommen.

 

 

 

Jacques Le Goff: Franz von Assisi

Klett-Cotta, Stuttgart 2006

 

Angeregt durch einen Aufenthalt in Assisi im Juni 2016 habe ich zu der schon älteren Franziskus-Darstellung des großen französischen Mediävisten Jacques Le Goff gegriffen. Sie ist mehr als eine Biographie, es ist ein in seinem Zugriff einzigartiges Buch. Die Lebensbeschreibung des Heiligen nimmt ungefähr die Hälfte des Bandes ein. Der Rest sind thematische Darstellungen einzelner Aspekte franziskanischer Spiritualität: was bedeutete für Franziskus und seine Nachfolger beispielsweise Armut und Demut, wie hielten sie es mit Freude, Schönheit und Höflichkeit, welche Sprache benutzten sie, in welchem Verhältnis standen sie zur körperlichen Arbeit und zur Wissenschaft und vieles mehr. Das Buch setzt sich aus unterschiedlichen früheren Untersuchungen Le Golfs zusammen, der sich insgesamt über 40 Jahre lang mit den Franziskanern beschäftigt hat, und ergibt doch ein Ganzes. In der Differenzierung ist es eine kompakte Einführung nicht nur in das Leben des Franz von Assisi, sondern auch in seine Haltung zu seiner Umwelt, letztlich seine Philosophie.

 

 

 

 

 

Charles Bukowski: Der Mann mit der Ledertasche. Roman

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015

 

Das enfant terrible der amerikanischen Literatur schrieb seinen ersten Roman "Der Mann mit der Ledertasche" (im Original: Post-Office) 1970, nach elf Jahren als Briefträger und Briefsortierer bei der US Mail. Er stellt seinen Alltag in der amerikanischen Post bis ins letzte deprimierende Detail dar: kaum zu bewältigende Touren als Briefträger, gnadenlose Aufseher im Innendienst, verständnislose Chefs, kranke oder durchgeknallte Kollegen. Aber auch Suff, Frauen, Sex, das kleine Glück bei Pferdewetten. Der erste Roman Bukowskis ist schon ein "richtiger" Bukowski: er schaut in die Drecksecken des menschlichen Lebens, sein Personal sind die Underdogs und die Verlierer des amerikanischen Traums. Er lässt nichts aus, auch sprachlich nicht. Bukowski schreibt direkt, derb, hart, mit Anleihen aus dem Slang der Schicht, in der er sich bewegt. Der Roman ist kurzweilig und gibt einen  Einblick in einen miesen, aber mit nationalem Pathos überhöhten Job. Am Ende kündigt die Hauptfigur Henry Chinaski, das alter Ego des Autors, besäuft sich, schläft seinen Rausch aus und schreibt: "Am nächsten Morgen war die Nacht vorbei, und ich war noch am Leben. Vielleicht schreibe ich einen Roman, dachte ich. Und dann schrieb ich ihn." Und damit begann die zweite Karriere des Briefträgers Charles Bukowski; die des Schriftstellers Charles Bukowski.

 

 

 

 

Peeter Helme: Am Ende der gestohlenen Zeit. Roman

Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2016

 

Der dritte Roman des 1978 in Tallinn geborenen estnischen Schriftstellers und Literaturkritikers Peeter Helme. Der Ich-Erzähler, obwohl schon bald frisch verheiratet, verliebt sich in eine etwas ältere Frau und erlebt alle Höhen und Tiefen einer gefühlvollen Romanze, die sich rasch zu einer alles andere verdrängenden Beziehung auswächst - am Anfang der vierjährigen Beziehung stehen die Höhen, ungefähr ab dem zweiten Jahr zunehmend die Tiefen. Beide trennen sich jeweils von ihren bisherigen Partnern, müssen aber feststellen, dass die eigene Beziehung nicht auf Dauer trägt. Als eine "Abfolge von Dates" empfindet der Erzähler die Beziehung zu der Frau, nicht aber als eine vollwertige Partnerschaft. Am Ende steht die Trennung - und die den früheren Partnern und auch sich selbst gestohlene Zeit. Der Roman wirft Fragen auf, die jeden Leser betreffen: woran erkennt man wahre Liebe? Wie geht man mit ihrer emotionalen Last um? Ist sie mit dem Alltag vereinbar? Helme erzählt beschaulich, einfühlsam, fast zärtlich, oft poetisch. Er reflektiert über das Geschehen, ohne vorschnelle Antworten zu geben. Sein Fazit dieser gescheiterten Liebe ist ernüchternd: "Es bleibt nur Leere, die mit ihrer erstickenden Umarmung alles an sich zieht (...)."

 

 

 

 

 

Niklas Luhmann: Der neue Chef

Suhrkamp, Berlin 2016

 

Jeder, der die Leiter der Hierarchie hinaufklettert, kennt diese Rolle: irgendwann wird man zum neuen Chef. Manche erleben das einmal im Leben, manche wiederholt, einige ganz oft. Jede Organisation, und sei sie noch so behäbig, erfährt durch die Nachricht, dass ein neuer Chef kommt, eine gewisse Erschütterung. Die Aufregung ist nicht nur beim Neuen selbst groß, sondern auch bei denen, die die neuen Mitarbeiter des neuen Chefs sein werden. Was genau da passiert an Vorder- und vor allem Hintergründigen in einer auf den ersten Blick nüchtern und arbeitsteilig organisierten Firma oder Behörde hat der Ausnahme-Soziologe Niklas Luhmann 1962 in der Fachzeitschrift "Verwaltungsarchiv" analysiert. Jetzt ist sein 54 Jahre alter Aufsatzes als kleines Büchlein bei Suhrkamp erschienen, und seine Erkenntnisse sind heute so aktuell wie damals. 

Luhmann hatte bei Erscheinen seines Aufsatzes gerade selbst acht Jahre lang Erfahrungen in der Ministerialbürokratie in Niedersachsen sammeln können, er weiß also aus eigener Anschauung und nicht nur aus wissenschaftlicher Untersuchung wovon er spricht. Das Büchlein ist ebenso trocken wie witzig. Jeder Chef vermag sich darin wiederzukennen. Immer wieder schimmert auch Luhmanns Verschmitztheit durch das Soziologie-Sprech hindurch, etwa wenn er im Hinblick auf den Takt als maßgebliches Schmiermittel zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern verrät, dass er selbst im Ministerium "an den Grenzen der Taktlosigkeit" experimentiert habe. Mit dem Ergebnis: "Es zahlt sich nicht aus".

 

 

 

 

Karl Ove Knausgård: Träumen. Roman

Luchterhand, München 2015

 

Karl Ove Knausgård wird von der internationalen Literaturkritik als Shooting Star gehupt, ja sogar als der James Joyce des 21. Jahrhunderts gefeiert. Der 1968 geborene Norweger hat in sechs Bänden sein Leben aufgeschrieben, jeder Band vom Format eines Ziegelsteins, aber leider nicht von dessen Gewicht, literarisch gesehen. Zuletzt ist auf deutsch der fünfte Band "Träumen" erschienen. In der norwegischen Originalausgabe heißt das Gesamtwerk übersetzt "Mein Kampf", die Bände sind durchnummeriert. Es geht um den "Lebenskampf" des Autors. Ich frage mich: was kann das für ein "Lebenskampf" sein eines Menschen, der in einem Land mit dem höchst denkbaren Sozialstandard geboren wurde, der in einer Zeit des Friedens und des Wohlstands in einem der reichsten Länder der Welt lebt? Wie arm muss dieser gesunde, begabte Mensch innerlich sein, wenn er sein Leben nicht anders als leer begreift und darum kämpfen muss, ihm einen Sinn zu geben? Leere, das ist auch der Inhalt der Selbstbespiegelung, die sich Roman nennt. Der Sinn, so macht Knausgård aus Nichts vermeintlich Kunstbesteht darin, die Leere aufzuschreiben. Herausgekommen dabei ist: ein Roman ohne Inhalt, ohne Anspruch, ohne Struktur, ohne Ziel. Ein Nicht-Roman. Ein einzige Gähnen. Es ist keine Autobiografie, ist ist keine Fiktion, ist ist ein einziger ungerichteter und ungefilterter Redeschwall, der alle Banalitäten des Alltags umfasst - alleine im Band "Träumen" auf nicht weniger als 800 Seiten. Null Fiktion, null Gestaltung, null sprachlicher Reiz. Ist das, was einer  sprachlich auskotzt - und sei es im epischen Format - Literatur? Ich meine: nein. Man sollte nicht als literarische Sensation verkauften was im Grunde genommen nur eines ist: eine zugegeben beeindruckende Fleißarbeit, letztlich ein in jeder Hinsicht schlechtes Buch, auf das niemand gewartet hat und das die Zeit des Lesers nur verschwendet..

 

 

 

 

Hamed Abdel-Samad: Mohamed. Eine Abrechnung

Droemer, München 2015

 

Dass ein Wissenschaftler sich wegen eines Sachbuchs vor einem Staatsanwalt rechtfertigen muss, ist in Deutschland ein ungewöhnlicher Vorgang. Dem deutsch-ägyptischen Politologen und Publizisten Hamed Abdel-Samad ist das im März 2016 in Berlin passiert. Er wurde angezeigt wegen seines neuen Buches "Mohamed. Eine Abrechnung", in dem er den Begründer des Islam als "Massenmörder und krankhaften Tyrannen" darstellt. Alleine die Tatsache, dass ein Autor - dessen Meinungsäußerungen durch das Grundgesetz geschützt werden - sich für seine geäußerte Meinung rechtfertigen muss, ist grenzwertig. Sollte diese Praxis um sich greifen, könnte dies zu einer Atmosphäre der Denunziation und Einschüchterung unter kritischen Autoren hierzulande führen. Man kann zu Abdel-Samads These stehen wie man will, sie ist zugegebenermaßen in dem 225-Seiten-Bändchen plakativ dargelegt. Aber nichts anderes als er hat der Grandseigneur der deutschen Islamwissenschaft, der Göttinger Tilman Nagel 2008 wissenschaftlich fundiert auf 1052 Seiten ausgeführt. Die Beschäftigung mit Abdel-Samads Buch ist in jedem Fall anregend, denn sie macht deutlich, wie wenig wir - und damit sind auch die Muslime gemeint - in Wahrheit über die Ursprünge des Islam in der Zeit Mohameds wissen. Das wenige Gesicherte kann zudem so oder so ausgelegt werden, manchmal verwirrenderweise als das Gegenteil seiner selbst. Begriffe aus dem Arabischen des 7. und 8. Jahrhundert haben sich gewandelt, manchmal sind ihre ursprünglichen Bedeutungen ganz verloren gegangen. Das erschwert das Verständnis mancher Glaubenspraktik (Beispiel: das Kopftuch der Frauen) enorm. Die Wissenschaft hat gerade erst begonnen zu klären, wer Mohamed eigentlich war und wie die dritte große monotheistische Weltreligion entstand. Der "Spiegel"  vom 12. März 2016 fasst die neuesten Bemühungen der Forschung in einem faszinierenden Artikel zusammen. Auch Abdel-Samad findet darin seinen Platz.

 

 

 

 

Scholem Alejchem: Tewje, der Milchmann. Roman

Manesse, Zürich 2016

 

Eines der wichtigsten Werke der jiddischen Literatur ist vor allem als Musical bekannt geworden: "Fiddler on the Roof", uraufgeführt 1964 in New York, 1968 als "Anatevka" nach Deutschland gekommen.Shmuel Rodenskys Musical-Hit "Wenn ich einmal reich wär" ist heute noch ein Ohrwurm. Eigenartigerweise liegt der Roman, der 1894 bis 1916 entstand, erst jetzt komplett in deutscher Sprache vor. Erst diese neue Übersetzung von Achim Eidherr erschließt den gesamten jiddischen Sprachwitz, die Neologismen und die Wortverdrehungen Tewjes, diesem ausschweifend schwadronierenden Weltversteher und -erklärer aus der Ukraine, der mit seiner Frau Golda und fünf Töchtern die untergegangene Welt des Schtetls verkörpert wie wohl keine andere Romanfigur - ein traditionsbewusster moderner Hiob, der allerdings zu seinem Gott nicht wie der Hiob der Bibel in Dialog treten, sondern nur seine Zweifel und sein Aufbegehren an ihn richten kann. Gott schweigt. Tewje behält dennoch seine unerschütterliche Zuversicht. "Tewje, der Milchmann" ist kein Roman aus einem Guss, sondern eine Sammlung von Geschichten, die allerdings in einem inneren Zusammenhang stehen.Tewjes Geschichten spielen im Russland des ausgehenden 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert, eine Zeit immer blutiger werdender Pogrome gegen Juden im Zarenreich. Dass Tewje seinen Humor und seine gelassene Schlitzohrigkeit trotz aller Widrigkeit nicht verliert, macht ihn zu einer Figur der Weltliteratur. Sie kann nun in dieser schönen neuen Edition wiederentdeckt werden - und mit ihr der Reichtum der jiddischen Kultur.

 

 

 

 

Siegfried Lenz: Der Überläufer. Roman

Hoffmann & Campe, Hamburg 2016

 

Die Buch-Sensation des Frühjahrs 2016 ist ein bemerkenswertes Stück deutscher Literatur - Siegfried Lenz' zweites Buch aus dem Jahr 1951, geschrieben als 25-Jähriger und erst jetzt aus dem Nachlass veröffentlicht. Der Wehrmachtssoldat Walter Proska überlebt den Anschlag auf einen Zug und kämpft in einer Gruppe auf verlorenem Posten in den maurischen Sümpfen weiter bis er sich entschließt, zur Roten Armee überzulaufen. Hier gerät er in die Situation, auf dem Hof seiner Schwester seinen Schwager erschießen zu müssen. Nach dem Krieg setzt sich Proska in den Westen ab, getrieben von dem Wunsch, seiner Schwester die Wahrheit zu beichten, die wissen möchte, was wirklich passiert ist. Doch sein Brief an sie kommt als unzustellbar zurück.

Der noch ganz junge Autor Lenz, der gerade sein Erstlingswerk "...es waren Habichte in der Luft" veröffentlicht hatte, bot auch diesen Roman seinem Verlag Hoffman & Campe an. Nach anfänglicher Zustimmung zog der Verlag jedoch den bereits unterschriebenen Autorenvertrag zurück. Man hatte Anfang der 50er Jahre kalte Füße bekommen, das Thema eines Überläufers war nicht opportun in Zeiten des Kalten Krieges. Dabei zeigt der Roman des jungen Lenz schon seine ganze Größe als Literat. Lenz bestand nicht auf einer Veröffentlichung, das Manuskript geriet in Vergessenheit und wurde erst in seinem Nachlass gefunden und nun - mit einem hervorragenden Nachwort des Verlages zur Editionsgeschichte - herausgebracht. Der Fall hinterlässt zwei drängende Fragen: 1. Warum hatte der Verlag in den 50er Jahren nicht den Mut, das Buch gegen die herrschende politische Stimmung herauszubringen? 2. Wieviele Bücher werden heute zurückgehalten, weil sie nicht opportun erscheinen oder weil sie dem Publikum nicht "zuzumuten" sind?

 

 

 

 

Hans Fallada: Der Alpdruck. Roman

Aufbau-Verlag, Berlin 2014

 

Falladas hat nach dem Krieg in der ihm verbleibenden kurzen Zeit zwischen dem 8. Mai 1945 und seinem Tod im Februar 1947 noch zwei Romane geschrieben. "Der Alpdruck" ist sein vorletzter. Er stand und steht im Schatten des letzten Werkes, des Welterfolgs "Jeder stirbt für sich allein" und reicht literarisch auch nicht an diesen heran. Wie so oft bei Fallada, ist auch dieser Roman stark autobiographisch geprägt. Er erzählt seine und die Geschichte seiner jungen zweiten Ehefrau vom Einmarsch der Sowjets in Feldberg, wo er seit 1933 gelebt hat, bis zum Neuanfang im zerstörten Berlin 1946. In Feldberg war Fallada von der Roten Armee kurzzeitig als Bürgermeister eingesetzt; er brach unter der Last des Amtes physisch und psychisch zusammen. Ständigen Anfeindungen der Menschen in dem mecklenburgischen Städtchen ausgesetzt, zog er mit Ulla, die hier Alma heißt, nach Berlin. Unter dem Einfluss der Anfang Zwanzigjährigen wurde er wieder morphiumabhängig. Die Versuche des Ehepaares, in Berlin Fuß zu fassen, endeten zunächst in Sanatorien. Falladas legendäre Beobachtungsgabe kommt auch in diesem Buch zum Ausdruck. Die Verlogenheit der Menschen, die angeblich nie Nazis waren ("vor 1945 gab es nur drei wirkliche Nazis: Hitler, Göring und Goebbels."), die Niedertracht der Nachbarn, die Gemeinheit der Arrivierten, der tägliche Überlebenskampf - all das skizziert Fallada meisterhaft und schafft so ein erstes literarisches Porträt dieser buchstäblich am Boden zerstörten Stadt und denjenigen, die in ihr überlebt haben oder wie Fallada und Ulla - zum überleben hergekommen sind.

 

 

 

 

John Dos Passos: Manhattan Transfer. Roman

Rowohlt, Reinbek 1995

 

Zu manchen Autoren findet man erst nach Jahrzehnten. Seit 20 Jahren schon steht dieses rororo-Taschenbuch mit seinen inzwischen vergilbten Seiten in meinem Buchregal. 1996 angeschafft, vermerkt der Eintrag auf dem Vorsatzpapier. Von Hemingway kommend, musste ich irgendwann auf Dos Passos stoßen, diesem Großen der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Und er hat es mir angetan. Die Technik der Collage, die Dos Passos mit "Manhattan Transfer" in die Literatur eingeführt, lässt ein Universum an Figuren, Geschichten, Stimmungen, Begebenheiten, Atmosphären, Schicksalen, Alltagsszenen, Geräuschen, Bildern aus diesem brodelnden New York vor hundert Jahren entstehen, das es in sich hat und in dem ich mich begeistert verloren habe. "Manhattan Transfer", das ist als städtischer Fährhafen nicht nur der große Umschlagplatz für Menschen am East River, das ist zugleich eine Allegorie auf den Traum von Amerika schlechthin. Ein wundervolles Buch und ein Höhepunkt meiner Lektüre in der zurückliegenden Zeit.

 

 

 

 

John Strelecky: Das Café am Rande der Welt. Eine Erzählung über den Sinn des Lebens

dtv, München 2016

 

Von einer lieben Freundin bekam ich dieses Buch zum 51. Geburtstag geschenkt. Es ist ein Bestseller, nicht nur in den USA, sondern es wurde inzwischen auch in 26 Sprachen übersetzt. In einem kleinen Café am Rande der Welt wird John, ein gestresster Manager, mit dem Sinn des Lebens konfrontiert. Drei Fragen stehen auf der Speisekarte: "Warum bist du hier?", Hast Du Angst vor dem Tod?", "Führst Du ein erfülltes Leben?". Sie bringen John mit Hilfe der Serviererin Casey und dem Koch Mike gedanklich auf eine Reise weg von seinem engen und durchgetakteten Leben im Büro zu den Stränden Hawaiis und in den Regenwald Costa Ricas - letztlich aber zu sich selbst. Die Erkenntnis, die die drei Fragen und Casey und Mike John vermitteln, ist die: wenn Du erkannt hast, was Du wirklich willst, dann bekommt Dein Leben einen Sinn. Und zweitens: wir sind jeden Tag und an jedem Ort in der Lage, unser Leben in die Hand zu nehmen und unseres Glückes Schmied zu werden. Das Buch ist in dieser schlichten Botschaft sehr amerikanisch, in seiner Sprache ebenfalls. Du bist Du, Du bist gut, Du hast es in der Hand - das sind die Ingredienzen des amerikanischen Traums. Auf den deutschen Leser wirkt diese Botschaft schlicht gestrickt. Aber vielleicht tut es gut, auch einmal ganz einfach zu denken, um all die Dinge (und manchmal auch Menschen) um einen herum zu erkennen, die einen daran hindern, das zu tun, was man wirklich möchte.

 

 

 

 

Reinhard Marx: Kirche überlebt

Kösel, München 2015

 

Der frühere Bischof von Trier und heutige Erzbischof von München, Kardinal Reinhard Marx, macht sich in seinem neuen Buch Gedanken über die Zukunft der Kirche. Während die äußeren Rahmenbedingungen alles andere als zukunftsweisend scheinen - Verdunstung des Glaubens, Traditionsabbruch, hohe Austrittszahlen - glaubt er an die Gemeinde der Gläubigen. Eben: Kirche überlebt. Nicht: Kirche hat sich überlebt. Allerdings geht er von einem epochalen Wandel und einem Neuanfang aus, der auf die christliche Religion in Deutschland zukommt. Durch konsequente Hinwendung zu den Armen und Ausgegrenzten, so Marx' Credo, und die Rückbesinnung auf das Evangelium wird die Kirche die Kraft behalten, den gesellschaftlichen und geistigen Wandel mitzugestalten.Sein Buch sind 128 Seiten, die Mut machen sollen - und doch beschleicht dem Leser bei der Lektüre, dass hier ein Rufer ziemlich allein in der Wüste steht. Die Schwierigkeiten, die Marx' aufzeigt, sind für die Kirche real und drängend. Aber die Abzweigung von diesem Weg in die zunehmende Bedeutungslosigkeit ist so klar nicht erkennbar, wie der Autor - sicher schon von Amts wegen - glauben machen möchte. Es bleibt die Frage, ob die Kirche wirklich überlebt. In ihrer aktuellen Gestalt langfristig wohl eher nicht. Aber das wussten schon die Kirchenväter. Ecclesia semper reformanda. Also doch noch nicht alles verloren? Kirche überlebt.

 

 

 

 

Charles Lewinsky: Kastelau. Roman

dtv, München 2015

 

Manche Geschichten haben einen so absurden Plot, dass sie entweder nur als Klamotte oder als Drama durchgehen können. Dieser Roman erzählt nicht nur eine verrückte Story, sondern er ist auch in seiner äußeren Struktur derart komplex-fantastisch, dass sich sowohl inhaltlich als auch formal Wirklichkeit und Fiktion so weit ineinander schieben, dass sie kaum mehr zu unterscheiden sind. Das macht seine fesselnde Faszination aus. Ende 1944 macht sich ein Filmteam der UFA aus dem immer stärker unter dem Bombenkrieg leidenden Berlin auf den Weg ins Berchtesgadener Land - fernab jeglicher Kriegshandlungen -, um angeblich einen Propagandafilm mit dem Titel "Lied der Freiheit" zu drehen. Alle Genehmigungen des Propagandaministeriums liegen vor. Der Großteil des Teams kommt allerdings auf der Autobahn im Fichtelgebirge bei einem Tiefflieger-Angriff ums Leben, die Ausrüstung ist zum größten Teil zerstört. Dennoch setzt der Rest der Film-Mannschaft den Weg fort, gabelt in München einen schwerhörigen (!) Tonmeister auf und will um jeden Preis in die Sicherheit der Alpen: nur nicht nach Berlin zurück, nur irgendwie die letzten Kriegsmonate überlegen. Unter den Augen des fanatischen NSDAP-Ortsgruppenvorsitzenden Heckenbichler tut die Crew in dem abgelegenen Dorf Kastelau so, als realisiere sie einen Film im Auftrag des Goebbels-Ministeriums. Das Drehen einer erfundenen Geschichte wird immer mehr zur erfundenen Geschichte eines Drehs. Am Ende mit tödlichem Ausgang für einen der Beteiligten. Der Plot ist eingefasst in eine Rahmenhandlung, in der ein verkrachter Filmwissenschaftler mit deutschen Wurzeln in Los Angeles eine Dissertation über diese bislang unbekannte Episode der Filmgeschichte schreiben will. Der Autor Charles Lewinsky - ein Schweizer Dramaturg, Regisseur und Redakteur - breitet ein Konvolut von Dokumenten aus: Befragungen von Zeitzeugen, Briefe, Tagebucheinträge, Wikipedia-Einträge, Notizen des Erzählers, Listen und Tabellen. Aber es ist alles nur Fiktion. Nichts an diesem dokumentarisch daherkommenden Roman ist real. Es gibt weder den deutschen Filmschauspieler Walter Arnold, der in Hollywood als Arnie Walton Karriere gemacht hat, noch gibt es den Doktoranden Samuel Saunders, noch die zitierten Wikipedia-Einträge und schon gar nicht das Dorf Kastelau, das heute angeblich ein abseits gelegener Ortsteil von Berchtesgaden sein soll. Der Roman ist von der ersten bis zur letzten Seite frei erfunden und ein origineller Lesespaß - und ich freue mich schon auf die Verfilmung. Denn danach schreit dieser Stoff geradezu. 

 

 

 

 

 

Tahar Ben Jelloun: Der Einschnitt. Roman

Berlin-Verlag, Berlin 2015

 

Während meiner Zeit in Marokko 2012 habe ich Tahar Ben Jelloun als Autor für mich entdeckt. Er gilt als einer der herausragenden marokkanischen Schriftsteller französischer Sprache. In seinem jüngsten Roman widmet er sich einem Thema, das in der Literatur erstaunlicherweise bislang noch keinem Miederschlag gefunden hat: dem Prostatakrebs. Anders als andere, typisch weibliche Krebsarten, die längst literarisch verarbeitet sind,  gab es noch keinen Schriftsteller von Rang, der über seine persönliche "Entmännlichung" geschrieben hat. Denn es ist der Autor selbst, der all das hinter sich hat, was er seinem Protagonisten, einem in Paris lebenden Mathematiker, durchmachen lässt: die Diagnose, das Abwägen verschiedener Behandlungsmöglichkeiten, die Operation, die Impotenz, das Infragestellung seines Seins als Mann. Ben Jelloun verschweigt in der großen Katastrophe der Krankheit auch die kleinen Katastrophen nicht, die sie nach sich zieht. Schonungslos und doch lyrisch und intim schildert er all das, was der Prostatakrebs mit einem Mann macht. Doch das Buch ist auch eine Eloge auf die Liebe und das Leben, es ist tröstlich ohne ein Happy End zu haben. Einem männlichen Leser geht dieser Roman naturgemäß besonders nah. Er trägt dazu bei, ein Thema zu enttabuisieren, das jährlich allein in Deutschland mehr als 70.000 Männer neu betrifft.

 

 

 

 

James Salter: Jäger. Roman

Berlin-Verlag, Berlin 2014

 

Als 2014 der Erstling des amerikanischen Romanciers James Salter in deutscher Sprache nach fast 50 Jahren erschien, wurde er von der Kritik gefeiert, "Zeit-Online" nannte den Roman gar "ein Buch zum Niederknien". Mein Lese-Erlebnis war dagegen eher enttäuschend. Salter, der zwölf Jahre in der US-Air-Force als Kampfpilot gedient hatte, über 100 Einsätze im Koreakrieg geflogen war, verarbeitet diese Erfahrungen in "Jäger". Es ist die Geschichte des 31 Jahre alten Cleve Connell, der während des Koreakrieges an die Luftwaffenbasis Kimpo in Korea (heute der internationale Flughafen von Seoul) in eine hermetische Gruppe von Kampfpiloten kommt, die ein Heldentum pflegen, wie es in den Luftkämpfen des Ersten Weltkriegs geboren wurde. Was einzig zählt, ist der Abschuss sowjetischer MIG-15, die den amerikanischen F-86 technisch und fliegerisch überlegen sind. Wer fünf MIGs vom Himmel geholt hat, ist ein "Ass", ein Flieger-Held. Der Krieg am Boden mit seinem Leid, seinem Blut, seinen Toten ist für diese Männer weit entfernt. Es sind große Jungs, die sich einem berauschenden Spiel am Himmel hingeben und einem Pathos nacheifern, das schon zu jener Zeit überholt war: Der Luftkampf als ästhetischer Akt. Salter schreibt so klinisch rein, so abstrakt, so distanziert, wie diese Männer eben den Krieg erleben. Der Roman setzt sich über weite Strecken aus banalen Dialogen zusammen, die die innere Verfassung und äußere Haltung dieser "Helden" sicherlich gut spiegeln, die aber auf Dauer ermüden. Der 2015 verstorbene Salter gilt heute als einer der Großen der amerikanischen Literatur neben Ernest Hemingway, Joseph Conrad oder Henry Miller. Sein Erstling hat ihn nicht in diese erste Riege getragen - womöglich aber sein Alterswerk, das es für mich allerdings noch zu entdecken gilt.

 

 

 

 

 

Peter Scholl-Latour: Mein Leben

C.Bertelsmann, München 2015

 

Peter Scholl-Latour ist der Abenteurer unter den deutschen Journalisten. Weit gereist wie kein anderer, kannte er sich in Indochina ebenso aus wie im Nahen Osten, in Schwarzafrika oder in Frankreich. Der Sohn von Eltern aus dem Elsass und dem Saarland, der in Bochum aufwuchs und in der Schweiz und in Kassel zur Schule ging, war nach französischen Militärdienst in Vietnam und einem Volontariat bei der Saarbrücker Zeitung der erste Afrika-Korrespondent der ARD, der erste Leiter des Pariser ARD-Studios, WDR-Fernsehdirektor, Stern-Chefredakteur und vieles mehr. Er starb 2014 im Alter von 90 Jahren. Kurz zuvor war er noch mit der Bundeswehr auf Patrouille in Afghanistan. Seine Autobiographie hat er nicht mehr beenden können. Er hatte zu lange gezögert. Veröffentlicht werden konnte daher nur der - immerhin fast 450 Selten starke - erste Teil, der mit Charles de Gaulle endet, dessen Anhänger Scholl-Latour war. Leider wird die Nachwelt nicht mehr erfahren, wie es mit seiner Berichterstattertätigkeit im amerikanischen Vietnam-Krieg war, mit seiner Gefangennahme durch den Vietcong, mit seiner Reise mit Ayatollah Khomeini von Paris nach Teheran als Höhepunkt der islamischen Revolution, als Scholl-Latour für zwei Stunden aufgetragen wurde, die Verfassung der Islamischen Republik Iran zu hüten. Das ist schade. Im ersten Teil seiner Autobiographie erfährt der Leser viel über Scholl-Latours Herkunft, Jugend und Ausbildung, seinem konservativen Katholizismus aus Überzeugung, seiner Gestapo- und KGB-Haft. Das sind die interessantesten Kapitel. Denn hier ist er ganz persönlich, kommt er dem Leser ganz nah als Mensch. Der überwiegende Teil des Buches scheint indes zusammengeschrieben aus seinen Dutzenden Sachbüchern über Indochina, die arabische Welt, Afrika und durch die ein oder andere Erinnerung ergänzt. Viel Zeitgeschichte, viele bekannte Namen von Politikern, Schlachten, Krisenherden. Aber wenig persönliches über den Menschen, der das alles erlebt hat. Am Ende war das Buch eine Enttäuschung für mich, weil ich nicht viel mehr über den Mann erfahren haben, der als junger Journalist eines meiner großen Vorbilder war, der in seinen letzten Jahren bei Auftritten in Talkshows und politischen Fernsehsendungen jedoch mehr und mehr in eine unangenehme Überheblichkeit und Besserwisserei verfiel, die ihm wohl schon sein ganzes Leben als Grundcharakterzug eigen war. 

 

 

 

Jacky Sach / Jessica Faust: Zen ganz praktisch

Heyne, München 2004

 

Nachdem ich an einem Einführungskurs in die Zen-Meditation im Franziskaner-Kloster Hofheim/Taunus teilgenommen hatte, habe ich mir diese Einführung ins Zen besorgt - und war von der ersten Seite an hellauf begeistert. Die beiden amerikanischen Autorinnen beleuchten das Thema Zen derart umfassend, das keine Fragen offen bleiben. Von der Geschichte des Zen über die Zen-Techniken bis hin zum Einrichtung eines Kendo (Meditationsraums) und zu den Wechselwirkungen zwischen Zen und Alltag, Zen und Arbeit, Zen und Sport erläutert dieses empfehlenswerte Buch alles nur denkbaren Aspekte rund um diese Meditationstechnik. 

 

 

 

Robert Lessmann: Che Guevara

Diederichs, Kreuzlingen/München 2006

 

Für eine Dienstreise nach Bolivien im Oktober 2015 hatte ich die Biographie des Guerrilla-Kämpfers im Gepäck, weil er etwas mit Bolivien zu tun hat. Am 9. Oktober 1967 ist Ernesto Guevara de la Serna, genannt Che, in einem verborgenen Winkel Boliviens von Armee-Angehörigen erschossen worden, als er die Revolution in den Anden-Staat tragen wollte. Er wurde nur 39 Jahre alt. Eine Blutspur zog sich durch das Leben des in Argentinien geborenen Arztes, der an der Seite von Fidel Castro die kubanische Revolution entscheidend prägte und als Wirtschaftsführer vergeblich versuchte, die kubanische Wirtschaft umzubauen. Für 55 Exekutionen ist Che Guevara direkt verantwortlich, wieviele Menschen in Feuergefechten mit ihm in der Sierra Maestro oder anderswo ums Leben gekommen sind, ist nicht mehr nachzuweisen. Es dürften einige sein. Der Sohn einer gutbürgerlichen argentinischen Familie ist ein Kind des ideologieverseuchten 20. Jahrhunderts. Er suchte sein Heil im Sozialismus, für den er kämpfte und mordete. Ein Verblendeter einer vermeintlich guten Sache, der gut aussah und so zu einer Ikone seiner Zeit wurde. Sein Konterfei mit verdrehter Mütze mit Stern, langer Mähne und festem Blick gibt natürlich auch das Titelbild dieser konzisen Biographie her. Der Soziologe und Politologe Robert Lessmann zeichnet Guevaras Lebensweg kurz und knapp nach und bezieht sich dabei auf die umfassenden Biographien aus dem angloamerikanischen und spanischen Sprachraum. "Jesus mit der Knarre" nannte der Liedermacher Wolf Biermann Che Guevara. Im Gegensatz zum richtigen Jesus ist von diesem vermeintlichen Heilsbringer kaum etwas geblieben als ein weggeworfenes Leben. Der kümmerliche Rest seines "Lebenswerkes" ist ein darbender Karibik-Staat, in dem die Not genauso groß ist wie die Sehnsucht der dort lebenden Menschen, diesem System endlich entrinnen zu können.

 

 

 

 

Tomás Eloy Martínez: Der Tango-Sänger. Roman

Suhrkamp, Frankfurt/M. 2005

 

Der US-Doktorand Bruno Cadogan kommt in das Buenos Aires des Jahres 2001, um eine Doktorarbeit über den argentinischen Tango zu schreiben. Dabei stößt er auf die Spur des ebenso mysteriösen wie begnadeten Tangosängers Julio Martel - einen schwer körperbehinderten, in die Jahre gekommenen, extrem gebrechlichen Mann, dessen Stimme aber das Innerste seiner Zuhörer aufwühlt. Der vielleicht beste Tangosänger aller Zeiten. Martel taucht an den unmöglichsten Orten unvermittelt auf, singt, verschwindet wieder, ohne dass Cadogan ihn zu fassen bekommt. Martínez, einer der bedeutendsten argentinischen Schriftsteller unserer Zeit, webt um diesen Julio Martel ein Gespinst aus Geschichten, Anekdoten, Essays, Protokollen, Antworten und noch mehr Fragen, in dem Buenos Aires zum Zauberort verklärt wird, mal real, mal ganz Fantasie. Zeitgeschichte, Architekturkritik, Musiktheorie, Stadtgeogreaphie, Literaturwissenschaft, der Bankenzusammenbruch des Landes und die Folter der Militärdiktatur - alles verschwimmt in einem Nebel aus fantastischen, unwirklichen, doch auch realen Begebenheiten. Nur: was ist wirklich? Was Trugbild? Martiínet schreibt den Leser schwindelig in eine Zwischenwelt hinein, hier das Wirkliche, da die Fantasie. Einer der vielschichtigsten und komplexesten Romane, die ich seit langem gelesen habe, ganz im Stile des magischen Realismus in der lateinamerikanischen Literatur.

 

 

 

 

Siegfried Lenz: Schweigeminute

Hörbuch

 

Der 18 Jahre alte Gymnasiast Christian aus dem fiktiven Ort Hirtshafen an der Ostsee verliebt sich in seine Englischlehrerin Stella Petersen. Nach anfänglichen Zögern erwidert die junge und attraktive Pädagogin Christians Avancen, es kommt zum Sex und einer gegenseitigen Liebe. Diese muss aber unerfüllt bleiben, weil Stella sich bei einem Segelunfall eine schwere Kopfverletzung zuzieht, an die sie wenige Tage später im Krankenhaus stirbt. Die Novelle aus dem Jahr 2008 nimmt ihren Ausgang in einer Gedenkfeier an der Schule, an der Stella unterrichtet hat. Die dortige explizite Schweigeminute wird zum Grundthema der Novelle, denn das Unausgesprochene bleibt zwischen Christian und Stella das bestimmte Element, das Schweigen über ihre verbotene Liebe gegenüber Dritten bildet ein drittes an den Buchtitel angelehntes Motiv, das Lenz in allen Schattierungen durchspielt. Siegfried Lenz ist für mich stets der kühle, distanzierte und wenig fantasievolle Schriftsteller aus dem Nordosten Deutschlands gewesen. Mit "Schweigeminute" ist er mir näher gekommen, weil er in dieser Novelle tief in das Seelenleben seiner Figuren, insbesondere Christians, eindringt. 

 

 

 

 

Andreas Altmann: Frauengeschichten

Piper-Verlag, München/Berlin 2015

 

Andreas Altmann (Jahrgang 1949) ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Reiseautoren. Er wurde für seine Reportagen mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet, er erhielt den Seume-Literaturpreis und den Reisebuch-Preis. Um die Wende vom 65. zum 66. Lebensjahr hat er jetzt eine ungewöhnliche Art Autobiographie vorgelegt - eine Lebensbeschreibung erzählt entlang der scheinbar endlosen Reihe von Frauen in seinem Leben. Angefangen bei seiner verhassten Mutter, die ihn versucht hat im Wochenbett zu töten. Endend mit einer 16-jährigen Schülerin aus Ostdeutschland, mit der er - schon an der Grenze zum Rentenalter - Sex hat. Und dazwischen eine dreistellige Zahl von Frauen in aller Herren Länder und den je eigenen und besonderen Erlebnissen mit ihnen im Bett. Wobei er ausdrücklich nur die erwähnt, die ihn in irgendeiner Weise geprägt oder verändert hätten oder die ihm etwas fürs Leben mitgegeben hätten. Was für ein doller Hecht! wird der eine männliche Leser neidisch ausrufen. Was für ein armer, bindungsunfähiger Kerl, der die Liebe nicht gefunden hat im Leben! der andere. Und die weiblichen Leser? Wer weiß... Altmanns ständige Betonung, dass er nicht geeignet sei für eine feste Beziehung nervt spätestens nach der fünften, sechsten Wiederholung. Das merkt der Leser bei seinem Frauenverbrauch auch so. Der Autor legt indes implizit wert auf die Feststellung, dass man sich ihn als glücklichen Menschen vorstellen müsse. Mag sein. Ein durchschnittliches Leben hat Altmann sicher nicht geführt. Seine Recherchen haben ihn in alle Kontinente geführt, und was er als Reporter erlebt hat, war oft hart an der Grenze des Erträglichen, manches Mal darüber hinaus. Seine unglückliche Kindheit hatte er kürzlich in dem Bestseller verarbeitet, dessen Titel alles aussagt: "Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend." Man wird auch bei "Frauengeschichten" den Verdacht nicht los, dass sich der Mann ein ordentliches (Lebens-)Problem von der Seele zu schreiben versucht. 

 

 

 

 

 

Klaus Rosen: Augustinus. Genie und Heiliger

Verlag Philipp von Zaubern, Darmstadt 2015

 

Augustinus von Thagaste (354-430) war einer der größten Philosophen und Theologen nicht nur seiner Zeit, sondern der Geschichte überhaupt. Vermutlich einer der größten Geister, die je gelebt haben. Der Sohn einer katholischen Mutter und eines heidnischen Vaters war Rhetoriklehrer, Schriftsteller und Bischof von Hippo Regius (heute Annaba in Algerien). Seine literarische Hinterlassenschaft wird auf rund 5,2 Millionen Wörter geschätzt, er übertrifft damit bei weitem Platon (600.000) und Aristoteles (875.000). Von seinen Werken haben sich 15.000 mittelalterliche Handschriften erhalten. Seinen Regeln folgten im Laufe der Zeit mehr als hundert Mönchs- und Nonnenorden. Augustinus hat das Christentum geprägt wie vor ihm nur Paulus und nach ihm wenige. Als Verfasser einer Autobiographie, den "Confessiones" ist er ebenso im Gedächtnis breiter Bildungsschichten geblieben wie durch sein Hauptwerk "Der Gottesstaat".

Die Literatur über ihn ist unübersehbar. Dieser Fülle an Forschungsarbeiten hinzugefügt hat der emeritierte Eichstätter Historiker Klaus Rosen nun eine weitere Biographie. Rosen zeichnet Augustinus' Lebensweg mit dem Werkzeug des Historikers nach, er legt weniger Wert auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit seiner Theologie und Philosophie. Gleichwohl kommen Augustinus' Auseinandersetzungen mit den Manichäern (der er selbst zunächst war) und den Donatisten nicht zu kurz. Im Rahmen des für eine antike Persönlichkeit Möglichen gelingt Rosen mit dem gegebenen großen zeitlichen Abstand eine Annäherung an den Menschen Augustinus: er hatte Konkubinen, einen im Jugendalter verstorbenen Sohn, er trauerte um seine Mutter und er wurde krank von viel zu viel Arbeit. Das macht die solide und die Fülle des Quellenmaterials sicher beherrschende Biographie Rosens lesenswert. 

 

 

 

 

Roberto Morozzo della Rocca: Mich könnt ihr töten, nicht aber die Stimme der Gerechtigkeit - Oscar Romero (1917-1980)

Echter, Würzburg 2015

 

sowie

 

Martin Maier: Oscar Romero - Prophet einer Kirche der Armen

Herder, Freiburg i.Br. 2015

 

Die Seligsprechung Oscar Romeros am 23. Mai 2015 hat einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Kirchengeschichte Lateinamerikas des 20. Jahrhunderts den ihr gebührenden Platz zugewiesen. Der 1980 von rechten Todesschwadronen am Altar während des Hochgebets ermordete Erzbischof von San Salvador war schon vor mehr als 35 Jahren ein Vordenker dessen, was Papst Franziskus heute zum Programm erhoben hat: Kirche darf sich nicht mit den Mächtigen einlassen, sondern muss stets auf der Seite der Armen stehen. Nicht umsonst war dem Papst die Seligsprechung des Salvadorianers ein Herzensanliegen. Kurz nach der großen Feier im kleinsten Staat Mittelamerikas sind nun zwei Biografien über Oscar Romero in deutscher Sprache erschienen. Wer an einer klassischen, linear geschriebenen Lebensgeschichte des großen Seelsorgers interessiert ist, wird das Buch von Morozzo della Rocca in die Hand nehmen, einem Zeitgeschichtler an der Universität Rom III. Er hat jahrelang in El Salvador über die politische und die Kirchengeschichte Lateinamerikas  geforscht und ein gediegenes, informatives Porträt über Oscar Romero vorgelegt, das neben dem kirchlichen Wirken auch den Menschen beschreibt. Der Jesuit Martin Maier, der ebenfalls viele Jahre in El Salvador gelebt und geforscht hat, fasst die eigentliche Biografie Romeros recht kurz. In einem zweiten Teil bindet er sie stattdessen in einige Einzelaspekte ein, wie Romeros Verwurzelung in der ignatianischen Spiritualität oder der Theologie der Befreiung. Zuweilen entfernt sich Maier sehr weit von seinem eigentlichen Gegenstand, eröffnet aber andererseits Perspektiven, die über Romeros Leben und Sterben weit hinausreichen. Es ist das theologischere der beiden Bücher. Beiden gemeinsam ist die präzise Darstellung der beklemmenden politischen Situation El Salvadors in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, in der die katholische Kirche anders als in anderen Ländern Lateinamerikas sich nicht an die Potentaten, die Militärs und die mächtigen Familien anbiederte. Stattdessen setzte sie sich unter Romeros Führung am Ende zwischen alle Stühle: zwischen dem diktatorisch regierenden Establishment und den politisierten Befreiungstheologen - zwischen den Stühlen zwar, aber immer auf der Seite der Richtigen: der Armen.

 

 

 

 

Cornelius Bohl: Auf den Geschmack des Lebens kommen. Franziskanische Alltags-Spiritualität

Echter, Würzburg 2014

 

Auf meiner spirituellen Suche habe ich inzwischen Bekanntschaft mit den Franziskanern gemacht, die mich sehr ansprechen in ihrer Haltung: kontemplative Aktion, In-der-Welt-Sein, die ganze Schöpfung im Blick haben. Die kleine Reihe "Franziskanische Akzente", in der dieses Büchlein des Provinzialministers des Deutschen Franziskanerprovinz im Echter-Verlag erschienen ist, hat Menschen in ihrer Suche nach Glück und Sinn im Blick, die Impulse geben wollen für ein geistliches und schöpfungsfreundliches, sozial engagiertes Leben. Cornelius Bohl zeigt, wie Spiritualität nicht als etwas neben der Realität des Alltags Stehendes sein kann, sondern wie sie als tragfähiges Fundament die Wirklichkeit von innen her durchdringt. "Spiritualität ist eine Form der Lebenstüchtigkeit, nicht Flucht vor der Wirklichkeit", heißt es in dem Büchlein. Insofern stimmt der Spruch nicht: "Es gibt drei Formen von Realität - Speck, Geld und Sex - alles andere ist Spiritualität." Das zeigt die kleine Schrift des Franziskaners.

 

 

 

 

 

Stephen Clarke: Überleben unter Franzosen. Ein Schnellkurs in 10 Lektionen

Malik, München 2008

 

Der Engländer Stephen Clarke lebt seit 12 Jahren als Journalist und Verleger in Frankreich und hat nach seinem erfolgreichen Roman "Ein Engländer in Paris" ein Buch voller Beobachtungen, Anekdoten und Anmerkungen zu den Franzosen geschrieben. Der richtige Reisebegleiter für einen Besuch in Paris im August 2015 und anregende Lektüre für eine sechsstündige Busfahrt. Anders als manch anderes Buch dieses Genres, ist Clarke nicht albern. Ganz im Gegenteil, aus jedem Absatz wird eine kritische Haltung gegenüber den Franzosen deutlich. Seine Vergleiche mit England und Amerika sind erfrischend (normalerweise vergleichen Bücher deutscher Autoren naturgemäß Frankreich mit Deutschland, was für mir nach mehr als 35 Jahren Beschäftigung mit Frankreich überdrüssig ist). Auch gewährt er einen tiefen Einblick in gesellschaftliche Konventionen und in sprachliche Finessen, die mir noch neu waren. Ich habe das Buch nicht nur als gute Unterhaltung auf einer Reise empfunden, sondern auch als Bereicherung meiner Frankreich-Kenntnisse.

 

 

 

 

Andy Weir: Der Marsianer. Roman

Heyne, München 2014

 

Dass ein Roman von der halben Familie in wenigen Tagen durchgelesen wird, hat es selten bei uns gegeben. "Der Marsianer" ist ein Buch, das es Frau und ältestem Sohn ebenso angetan hat wie mir. Zuerst habe ich es im Juni in den Buchhandlungen in den USA gesehen - ein Megaseller auf eigenen Präsentationstischen. Dann vor einigen Wochen im Internet ein erster Trailer der Verfilmung von Ridley Scott mit Matt Damon in der Hauptrolle. Daraufhin habe ich es zur Hand genommen - und konnte es nicht mehr hergeben, bis ich die gut 500 Seiten durch hatte. Dabei mag ich Science Fiction eher im Film als im Buch. Aber der Erstling des amerikanischen Programmierers Andy Weir ist packend buchstäblich von der ersten bis zur letzten Seite. Eine Robinsonade, die ihre Vorbilder in dem Klassiker von Daniel Defoe und in dem amerikanischen Spielfilm "Notlandung im Weltraum" von 1964 hat. Weir gelingt eine derart plausible Darstellung der Situation des nach dem Notstart einer Marsmission für tot gehaltenen und auf dem Roten Planeten zurückgelassenen Astronauten Mark Watney, dass das Buch in der Beschreibung eines Marsprogramms eine Blaupause für künftige Projekte der NASA sein könnte. Der Autor hat jahrelang recherchiert und erzählt packend vom Überlebenskampf des Astronauten auf dem Mars. Die verblüffenden technischen Details machen den Reiz dieses Romans aus, ebenso der unbändige Überlebenswille des Protagonisten, der am Ende allen Widrigkeiten trotzt. Insofern ist es ein sehr amerikanisches Buch. Eine ideale Urlaubslektüre aber allemal. Etwas mehr Psychologie und Einblicke in die Seele Watneys hätten gut getan, aber auch ohne zu tief ins Menschliche abzugleiten, ist der "Marsianer" das, was das Wall Street Journal von dem Buch meint: "Einer der faszinierendsten Science-Fiction-Romane, die je geschrieben wurden. Einfach genial."

 

 

 

 

Stephan Schuhmacher: Zen. Die unlehrbare Lehre

Kösel, München 2015

 

 Zen ist bei uns zu einem der meistgebrauchten Begriffe geworden, wenn es um östliche Lebensweise oder Weisheit geht. Er ist "in", und die Nachfrage nach Zen ist groß: im Franziskaner-Kloster Dietfurt in Bayern beispielsweise wird in Zen eingeführt, die Kurse haben jedes Mal eine lange Warteliste. Ob Managerschulungen, Interior Design oder Gartenarchitektur: Zen steht für Ausgeglichenheit, innere Ruhe, Maßhalten, Fokussierung auf das Wesentliche, existenzielle Fragen. Je mehr die traditionelle christliche Spiritualität im Westen verloren geht, desto mehr scheint diese fernöstliche Weisheitslehre, diese Mischung aus indischem Buddhismus und chinesischem Taoismus im Westen an Boden zu gewinnen. Stephan Schumacher ist Sinologie, Japanologie, Soziologe und Psychologe. Er wurde 20 Jahre in Zen geschult, darunter fünf Jahre in Kamakura, Japan. In seinem Buch gibt er einen Einblick in Überlieferung und Praxis dieser 1500 Jahre alten spirituellen Tradition. Der paradoxe Untertitel sagt dabei vieles aus über den Charakter des Buches: Zen ist unlehrbar, es ist aber Schritt für Schritt praktizierbar, auf andere Weise nicht vermittelbar. Ein Buch über Zen kann daher nur der unzulängliche Versuch sein, sich dieser Lehre anzunähern. Immerhin: es hat mein Interesse geweckt und macht mich neugierig, mehr zu erfahren über diesen interessanten Weg geistiger Schulung und innerer Freiheit.

 

 

 

 

Klaus Hemmerle und Wilhelm Breuning / Franz-Josef Bode und Erwin Dirschel u:

Wie heute als Priester leben? 2 x 10 Provokationen

Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2015

 

Ein Bischof und ein Dogmatikprofessor haben Anfang der 80er Jahre zehn damals viel beachtete provokante Thesen zur priesterlichen Lebensform formuliert: Klaus Hemmerle war Bischof von Aachen, Wilhelm Breuning lehrte an der Universität Bonn. 2015 wurde er 95 Jahre alt. Dies war der Anlass für zwei seiner ehemaligen Doktoranden - Franz-Josef Bode ist heute Bischof von Osnabrück, Erwin Dirschel Professor an der Uni Regensburg - die damals formulierten Thesen anzuschauen. So wurde aus dem damaligen Autoren-Duo ein Autorenquartett in spiegelbildlicher Konstellation: zwei Bischöfe, zwei Dogmatikprofessoren. Ein interessantes Unterfangen. Es zeigt sich, dass die damaligen Thesen von Hemmerle und Breuning nicht nur von bleibender Aktualität sind, sondern sich zumeist sogar noch mit Blick auf die Situation im Jahr 2015 zuspitzen lassen. Beispielsweise: "Wichtiger ist, wie ich als Priester lebe, als was ich als Priester tue." Oder: "Wichtiger ist, die Mitarbeiter geistlich zu begleiten, als möglichst viele Arbeiten selbst und allein zu tun." Oder: "Wichtiger ist, an wenigen Punkten ganz und ausstrahlend da zu sein, als an allen Punkten eilig und halb". Was damals schon richtig war, ist es heute erst recht. Die Zahl der Priester hat seit der Veröffentlichung von Hemmerle und Breuning dramatisch abgenommen, die Pfarreien sind ungleich größer geworden, die Stressoren für Priester haben sich vervielfacht. Die Thesen zwingen zum Innehalten und Nachdenken über die Rolle des Priesters, seine Berufung und das was in seinem Lebenszeugnis wirklich zählt. Insofern ist das Büchlein das, was es in der Widmung verspricht: Eine Ermutigung für alle Priester.

 

 

 

 

Jean Prévost: Das Salz in der Wunde. Roman

Manesse, Zürich 2015

 

 Jean Prévost ist einer der weitgehend unbekannten französischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. In den 20er und 30er Jahren war er im Pariser literarischen Leben eine wichtige Figur, Träger des Literaturpreises der Académie française. Nach seinem frühen Tod im Alter von 43 Jahren als Kämpfer der Résistance, geriet seinName und sein Werk in Vergessenheit. Nun hat der Manesse-Verlag dankenswerterweise seinen 1934 geschriebenen Roman "Le Sel sur la plaie" erstmals auf Deutsch veröffentlicht. Es ist die Geschichte eines jungen Juristen, der aus einem nicht ganz plausiblen Grund (angeblich hat er eine Geldbörse gestohlen) vor seinem Pariser Freundeskreis in die Provinz flieht und in der muffigen Kleinstadt Chateauroux im Departement Indre sein Glück macht. Dieudonné Crouzon kehrt als Selfmademan, erfolgreicher Zeitungsverleger und Werbeunternehmer, als Millionär, Ehemann einer schönen Frau und Vater eines kleinen Sohnes nach Jahren der Entsagung und der Selbstausbeutung in die Hauptstadt zurück und hat es allen seinen ehemaligen Freunden gezeigt. Das Salz in der Wunde, der Hass auf die, die ihn ausgeschlossen hatten, hat all die Jahre gebrannt. Der impulsive, zu Gefühlsausbrüchen neigende Protagonist hatte sich aufgeopfert, Nächte durchgearbeitet, teilweise rohe Gewalt angewendet, immer neue Ideen zu Geld gemacht - und erlebt am Ende Genugtuung. Wirkt der Anlass für dieses Streben auch recht konstruiert und ist die zunächst grobe Zeichnung der Charaktere literarisch wenig raffiniert, so nimmt der Roman doch bald Fahrt auf und fesselt mit der Darstellung dieses Parvenüs, der vor dem Hintergrund der sich revolutionierenden Medien in den 20er Jahren unbedingt nach oben will und stets die Zeichen der Zeit erkennt. Auch wenn die recht bemühte deutsche Übersetzung von Patricia Klobusiczky gelegentlich vom Plot ablenkt, wäre dem Buch zu wünschen, dass damit ein Großer der französischen Literatur auch hierzulande wiederentdeckt würde.

 

 

 

 

José Saramago: Eine Zeit ohne Tod. Roman

Atlantik, Hamburg 2015

 

Ein interessantes Gedankenspiel: Was wäre eigentlich, wenn auf einmal der Tod aussetzte, niemand mehr stürbe? Welche Auswirkungen hätte dies auf die Politik, Gesellschaft, Religion? Der portugiesische Literaturnobelpreisträger von 1998 José Saramago unternimmt eine Reise in ein fiktives Land unserer Tage, eine konstitutionelle Monarchie, in der das Unglaubliche Eintritt: seit Neujahr 0 Uhr stirbt dort niemand mehr. Anfangs hält man es für einen Zufall, je länger dieser Zustand jedoch andauert, desto drängender werden die Probleme: Krankenhäuser und Altersheime stehen vor dem Kollaps, Bestatter vor dem Konkurs. Lebensversicherungen geraten in die Krise, die katholische Kirche in Erklärungsnot. Die Regierung errechnet besorgt neue demographische Modelle. Verzweifelte Familien reisen über die Grenze in eines der drei Nachbarländer, um ihre schwerstkranken Angehörigen sterben zu lassen. Kaum haben sie die Grenze passiert, sterben die Todgeweihten und werden von ihren Qualen erlöst. Sieben Monate dauert dieser Zustand, dann kehrt der Tod in das Land zurück.

Leider bleibt Saramago in diesem Roman hinter seinen Möglichkeiten. Die persönlichen und familiären Dimensionen eines ewigen Lebens lotet er viel zu wenig aus, die politischen und gesellschaftlichen so gut wie gar nicht. Obwohl das doch am interessantesten gewesen wäre. Das Gedankenexperiment konsequent durchdeklinieren. Stattdessen verliert er sich in langatmigen Nebenfäden, etwa einer "Maphia" (mit ph!) genannten kriminellen Organisation, die von der Situation profitiert, und in grotesken Beschreibungen des personifizierten Todes, der plötzlich in dem gebeutelten Land erscheint und einem Cellisten nachstellt, der gar nicht sterben will. Dieser Parallelstrang nimmt immerhin das gesamte letzte Drittel des Buchs ein und ist eigentlich ein ganz eigener Plot, der mit dem eigentlichen Thema nur sehr wenig zu tun hat. So erscheint der Roman am Ende inkonsequent, über weite Strecken langweilig und am Thema vorbei. Die Lektüre war eine Enttäuschung für mich.

 

 

 

Hubert Wolf: Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte

C.H. Beck, München 2015

 

 Der Titel ist ein wenig reißerisch und womöglich verkaufsfördernd: "Unterdrückt" wurden nicht alle Traditionen der Kirchengeschichte, die der Kirchenhistoriker Hubert Wolf in Erinnerung ruft. Oft sind sie einfach nur vergessen oder von der Geschichte überholt worden. Einige hatten es in sich und hätten die heutige Kirche anders aussehen lassen, wenn sie sich durchgesetzt hätten: die Weihe von Frauen als Äbtissinnen mit quasi-bischöflichen Befugnissen im mittelalterlichen Spanien etwa, die Wahl der Bischöfe durch das Volk in den ersten Jahrhunderten, der Primat des Konzils über den Papst wie in Konstanz 1414-1418 oder die radikale Armut der Waldenser und anderer Basisbewegungen, die von der Amtskirche verketzert wurden. Die Kirchengeschichte ist keineswegs so geradlinig verlaufen, wie es rückblickend scheint. Einige Verzweigungen zeigt Wolf mit großem literarischem Talent auf. Am Ende setzten sich stets der Papst und die offizielle Vatikan-Sicht durch. Und spätestens mit dem Ersten Vatikanischen Konzil siegte das Dogma über die Geschichte - die Mehrheit der Bischöfe stimmte 1870 für das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes, gegen jede Einsicht von dessen historischer Unhaltbarkeit, vorgetragen vor allem von deutschen Bischöfen um den Oberhirten von Rottenburg Carl Joseph Hefele (die deshalb auch vorzeitig aus Rom abreisten). Seit dem ersten Vaticanum spielt die Kirchengeschichte für die Weiterentwicklung der Theologie keine Rolle mehr. Wolf schreibt dies bedauernd in seinem Resümee. Aber - es ist viel in Bewegung gekommen in der katholischen Kirche. Vielleicht erleben wir neben der Renaissance der Barmherzigkeit in der Kirche auch eine neue Blüte der Kirchengeschichte.

 

 

 

 

Beppe Severgnini: Überleben in Amerika. ...ohne fromm, unbescheiden oder tiefgefroren zu werden

Blessing, München/Zürich 2009

 

 Als Vorbereitung auf meine Reise nach Chicago und Indiana Ende Mai/Anfang Juni 2015 griff ich zu diesem schon vor einigen Jahren auf Deutsch veröffentlichten Buch des italienischen Journalisten Severgnini, der 1994 (!) ein Jahr lang in Washington gelebt hat und über seine Erlebnisse in diesem Auslandsjahr berichtete. Vieles von dem, was er launig und bisweilen komisch erzählt, gilt auch heute noch: die Liebe der Amerikaner zu Klimaanlagen, die riesigen Becher dünnen braunen Wassers, die sich "Small Coffee" nennen, der alltägliche Wahnsinn mit dem Handwerker, das rasend schnelle Zustandekommen von "Freundschaften", die aber doch an der Oberfläche bleiben, der Smalltalk und vieles mehr. Das Buch ist eine wundervoll leichte Einstimmung auf eine USA-Reise. Freilich hätte das Lektorat Severgninis Anmerkungen zum Thema Computer und Internet hart überarbeiten oder besser noch ganz rausstreichen müssen. Denn was der Autor hierzu schreibt und in Begriffe kleidet wie Modem, AOL, Compuserve, die heute wie aus der Antike des Computerzeitalters klingen, ist bestenfalls rührend. Eigentlich ist es ärgerlich. Denn wovor er 1994 noch staunend stand - die Computerisierung des gesamten Alltags und der sich anbahnende Siegeszug des Internets - ist heute mit Sicherheit kein Unterschied mehr zwischen den USA und Europa. iPhone & Facebook, Twitter und Google sind in den USA im Jahr 2015 eine ebensolche Selbstverständlichkeit wie in Europa - und in einem Buch über die USA sollten sie daher keine Rede mehr wert sein. Das galt auch schon 2009, als Severgninis Buch in Deutschland auf dem Markt kam.

 

 

 

 

Johannes Bruges:  360 Grad westwärts. Im Propellerflugzeug in 80 Tagen um die Welt

Malik, München/Berlin 2015

 

Es gibt noch Abenteuer! Der 1965 geborene Bayer Johannes Burges und sein 13 Jahre jüngerer deutsch-amerikanischer Freund Wolf Schroen haben ein ganz besonderes Abenteuer realisiert: sie sind mit einem kolbengetriebenen Propellerflugzeug, einer viersitzigen Maschine vom Typ Mooney, um die Welt geflogen! Und zwar in westlicher Richtung. Gegen den auf der Nordhalbkugel vorherrschenden Wind. Das haben zuvor seit Erfindung des Flugzeugs ganze 44 Piloten geschafft. Bruges und Schön gehören jetzt zum elitären Pilotenzirkel der "Earthrounders". Burges ist dabei ein ganz normaler Mittelstands-Deutscher, Inhaber eines IT-Systemhauses in der Nähe von München, verheiratet, eine zehnjährige Tochter. Er hat erst ein paar Jahre vor diesem Abenteuer seinen Pilotenschein gemacht und hatte nicht mehr als ein paar hundert Flugstunden zusammen, als er in Straubing mit dem fast 20 Jahre alten Flugzeug aufbricht. In seinem packenden Reisebericht lässt er den Leser teilhaben an den zum Teil unglaublichen Erlebnissen, die er und sein Begleiter auf der Tour 360 Grad westwärts um die Welt hatten: von Straubing über Bremen nach Wick in Schottland. Weiter nach Island, über Grönland nach Kanada. Von dort quer über die USA und über die Aleuten nach Japan. Runter nach Indonesien, Papua-Neuguinea nach Australien. Wieder hoch nach Singapur, Bhutan, Kuwait und über die Ukraine zurück nach Straubing. Alleine der elfstündige Flug im Überlebensanzug über den Nordpazifik von der verlassenen US-Insel Attu nach Sapporo in Japan wäre ein eigenes Buch wert gewesen. Von den Erlebnissen in Papua-Neuguinea, wo beide Piloten für Terroristen gehalten werden, ganz zu schweigen. Das Buch hat mich schwärmen lassen. Eine Weltumrundung mit meiner Cessna 172 vom Fliegerclub Trier wird es sicher nicht werden. Aber nach der Lektüre bin ich mir sicher: auch ich lebe weiter meine Träume. Auch in Europa kann man fliegerisch einiges erleben. Und sein Können im Cockpit immer weiter verbessern. Auch dafür war mir das Buch ein wertvoller Impuls. Many happy landings, Johannes und Wolf!

 

 

 

 

Frido Mann: Das Versagen der Religion. Betrachtungen eines Gläubigen

Kösel, München 2013

 

 Es gibt Bücher, bei denen fragt man sich als Leser: was sollen sie? Mir ist es bei den "Betrachtungen" von Frido Mann so gegangen. Ich gestehe es: ich habe das Buch von vorne bis hinten nicht verstanden. Mann, Sprössling der berühmten Schriftsteller-Familie, im amerikanischen Exil geboren, ist von einer beeindruckend umfassenden Bildung: abgeschlossenes Musik-Studium, abgeschlossenes Studium der katholischen Theologie, abgeschlossenes Studium der Psychologie. Er wurde später Professor für Klinische Psychologie an den Universitäten Münster, Leipzig und Prag. Protestantisch getauft, später zum Katholizismus konvertiert, dann wieder aus der Kirche ausgetreten. Friedensbewegt, ökologisch angehaucht, Gutmensch.

Mann begibt sich in einen mäandernden Strom von Gedanken, angefangen beim West-Eastern-Divan Orchestra von Daniel Barenboim und endend bei den Metaphern "Liebe", "Licht" und "Leben". Dazwischen Exkursionen zum Milgram-Experiment und zu J. Robert Oppenheimer, zu Galileo Galilei, zu Kunst und Kultur in der Sinnerfahrung und zu quantentheoretischen Überlegungen zur Einheit von Natur, Kunst und Religion.  Ich habe einen roten Faden gesucht oder auch nur eine Kernaussage. Man muss den Klappentext lesen, um sie zu finden - demnach lautet seine These: "Die Religion bleibt weit hinter ihren Möglichkeiten - und ihrer Aufgabe - zurück." Rätselhaft.

 

 

 

 

Gregor Eisenhauer: Golf. Zehn Lektionen in der Kunst des Scheiterns

Heyne, München 2012

 

 Ende 2014 hatte ich Gelegenheit, bei einer Kollegin ein Putting Green fürs Büro auszuprobieren (was es nicht alles gibt!). Obwohl ich das letzte Mal vor vielleicht 40 Jahren einen (Mini-)Golfschläger in der Hand gehalten habe, klappte es auf Anhieb mit dem Einlochen. Ich ahne es: vermutlich kommt das Golfspielen auf mich so sicher zu wie das Alter. Dieser Sport reizt mich immerhin schon, seit ich vor mehr als 30 Jahren bei der Braunschweiger Zeitung volontierte und einer meiner Mentoren in der Lokalredaktion der Wolfsburger Nachrichten, Horst Michalzik, von seinen Golfreisen und -erlebnissen berichtete. Außerdem spielt meine halbe Familie Golf. Die Verbindung von Natur, Sportlichkeit, Geschick und Geselligkeit beim Golfen übt einen gewissen Reiz auf mich aus. Doch halt - Sportlichkeit? Der Germanist und passionierte Golfspieler Gregor Eisenhauer winkt in seinem erbaulichen Büchlein ab: "Die körperlichen Voraussetzungen für Golf kann man als Anfänger vernachlässigen, das ist das Geheimnis dieses Sports und zugleich sein Fluch." Die Unsportlichen sind nach seiner Beobachtung sogar deutlich in der Mehrheit. Eine der vielen launigen Erkenntnisse, die Eisenhauer in seiner kurzweiligen Einführung ins Golfspielen darlegt. Das Buch hat Freude gemacht - und erneut Lust auf diesen Sport. Wenn es soweit ist, komme ich auf den Titel zurück, insbesondere den Untertitel. 

 

 

 

 

Robert Seethaler: Ein ganzes Leben. Roman

Hanser, Berlin 2014

 

 Das Leben des Seilbahnarbeiters Andreas Egger auf rund 150 Seiten, konventionell erzählt, voller Poesie und Schönheit. Glück und Unglück, das diesem Knecht, Holzfäller, Seilbahnbauern und Fremdenführer in den Alpen aus ärmlichsten Verhältnissen, ein Findelkind ohne genaues Geburtsdatum, in den 79 Jahren seines Lebens widerfährt. Viel Leid dabei und noch mehr Armut. Vom Stiefvater derart mit der Gerte geprügelt, dass der Oberschenkel bricht und das Bein das Leben lang verkrüppelt bleibt. Von Marie, der einzigen Liebe in Eggers Leben, kurze Zeit Geborgenheit bekommen, ehe eine Schlammlawine die kärgliche Hütte und die Frau mit sich reißt. Von harter und härtester Arbeit am Berg sommers wie winters beim Bau von Seilbahnen in immer größere Höhen.Von acht grausamen Jahren in Russland, erst im Krieg im Kaukasus, dann im Lager in Sibirien. Vom Stolz und der Freude, den immer zahlreicher ins Tal kommenden Touristen die heimatliche Bergwelt zu zeigen. Von den Beschwernissen im Alter und einem einsamen Tod. Egger war nicht unglücklich, trotz seines erbarmungswürdigen Lebens. Er ist ein Vorbild an Duldsamkeit und Schlichtheit und Herz. Der Österreicher Seethaler erzählt die Geschichte dieses Niemands mit federnder Eleganz, dass es einem unter die Haut geht.

 

 

 

 

Michel Houellebecq: Soumission. Roman

Flammarion, Paris 2015

 

 Le roman de la saison en France et également en Allemagne après l'attentat islamiste contre le magazine Charlie Hebdo au début de janvier 2015. Je l'ai lu en français - le premier roman en français depuis 2012. Et cela m'a fait du bien, c'était d'un plaisir intellectuel et linguistique énorme. L'histoire se place dans un futur proche: François, un professeur de littérature parisien, spécialiste de l'auteur presque inconnu (Joris Karl Huysmans), sent venir la fin de sa vie sexuelle et sentimentale, avec pour seule perspective la vacuité et la solitude. Les bouleversements politiques entre jeunes identitaires cagoulés et les jeunes salutistes avant l'élection présidentielle française de 2022 amènent au pouvoir un leader charismatique d'un nouveau parti politique, "La Fraternité Musulmane", Mohammed Ben Abbes. Ce changement politique offre au narrateur une seconde vie et une seconde chance. La France est pacifiée, le chômage chute, les universités sont islamisées, la polygamie est légalisée. Grâce au soutien d'un ministre du nouveau président, François semble s'être lui-même convaincu de retrouver le chemin des honneurs et un poste à l'université au prix d'une conversion à l'islam. 

Après avoir lu "Carte et territoire" pendant mon séjour au Maroc 2012, j'adore Houellebecq pour son style naturaliste, sec et la réduction des sentiments de son personnage au minimum. "Soumission" est pour moi un roman extraordinaire pour les anticipations politiques et culturelles d'un futur probablement très proche en France et - qui sait? - également en Allemagne.

 

 

 

 

Wilhelm Genazino: Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands

dtv, München 2014

 

Ich mag Frankfurt. Mich hat es immer wieder dorthin verschlagen, zuletzt von 2010 bis 2012 als Auslandschef der Nachrichtenagentur dapd - in denselben Räumlichkeiten in der Moselstraße/Ecke Kaiserstraße, in denen ich 1990 als Student einen Sommer lang ein Praktikum bei der Associated Press machte. Mitten im Bahnhofsviertel. Damals noch eine flächendeckend sündige Gegend, heute eher bieder, in Teilen schick. Die verkommenen Ecken sind rar geworden. Den Wandel der Kaiserstraße und ihrer Seitenarme beschreibt auch der Schriftsteller und Wahl-Frankfurter Wilhelm Genazino in einer seiner Miniaturen über diese neben Berlin wohl internationalsten Stadt Deutschlands, die sich gerne mit den Metropolen der Welt misst und doch nur ein über sich selbst hinausgewachsenes Dorf ist - mit einer zugegebenermaßen wirklich bunten Mischung von Menschen aus aller Herren Länder. Das Buch ist eine Sammlung von Beobachtungen des Lebens und des Wandels in Frankfurt, ausgehend von der Zeil - die Zeil beschäftigt Genazino sehr, er kommt immer wieder auf sie zurück -, über stille Seitengassen bis ausgreifend nach Bergen-Enkheim und Schierstein. Viele der Beobachtungen hätten überall in Deutschland gemacht werden können, seine biographischen Einsprengsel und Spaziergänge in der "Main-Metropole" sind dagegen Unikate - und Frankfurt als solches ist es ohnehin. Eine wundervolle Lektüre für Frankfurter und jeden, der diese Stadt mag, so wie ich.

 

 

 

 

Bodo Kirchhoff: Verlangen und Melancholie. Roman

Frankfurter Verlagsanstalt 2014

 

 Mein erster Kirchhoff - verbunden mit der Feststellung, dass mir da offenbar etwas entgangen ist. Der Roman um einen pensionierten und verwitweten Feuilletonredakteur hat mich sehr beeindruckt allein schon durch die Kraft seiner Poesie. Kirchhoff ist für mich nach dieser Lektüre einer der besten zeitgenössischen deutschsprachigen Schriftsteller; ich werde mehr von ihm lesen.

Hinrich, der Protagonist des Buches, lebt allein in seinem Apartment in einem Hochhaus in Frankfurt. Vor neun Jahren hat sich seine Frau Irene das Leben genommen. Hinrich hat den Grund dafür nie erfahren, möglicherweise war es eine Kombination aus einer schweren Krankheit und der Entdeckung, dass Hinrich ein Verhältnis mit einer Ärztin hatte. Hinrich ist hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen nach der polnischen Kassiererin Zusan und dem Wunsch nach Einsamkeit, die er mit Melancholie, Erinnerungen an Irene und Tierfilmen im Fernsehen, später mit einem Hilfsjob im Museum füllt. Er nähert sich Zusan an, lässt ihr in Warschau sogar eine große Summe Geld überbringen, flüchtet dann aber doch, als es zur entscheidenden Begegnung kommen soll. Das gleiche geschieht mit seiner Jugendfreundin Almut, die er auf einer Italien-Reise wiedertrifft. Am Ende nutzt Hinrich die Chancen nicht, seine Einsamkeit zu beenden. Er kehrt mit einem zugelaufenen Hund aus Italien zurück.

So schön Kirchhofs Sprache ist, so geheimnisvoll er den Plot konstruiert, so stereotyp sind die Orte, an denen der Roman spielt: Frankfurt: die kalte und unintellektuelle Bankenstadt. Italien: Land einzigartiger Kultur und des Dolce Vita. Polen: Stätte des größten deutschen Verbrechens. Als gäbe es da nicht noch mehr, als wäre jeder dieser Orte nicht differenzierter zu sehen. Der Roman endet unbefriedigend. Aber es bleibt einfach der Eindruck einer prachtvollen, künstlerisch bis in höchste Höhen elaborierten Sprache, die sich der Kerngefühle des Romans - Verlangen und Melancholie - wundervoll annimmt.

 

 

 

 

 

Hajo Schumacher: Restlaufzeit. Wie ein gutes, lustiges und bezahlbares Leben im Alter gelingen kann

Eichborn, Köln 2014

 

 Wohl keine Generation hat so am Thema "Alter" zu kauen wie die Baby-Boomer, deren Ruhestand inzwischen in greifbare Nähe rückt. Nie war die Altersphase länger, waren die Risiken des Alters größer als für die zwischen 1955 und 1965 Geborenen. Entsprechend groß ist die Vielfalt an Büchern zu diesem angstbesetzten und verunsicherndem Thema. Der frühere "Spiegel"-Journalist und Fernsehmoderator Hajo Schumacher, Jahrgang 1964, hat sich auf die Suche nach möglichen Lebensformen im Alter gemacht und stellt zum Teil ganz und gar überraschende Möglichkeiten vor. Ob es die wieder aufgekommene mittelalterliche Beginen-Bewegung in Essen, das komfortable Altenheim in Oberschlesien für ehemals Heimatvertriebene, die Intellektuellen-Kolonie in Thailand und die Edel-Resident "Tertianum" in Berlin ist: die Modelle werden differenzierter. Natürlich ist der Autor in guter journalistischer Manier auch in einem ganz normalen Pflegeheim gewesen und hat teilnehmend-beobachtend als Praktikant den Betrieb mitgemacht, mit wundgelegenen Bewohnern und Wechsel der Bettpfanne und allem was dazugehört - das ist das apokalyptische Szenario, das einem sofort einfällt, wenn man ans Alter denkt. Aber in Zukunft wird diese Option nur noch eine von vielen sein. Die Babyboomer waren immer schon kreativ. Allein ihre enorm große Zahl wird zu einer Ausweitung und Verfeinerung des Angebots führen. Das ist das Beruhigende an dem Buch - es zeigt, dass es kein "Standard-Alter" in Zukunft geben wird, sondern einen wachsenden Markt der Möglichkeiten, für jeden Geldbeutel etwas Passendes, vor allem aber für jeden Spleen. Nichts anderes kennen die Babyboomer von jeher. Allerdings gilt auch für ihre persönliche Planung des 3. und des 4. Alters: sich früh drum kümmern und gut planen, das muss schon sein. Hier leistet Schumachers Buch wertvolle Hilfestellung. Auch ich habe ein sehr interessantes mögliches Lebensmodell für meine Zeit im Ruhestand darin gefunden. Eines, an das ich nie vorher gedacht hätte, das aber eine Überlegung wert ist. Und nun habe ich sogar Ansprechpartner, Telefonnummer und Mailadresse. Denn auch diese praktischen Dinge liefert dieses nützliche Buch.

 

 

 

 

J.D. Salinger: Die jungen Leute. Stories

Piper, München 2014

 

 Wer hat Salingers "Fänger im Roggen" nicht schon im Englischunterricht gelesen? Es ist das einzig wirklich bekannte Buch des amerikanischen Erzählers und zumindest in meiner Schulzeit ein Standardwerk im Unterricht gewesen. 1951 erschienen, hat es den damals 32 Jahre alten Autor schlagartig weltberühmt gemacht - ein literarisches Dokument des Weltschmerzes und der Rebellion. Eine Ikone seiner Generation. Und eine Sensation, weil es rund 50mal das Wort "fuck" enthielt - damals etwas ganz Neues. Salinger hat sich kurz darauf aus dem literarischen Betrieb nach New Hampshire zurückgezogen und nach 1965 nie wieder etwas veröffentlicht. 2010 starb er. Vermutlich hat er sehr viel mehr geschrieben als die wenigen veröffentlichten literarischen Werke, doch seit seinem Tod tobt ein Streit um den Nachlass dieses seltsamen Schriftstellers mit dem Hang zur Einsamkeit, zur Weltflucht und zu sehr viel jüngeren Frauen.

Piper hat jetzt drei der ersten Kurzgeschichten in deutscher Erstübersetzung herausgegeben, die Salinger als Anfang Zwanzigjähriger veröffentlichen konnte: "Die jungen Leute" (die unbeholfene Begegnung zweier Jugendlicher auf einer Party),  "Geh  zu Eddie (der Streit zweier ungleicher Geschwister, in dem die vermeintlich unterlegene Schwester am Ende die Oberhand behält) und "Einmal die Woche bringt dich schon nicht um" (die hilflose Bitte eines jungen Mannes an seine verständnislose Frau, sich um seine demente Tante zu kümmern). Auch wenn der Klappentext es anders darstellt: man muss schon sehr genau in die Texte schauen, um das spätere psychologische Gespür Salingers für seine Figuren zu entdecken. Die Kurzgeschichten sind vor allem eines: sprachlich noch unbeholfen und wenig geschliffen. Sehr viel spannender dürfte sein Alterswerk sein. Doch was da im Familien-Archiv der Salingers lagert, ist wiegesagt geheimnisumwittert. Wünschenswert, wenn der Nachlass eines Tages publiziert werden würde.

 

 

 

 

 

E.O. Plauen: Vater und Sohn. 150 Bildergeschichten

Reclam, Stuttgart 2015

 

Zwischen den beiden abgebildeten Büchern liegen 77 Jahre. Die linke Ullstein-Ausgabe stammt von 1938, die rechte aus dem Hause Reclam von 2015. Die Ullstein-Ausgabe - leider inzwischen recht zerschlissen - ist ein Familienerbstück in meiner Bibliothek. Ich habe als Kind die Streiche von Vater und Sohn geliebt. Jetzt gibt es die Bildergeschichten, die in den 30er Jahren erschienen sind, endlich gesammelt und in neuer Aufmachung. Es ist dem Reclam-Verlag zu danken, dass er sie wieder einem breiten Publikum zugänglich gemacht hat. 

Ernst Ohser war ein begnadeter Zeichner, der unter den Nationalsozialisten nicht wohlgelitten war. Als die Berliner Illustrierte Zeitung 1934 das deutsche Gegenstück zur amerikanischen Micky Maus suchte, konnte Ohser liefern - durfte allerdings nicht unter seinem Namen publizieren, sondern kombinierte stattdessen seine Initialen und seine Heimatstadt: E.O. Plauen. Unter diesem Pseudonym wurde er weltbekannt. Die herrlichen Vater-und-Sohn-Geschichten Ohsers sind zeitlos und erfreuen auch heute noch den Betrachter, der in ihnen eine tiefe Menschlichkeit und scharfe Beobachtungsgabe entdeckt.

Im Sommer 2014 zeigte das Fallada-Museum in Carwitz eine sehenswerte Ausstellung zu Ohser, der in Hans Fallada einen kongenialen Kollegen hatte. War das Bild das Medium Ohsers, so war Fallada ein Meister des Wortes. Ihr Thema indes war dasselbe: der kleine Mann - mit seinen Nöten, aber auch seinen Freuden. 

 

 

 

 

Wilhelm Schmid: Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden

Insel-Verlag, Berlin 2014

 

Ein nachdenkenswertes Geschenk zum 50. Geburtstag. Dem Berliner Philosophen  - einer der wenigen Stars seiner Zunft - geht es um ein Gefühl, das sich auch bei mir mehr und mehr einstellt, je älter ich werde. Vieles hat man schon gesehen und erlebt, nicht alles mehr regt einen auf, nicht allen mehr muss man erreichen. Stand ich am Beginn meines Lebensweges vor dem was kommen sollte wie am Ende eines Bahnsteigs des Frankfurter Bahnhofs und schaute in die verwirrend große Vielfalt der Richtungen, in die sich die Schienen verzweigten, so sind die Zahl der Weichen im Laufe des Lebens immer geringer geworden. Noch gibt es sie, noch sind Weichenstellungen möglich, aber doch längst nicht mehr so viele wie mit Anfang 20 oder nach dem Studium. Gelassen ist, wer das Erreichte und den eigenen Weg bejaht und den nicht genutzten Chancen nicht nachtrauert, sondern sich über den eingeschlagenen Weg im Guten wie auch im Schlechten erfreuen kann. Schmid rät in zehn Kapiteln des kleinen Büchleins unter anderem zu Verständnis für die Eigenheiten des Alt- und des Älterwerdens, zum Genuss von Lüsten und Glück, zu Berührung und Liebe und Freundschaft. Praktische Philosophie eines Autors, der selbst auf der Suche nach Gelassenheit im Alter ist und dessen Reflexionen das eigene Nachdenken anregen.

 

 

 

 

Christopher Isherwood: Leb wohl Berlin.

Hörbuch

Hoffmann und Camper, Hamburg 2014

 

Nach erfolglosen Studien der Geschichte und der Medizin in Cambridge und London geht Christopher Isherwood, Sohn eines englisches Offiziers aus der Grafschaft Cheshire, 1929 nach Berlin, um Deutsch zu lernen. Bis Mai 1933 bleibt er in Deutschland, lebt in Mietskasernen zur Untermiete bei strengen Wirtinnen und in Familien auf dem absteigendem sozialen Ast, hält sich mit Englischunterricht über Wasser. Er lernt in der Metropole die unterschiedlichsten Menschen kennen, die er in seinem 1939 erschienenen Roman porträtiert: zwei junge Männer, die in fataler Weise voneinander abhängen, die vermögende jüdische Familie Landauer, deren Firmenerbe die drohende Katastrophe der Nationalsozialisten nicht wahrhaben will, die verruchte Sally Bowles, die sich durch die Betten schmieriger Filmmanager schläft, in der Hoffnung fürs Kino entdeckt zu werden. Und etliche andere. Isherwood, Autor und Ich-Erzähler in einem entwirft das Bild eines liebenswerten Deutschland, dessen Untergang sich allerdings bereits bedrohlich abzeichnet. Hoffmann und Campe hat 2014 den Roman neu herausgegeben und auch eine Hörbuch-Fassung, gesprochen von Stéphane Bittoun. Keine wirklich große Literatur, die Figuren bleiben merkwürdig konturlos. Aber eine interessante britische Perspektive auf die Endphase der Weimarer Republik und den Aufstieg der Nazis.

 

 

 

 

Paul Vallely: Papst Franziskus. Vom Reaktionär zum Revolutionär

Theiss, Darmstadt 2014

 

Unter der Fülle der Franziskus-Biographien sticht das Buch des britischen "Times"-Journalisten Paul Vallely durch seine distanzierte Sachlichkeit heraus - allerdings ist es gerade deshalb auch zuweilen recht trockener Lesestoff. Im Mittelpunkt steht die Wandlung des Jorge Mario Bergoglio vom erzkonservativen argentinischen Jesuiten-Chef zum barmherzigen Befürworter der Befreiungstheologie, der den Menschen und dessen Bedürfnisse vor das Dogma stellt. Vallely geht den Vorwürfen nach, Bergoglio habe sich zu stark mit der argentinischen Militärjunta eingelassen - und entkräftet diese. Das Bild, so zeigt sich, ist viel differenzierter. Bergoglio ist in schwerer Zeit auf vielerlei Weise für die Gläubigen und auch für seine Priester eingetreten, aber er hat auch Schuld auf sich geladen. Wer vermag unter den Umständen einer Diktatur darüber den Stab brechen? Viel wichtiger ist das Wissen um sein damaliges Agieren, das ihn nicht erst im Papst-Amt zu dem bescheidenen Menschen werden lassen, der er heute als Papst Franziskus ist. Wer Bergoglio aus seinem Lebensweg heraus verstehen will und fundierte Informationen sucht, kommt an Vallelys Biographie nicht vorbei.

 

 

 

 

Dave Eggers: Der Circle. Roman

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014

 

 Google, Facebook, Twitter, YouTube, Apple und noch ein paar andere Giganten der IT- und Internet-Branche in einem Unternehmen vereinigt: das ungefähr ist der Circle, ein fast die ganze Welt beherrschendes Unternehmen, das sich zum Ziel gesetzt hat, das Leben der Menschen auf dem Globus sicherer und angenehmer zu machen. Das Mittel: totale Transparenz. Alle sollen alles voneinander wissen, dann gibt es keine Kriminalität und kein Leiden mehr. Wenn alle auf alle aufpassen, bricht eine neue Epoche des Heils aus, so die Philosophie der drei Firmengründer.

Auf dem Campus des Circle in - natürlich - Kalifornien leben und arbeiten zehntausende Entwickler, Ingenieure, Marketing- und Kommunikationsprofis. Sie verdienen fantastisch und genießen zahllose Privilegien wie kostenlose Wohnheimplätze, Rundumversorgung und totale medizinische Überwachung. Die gut ausgebildete Mae Holland, Anfang 20, kommt durch persönliche Fürsprache einer Freundin nach einem ersten frustrierenden Job in einem Old-Economy-Unternehmen in den Circle und macht dort rasch Karriere, ja sie wird in kurzer Zeit zu der Ikone des Unternehmens, weil sie sich "transparent" machen lässt: sie trägt permanent eine Kamera und ein Mikrofon, und die Millionenschar ihrer Follower und Viewer verfolgt weltweit jeden ihrer Schritte, hört jedes ihrer Worte. Sie ist ein gläserner Mensch ohne jegliche Privatsphäre. "Alles Private ist Diebstahl" lautet ihr Motto. Mae begegnet auf dem Campus einem geheimnisvollen Mann, der sie vor der totalen Herrschaft des Circle warnt, doch sie schlägt seine Besorgnis in den Wind und ist Feuer und Flamme für die neue Welt der 100-prozentigen direkten Demokratie, des Friedens und der Sicherheit, die der Circle verspricht. Selbst als die Totalüberwachung ihren Ex-Freund in den Tod treibt, bleibt sie dem sektenhaften Unternehmen und seiner subtil-totalitären Ideologie treu.

Eggers' Roman steht in der Tradition von George Orwells "1984". Doch ist Mae Holland genau das Gegenteil von dessen Held Winston Smith. Sie macht freiwillig mit, muss zu nichts gezwungen werden, glaubt an die Idee des Circle, das alles beherrscht werden kann, wenn nur genügend Informationen vorliegen und keine Geheimnisse mehr existieren. Die FAZ hat "Circle" außergewöhnlicherweise nach Erscheinen ein ganzes Feuilleton gewidmet, nicht nur eine einzige Buchbesprechung. Sie hält das Buch für den ersten großen Roman des 21. Jahrhunderts. Das mag er - wenn überhaupt - nur wegen der Beschreibung der sehr nahen Zukunft sein, in der all die Überwachungssysteme des Circle zum Einsatz kommen könnten: Kameras an den entferntesten Ecken der Welt, Drohnen, Körperscanner, medizinische Überwachungsarmbänder fürs Handgelenk usw. Von der literarischen Qualität ist der Roman unterdurchschnittlich. Die Vision, die Eggers entwirft, ist allerdings beklemmend, die Spannung des Buchs entsteht allein aus der Darstellung dessen, was demnächst möglich sein wird. Möge uns diese totale Transparenz erspart bleiben und auch künftig Menschen Geheimnisse und ein Privatleben haben, an dem nicht hunderte, tausende oder gar Millionen Nachbarn in aller Welt teilhaben.

 

 

 

 

Olaf Ihlau: Weltmacht Indien. Die neue Herausforderung des Westens

Siedler, München 2006

 

 Gleich zu Beginn des neuen Jahres war ich eine Woche auf Dienstreise in Indien. Was ich in Bangalore und Mysore gesehen und erlebt habe, bekam einen informativen Hintergrund durch das Buch des langjährigen Indien-Korrespondenten und "Spiegel"-Auslandschefs Olaf Ihlau. Zwar nicht mehr ganz aktuell, aber dennoch voller Fakten und Erlebnisberichte, die auch heute noch gültig sind.

2034 wird Indien China an Bevölkerungszahl überholen. 2050 werden in Indien 1,6 Milliarden Menschen leben, auf dem ganzen Subkontinent (mit Pakistan, Nepal, Bhutan, Bangladesch und Sri Lanka) 2,2 Milliarden - mehr als in Nord- und Südamerika, Europa und Australien zusammen. Indien macht sich auf dem Weg zur Weltmacht, aber dennoch lebt fast die Hälfte der Menschen in bitterster Armut. Die habe ich bei meinem Besuch bedrückend wahrgenommen. Andererseits gibt es Superreiche wie der Stahl-Unternehmer Lakshmi Mittal, der für die Hochzeit seiner Tochter das Schloss Versailles gemietet und für das Fest 34 Millionen Euro ausgegeben hat. Für 60 Euro kann man dagegen bei einer Armenspeisung, die ich miterlebt habe, 400 Menschen in Indien satt machen. Die Gegensätze in diesem Land sind grotesk und verstörend. Ihlau geht ihnen auf den Grund, wägt die Chancen und Risiken des indischen Elefanten ab, der erst langsam - lange nach dem chinesischen Drachen und den südostasiatischen Tigern - in Bewegung kommt. Er wird die Welt mehr und mehr beschäftigen. Für eine Indien-Reise ist Ihlaus Buch genau die Ergänzung zu den einschlägigen Reiseführern.

 

Leo Tolstoi: Anna Karenina

Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994

 

Ich musste fast 50 Jahre alt werden, um die russischen Klassiker für mich zu entdecken. Dabei befindet sich "Anna Karenina" bereits seit 1996 in meiner Bibliothek, doch erst in diesem Herbst habe ich mich an das opus magnum gemacht. Ich hätte es früher tun sollen, denn der Roman ist eine Entdeckung! Tolstoi schildert meisterhaft-realistisch die Liebe einer Frau aus besten Kreisen zu einem schneidigen Offizier, die schließlich an der für die Verhältnisse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unmöglichen Beziehung zerbricht. Parallel zu der unglücklichen Großstadt-Geschichte von Anna und Wronski entwirft Tolstoi ein kontrastreiches Bild von der glücklichen Ehe zwischen Lewin und Kitty, die fern der Moskauer und Petersburger Aristokratie mit ihren Konventionen, Intrigen und ihrer Dekadenz auf dem Land zufrieden leben. Tolstoi ist genial in der Schilderung seines umfangreichen Personals ebenso wie in der psychologischen Analyse der Vorgänge und der detailreichen Beschreibung von Land und Leuten - nicht zuletzt in der Darstellung der vollkommen unproduktiven, selbstreferentiellen zaristischen Oberschicht. Die 1000 Seiten des Romans haben mich zunächst abgeschreckt, und , ja, ein Flaubert oder ein Maupassant hätten denselben Plot auf 150 Seiten statt auf 1000 erzählen können. Aber die auktoriale Klarheit Tolstois lassen die Opulenz leicht und bewältigbar erscheinen. In jedem Fall macht dieser Russe Lust auf mehr aus seinem Oeuvre - vielleicht "Krieg und Frieden"? - und erst recht auf andere russische Klassiker.

 

 

 

 

Martin Seiberl: Zeige mir, Herr, deinen Weg! Meine Erfahrungen im Priesterseminar

Pneuma-Verlag,München 2014

 

 Was genau geschieht eigentlich in einem Priesterseminar? Wie sieht die Ausbildung zum Priester aus? Wie funktioniert das Leben in einer solchen Gemeinschaft? In jüngster Zeit hat es die ein oder andere sensationsheischende Schrift gegeben, die das Priesterseminar skandalisieren wollte. Dabei leben in diesen traditionsreichen Ausbildungsstätten ganz normale junge Männer, die sich allerdings für einen Lebensweg entschieden haben, der sich grundlegend von dem ihrer Altersgenossen unterscheidet: Sie wollen Priester werden, sagen an bestimmten Einschnitten ihrer Ausbildung insgesamt viermal "Adsum" - Hier bin ich - als Antwort auf den Ruf Gottes, den siein sich spüren. Das letzte "Adsum" erfolgt bei der Priesterweihe, die am Ende dieser Ausbildung steht.

Der Priesteramtskandidat Martin Seiberl, der in Regensburg Theologie studiert und im dortigen Priesterseminar lebt, hat ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben. Sachlich schildert er die einzelnen Ausbildungsabschnitte und ihre Inhalte und gibt so einen längst überfälligen Einblick in das Leben hinter diesen Mauern, dem immer noch etwas geheimnisvolles, vor allem aber unverstandenes anhaftet. Leider gerät Seiberl an vielen Stellen sehr ins Dozieren, das Text wirkt in weiten Teilen abgehoben und spröde. Mehr Persönliches, mehr Anekdotisches hätte dem Buch gut getan. Es hebt sich aber insgesamt wohltuend von publizistischen Versuchen ab, das Priesterseminar als einen Hort von Verklemmung, Unfreiheit und Perversion darzustellen. Ich habe von Dezember 2012 bis August 2014 im Trierer Priesterseminar als Gast gelebt und die Kontakte mit der Kommunität als bereichernd empfunden. Schön, dass es jetzt ein informatives Buch über diese unbekannte Institution gibt.

 

 

 

 

Eduard von Keyserling: Dumala. Roman

Manesse, Zürich 2014

 

 Einer der - wenigen - düsteren Romane des baltendeutschen Schriftsteller. Die Winterstimmung passt genau in die Lektüre-Jahreszeit. Im abgeschiedenen Schloss von Dumala in Lettland erlebt der schwerkranke Baron Werland seine letzten Tage. Seine junge und attraktive Frau Karola gibt sich einer Affäre mit dem virilen Grafen Behrent hin. Sie ahnt nicht, dass der Pastor des Dorfes - der in einer nur äußerlich glücklichen Ehe mit der einfältigen Lene lebende Erwin Werner - still in sie verliebt ist. Werner beschließt Behrent umzubringen, um das Herz Karolas zu gewinnen. Doch im letzten Moment warnt er den zum Stelldichein bei Karola herbeieilenden Behrent vor der morschen Brücke. Während der Beerdigung des Barons kehrt Karola mit ihrem Geliebten aus Italien zurück, entschlossen fortan allein zu bleiben. Werner und Karola kommen nicht zusammen, die Einsamkeit umschließt sie wie die schneekalte baltische Winternacht, in der der Roman überwiegend spielt. In dem Roman findet sich ein berühmt gewordener Ausspruch Pastor Werners, der diese dem Menschen innewohnende existenzielle Einsamkeit umschreibt: "Wie die Pakete im Güterwagen so stehen die Menschen nebeneinander. Ein jeder gut verpackt und versiegelt, mit einer Adresse. Was drin ist, weiß keines vom andern. Man reist eine Strecke zusammen, das ist alles was wir wissen."

 

 

 

 

Joaquim Maria Machado de Assis: Dom Casmurro. Roman

Manesse, Zürich 2013

 

Eine Entdeckung! Und die perfekte Lektüre auf einer Brasilien-Reise. Machado de Assis ist DER brasilianische Schriftsteller, sein Roman Dom Casmurro gehört neben den Lusiaden von Camões und dem Buch der Unruhe von Pessoa zu den besten literarischen Werken der portugiesischen Sprache. Dass er mir vor meiner Reise nach Rio Grande do Sul und São Paulo unbekannt war, liegt an der geringen Verbreitung der portugiesischsprachigen Literatur in Deutschland. Die Handlung ist simpel, aber Stil und Form des 1900 erschienenen Romans sind großartig: Bento heiratet nach einigen Umwegen seine Jugendliebe Capitu. Als aus der Ehe ein Sohn hervorgeht, stellt Bento fest, dass dieser eine frappierende Ähnlichkeit mit seinem besten Freund Escobar hat. Ob Capitu Bento betrogen hat, an dieser Frage haben sich Generationen von brasilianischen Literaturwissenschaftlern abgearbeitet - mit dem Ergebnis: es kann sein, muss aber nicht. Machado de Assis lässt das kunstvoll offen. Mit seiner Eifersucht allerdings zerstört Bento seine Ehe. Am Ende sind alle tot, nur Bento lebt als Dom Casmurro (Herr Griesgram) in einem Haus, in dem er exakt sein Elternhaus nachgebaut hat. Der Roman ist auch eine Allegorie auf den Abstieg der Großgrundbesitzer-Elite Brasiliens nach der (quälend langsamen) Abschaffung der Sklaverei und durch den Aufstieg des städtischen Bürgertums. Bento will "die beiden Enden seines Lebens zusammenfügen", schafft es aber nicht. Ein eindrucksvolles Porträt eines gescheiterten Lebens und einer sozialen Schicht im Niedergang.

 

 

 

 

Gert Heidenreich: Die andere Heimat. Erzählung

Droemer, München 2013

 

In Vorbereitung auf eine Delegationsreise in der zweiten Oktoberhälfte nach Brasilien habe ich das Buch zum Film-Epos "Die andere Heimat" gelesen, in dem es um die Auswanderung aus dem Hunsrück im 19. Jahrhundert geht. Damals haben die Menschen massenhaft die bitterarme Heimat südlich der Mosel verlassen, um im brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do sul ein neues Leben zu beginnen. Nachfahren dieser Auswanderer aus dem Hunsrück wird unsere Delegation um Bischof Ackermann in wenigen Wochen aufsuchen. Der Film von Edgar Reiz, der im Frühjahr in die Kinos kam, hat Furore gemacht. Nach der Lektüre des Buches habe ich auch den Film gesehen - und habe somit einen guten Einblick in die Sozialgeschichte der Region beiderseits der Mosel bekommen, in die ich im August 2014 gezogen bin. Buch und Film vermitteln sehr gut das Elend in diesem armen Landstrich, aber auch die kleinen Freuden und großen Hoffnungen der Menschen - nicht zuletzt derjenigen, die in der Neuen Welt südlich des Äquators eine neue, eine andere Heimat fanden.

 

 

 

 

Bernhard von Becker: Babyboomer. Die Generation der Vielen

Suhrkamp, Berlin 2014

 

Ich bin ein Babyboomer. Geboren in den Jahren 1960 bis 1965 (ich gerade so noch...), sind sie angekommen in Unternehmen, Staat und Gesellschaft. Wir sind die Generation der höchsten Geburtenraten, die es je in Deutschland gab - und zwar sowohl in der alten Bundesrepublik wie in der DDR. 1964 war der Jahrgang mit den meisten Geburten: doppelt so viele wie im bisherigen Niedrigstjahrgang 2009. 1,36 Millionen Babys kamen 1964 zur Welt. 1965, in meinem Jahrgang, waren es etwas weniger. Aber immer noch viele. Und danach ging es bergab: die Pille wurde zum Massenphänomen, die Menschen in Deutschland entdeckten plötzlich andere schöne Dinge als das Kinderkriegen. Aber wir blieben - und gingen als massenhafte Kohorte durchs Leben. Brechend volle Kindergartengruppen, Klassenzimmer, Kasernen, Uni-Hörsäle, gnadenloser Konkurrenzkampf um die besten Jobs - und demnächst auch eine Masse von Altersheimbewohnern und Pflegebedürftigen. Der Jurist Bernhard von Becker, selbst Jahrgang 1963, hat ein amüsantes Buch geschrieben über die Generation der Vielen. Er belässt es nicht bei Reminiszenzen an unsere Kindheit - an "Bazooka"-Kaugummi, "Yps mit Gimmick"-Heftchen, dem Comic-Helden Michel Vaillant oder dem HB-Männchen im Fernsehen und anderem Inventar unserer Kindheit und Jugend, sondern er blickt voraus in unsere Zukunft, wenn zwar schon einige aus unserer Kohorte gestorben sind, wir aber immer noch eine Generation der Massen sind. Und er stellt dar, was uns von unseren Nachfolgern unterscheidet, der "Generation Golf", die jetzt allmählich ans Ruder kommt. Das Buch war so angenehm, dass ich es sogar während meines Umzugs von Neubrandenburg in die Vulkaneifel im August 2014 gelesen habe.

 

 

 

 

Burkhard Scherer: Buddhismus. Alles, was man wissen muss

Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005

 

Der Weg der Buddhisten zu einem Leben im Gleichmaß, in Ausgeglichenheit, in Achtung vor sich selbst und den Mitmenschen und -geschöpfen spricht mich an. Ich habe erste Erfahrungen in der Meditation gemacht und erlebe das Gedankengut des Buddhismus als bereichernd. Das Buch von Burkhard Scherer, Professor für indo-tibetanischen Buddhismus, ist keine leichte Lektüre. Es bietet sicherlich das, was der Untertitel verspricht: alles, was man wissen muss. Aber dieses "alles" ist zuweilen zuviel. Der Autor verliert sich in den verschiedenen buddhistischen Richtungen, in Details und in Nebensächlichkeiten, die für das Verständnis des Buddhismus nicht von Bedeutung sind. Den Lesefluss stört es, dass Scherer fast jeden Fachbegriff übersetzt - und das auch oft noch zweifach: in Sanskrit in Pali. Da wäre weniger mehr gewesen. Immerhin wird man auch über die kompliziertesten Windungen des buddhistischen Denkens und der buddhistischen Schule informiert. Aber man braucht ein solides Vorwissen, um sich mit Gewinn auf die Flughöhe dieses faktenreichen Buches zui begeben.

 

 

 

 

Bartholomäus Grill: Um uns die Toten. Meine Begegnungen mit dem Sterben

Siedler, München 2014

 

Bartholomäus Grill war langjähriger Afrika-Korrespondent der "Zeit". Er hat in Afrika mehr Menschen sterben sehen und mehr Leichen zu Gesicht bekommen als selbst Angehörige von Berufen, die per se mit dem Tod zu tun haben - Ärzte, Gerichtsmediziner, Bestatter. Seine Darstellungen des Todes im somalischen Bürgerkrieg, im Völkermord von Ruanda oder in den Aids-Hospitälern im südlichen Afrika gehen unter die Haut. Aber den größten Eindruck hinterlässt sein Buch in jenen Kapiteln, in denen es um das Sterben des einzelnen nahestehenden Menschen geht: des Großvaters, des Vaters, der Mutter und vor allem seines Bruders Urban, der - unheilbar an Zungenkrebs erkrankt - sich von der Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas beim Selbstmord assistieren lässt. Grill ist ein aufwühlendes Buch gelungen, das daran erinnert, wie wertvoll menschliches Leben ist und wie unwürdig in den allermeisten Fällen das Sterben. Es ist auch Grills persönliche Abrechnung mit der katholischen Kirche und der deutschen Gesetzgebung, die Sterbehilfe und damit ein selbstbestimmtes, humanes Sterben ohne unzumutbares Leiden ablehnen.

 

 

 

 

Alain-Fournier: Der große Meaulnes

Reclam, Stuttgart 2014

 

Wiederentdeckung des großen französischen Jugendromans, den in Frankreich jedes Kind kennt und der dort inzwischen eine Auflage von vier Millionen Exemplaren erreicht hat. Ein Klassiker der Moderne, geschrieben von Henri-Alban Fournier (der sich als Schriftsteller Alain-Fournier nannte), ein Solitär in der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Alain-Fournier starb noch nicht 28-jährig in den ersten Kriegstagen des Ersten Weltkriegs auf den Maashöhen bei Verdun. Sein Leichnam wurde erst 1991 in einem gemeinsamen Grab mit anderen Gefallenen entdeckt und im November 1992 auf einem Soldatenfriedhof beigesetzt.

Sein großartiger Roman aus dem Jahr 1913 wendet sich ab vom Naturalismus des 19. Jahrhunderts. Er ist ein großer Schritt in die literarische Moderne, eine Hommage an die Jugend, eine Verneigung vor der Freiheit und Ausdruck der Sehnsucht nach der Schönheit eines Traums, der mit der Realität verschwimmt. Der große Meaulnes (ausgesprochen: Mohn) ist ein junger Mann, den man später als Halbstarken bezeichnet hätte. Er kommt in die wohl geordnete Welt einer Dorfschule in der Sologne und begeistert sofort den Ich-Erzähler, Sohn des Schulmeisters. Meaulnes zeigt es allen. Mut, Tapferkeit, Pfiffigkeit und ein Drang nach Freiheit zeichnen ihn aus. Er entflieht für mehrere Tage dem Schulalltag und feiert in einem verwunschenen Schloss ein von Kindern organisiertes Fest. Dieses traumartige Fest ist die Schlüsselszene des Romans, auf die die folgende Handlung immer wieder zurückführt. Meaulnes verliebt sich in die Tochter des Schlossbesitzers, er sucht jahrelang nach ihr, findet sie, heiratet sie, sie schenkt ihm eine Tochter, stirbt. Da ist er schon längst wieder auf Wanderschaft, auf dem Weg ins nächste Abenteuer. Doch er kommt zurück, nimmt seine Tochter an und wird dereinst mit ihr zu neuen Abenteuern aufbrechen. Ein betörender, bestrickender Roman, der dankenswerterweise nun wieder neu bei Reclam vorliegt.

  

 

 

 

John Cornwell: Die Beichte. Eine dunkle Geschichte

Berlin-Verlag, Berlin 2014

 

 

Von den sieben Sakramenten der katholischen Kirche ist die Beichte das umstrittenste. Ganze 3 Prozent der Katholiken weltweit gehen heute noch zur Beichte. Dabei ist die regelmäßige Einzelbeichte immer noch für jeden Katholiken verpflichtend. Die kurze Zeit möglichen Gruppen-Absolutionen, die sich großer Beliebtheit erfreuten, wurden vom Vatikan wieder abgeschafft. Auch wenn die Beichte heute "Sakrament der Versöhnung" genannt wird, kann kaum noch ein Katholik etwas damit anfangen. Das liegt auch an der dunklen Geschichte dieses Sakraments, die der britische Theologe und Publizist John Cornwell erstmals nachzeichnet.

Die Beichte ist biblisch nicht begründet, sie wurde aber von der Kirche frühzeitig und dann jahrhundertelang als ein einzigartiges und hochwirksames Machtinstrument zur Disziplinierung der Gläubigen eingesetzt. Cornwell stellt fest, dass erst 1910 (!) Papst Pius X. das Beichtalter von der Pubertät auf 7 Jahre herabsetzte und die Zahl der Pflichtbeichten von bis dahin 1-2mal jährlich auf wöchentlich anhob. Nach Cornwells Beurteilung öffnete dieser konservativste aller konservativen Päpste des 20. Jahrhunderts damit dem sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche Tür und Tor. Denn gleichzeitig wurden Priesteramtskandidaten bis weit in die 60er Jahre extrem abgeschottet von der Welt und bar jeglicher Kenntnis der Entwicklungspsychologie des Kindes zu Beichtvätern herangezogen, deren lebensfremde, krude Theologie und persönliche Verklemmtheit bei gleichzeitig stetig zunehmender Freizügkeit des weltlichen Lebens zu einem beispiellosen Terror in den Beichtstühlen führte. Insbesondere die obsessive Untersuchung sexueller "Verfehlungen" selbst der jüngsten Pönitenten spielten dabei eine erschreckend große Rolle. Vom Thema Selbstbefriedigung waren die Beichtväter durch die Jahrhunderte hindurch geradezu besessen, besonders im 20. Jahrhundert. Auch das Zuspätkommen zur Messe oder auch nur das Verschlucken eines Regentropfens in der Zeit des Fastens zwischen Mitternacht und dem Empfang der Eucharistie am Vormittag galten selbst bei Kindern als Todsünde, kirchenrechtlich einem Mord gleichgestellt. Cornwells Darstellung dieser abstrusen Aspekte einer vollkommen entgleisten Theologie ist gewiss einseitig, aber in dieser Einseitigkeit ist sie gut recherchiert. Positive Aspekte der Beichte finden sich bei ihm nicht, die Geschichte der Beichte muss daher zwangsläufig eine "dunkle" bleiben. Allerdings ist das Buch auch kein schreierisches Niedermachen eines inzwischen weithin ohnehin abgelehnten Sakraments. Sondern es macht in aller Sachlichkeit deutlich, worin die Gründe dafür liegen, dass die Kirche hier ein Angebot vorhält, das die meisten Gläubigen offensichtlich weder wollen noch brauchen.

  

 

 

 

Thornton Wilder: Die Brücke von San Luis Rey. Roman

S. Fischer, Frankfurt/M. 1976

 

 Thornton Wilder ist einer der gebildetsten US-amerikanischen Erzähler des 20. Jahrhunderts. An deutschen und englischen Missionsschulen in Asien ausgebildet, studierte der Sohn eines Zeitungsverlegers und spätere Harvard-Literaturprofessor Romanistik und ist daher mit der französischen, spanischen und italienischen Literatur und Geisteswelt bestens vertraut. In der spanischen Kolonialwelt des 18. Jahrhunderts spielt der neben Die Iden des März berühmteste Roman Wilders: 1714 reißt die Hängebrücke von San Luis Rey in Peru, fünf Menschen stürzen in den Tod. Der italienische Franziskaner Bruder Juniper nimmt das Unglück zum Anlass, die Leben der fünf Verunglückten zu untersuchen, um daraus abzuleiten, warum Gott gerade diese fünf Menschen an diesem Sommertag zu sich heimholte. Juniper hat die Absicht, die Theologie zu einer exakten Wissenschaft, den Naturwissenschaften gleich, zu machen. Er braucht dafür Beweise für die Schlüssigkeit von Gottes Handeln. Allein, er findet sie nicht. Die Biografien der fünf Verunglückten weisen Brüche und Inkongruenzen auf wie bei jedem Menschen. Die Fünf waren weder nur gut noch nur schlecht, sie waren zugleich Täter und Opfer in ihren jeweiligen Leben, stark und schwach. Ein Beweis für Gottes Handeln an ihnen kann Juniper nicht finden. Sein umfangreiches Traktat wird ebenso wie er selbst von der Inquisition als "aufklärerisch" verurteilt und auf dem Scheiterhaufen in Lima verbrannt. Wilder erhielt für Die Brücke von San Luis Rey 1926 den Pulitzer-Preis. Mich hat der Roman stark angesprochen, weil auch ich mich frage, ob es hinter den Vorgängen in der Welt ein wie auch immer geartetes göttliches Handeln gibt, ob sie göttlichem Ratschluss folgen - oder ob sie, wovon ich mehr und mehr überzeugt bin, schlicht Zufälle sind.

 

 

 

 

Kay Sukel: Schmutzige Gedanken. Wie unser Gehirn Liebe, Sex und Partnerschaft beeinflusst. Hörbuch

auditorium maximum, Darmstadt 2014

 

 

Neurowissenschaftler sind dabei, den Code von Liebe, sexueller Anziehungskraft, Partnerschaft und Lust zu entschlüsseln. Wie alle Gefühle und Triebe, sind auch diese Phänomene an Materie gebunden: an die Biochemie des Gehirns. Bildgebende Verfahren zeigen, wie aktiv einzelne Hirnareale bei Verliebten oder sexuell erregten Menschen sind. Eine herausragende, im Detail noch nicht ganz verstandene Rolle spielen spielen dabei Neurotransmitter und Hormone wie Oxytocin, Vasopressin, Testosteron und Östrogen. Sie sind der eigentliche Regler von Lust und Liebe und - erstaunlicherweise - auch für Treue. Drei Prozent der Säugetierarten sind monogam, der Mensch gehört zu diesen elitären Kreis. Als Modell zur Erforschung dieser Zusammenhänge dient eine nordamerikanische Wühlmausart, die lebenslang mit einem einzigen Partner zusammenlebt. Warum das so ist, erklärt sich aus ihrer kargen Umwelt, in der das Zusammenbleiben zweier Partner die Überlebenschancen steigert, aber auch das Zusammenspiel der Neurotransmitter und Hormone in ihrem Gehirn. Und dessen Vorgänge sind gar nicht so weit entfernt von denen im menschlichen Nervensystem. Wichtigster Unterschied: der Mensch ist nicht Sklave seiner Biochemie, sondern kann sich von dieser in einem gewissen Rahmen durch Verstand und Vernunft lösen.

 

 

 

 

Sasa Stanisic: Vor dem Fest. Roman

Luchterhand, München 2014

 

 Ein Brandenburger Dorf als Kulisse für eine historische und psychologische Tiefenbohrung. Das in dem Roman des gebürtigen Bosniers Stanisic porträtierte Dorf Fürstenfelde heißt in Wirklichkeit Fürstenwerder und liegt in der äußersten Ecke der Uckermark, knapp an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern. Ich kenne es selbst sehr gut, und so war die Motivation groß, diesen Roman zu lesen, der den Preis der Leipziger Buchmesse 2014 gewonnen hat und eine der Überraschungen des Literaturfrühlings in diesem Jahr ist. Stanisic schildert in einzelnen, zunächst zusammenhanglos erscheinenden Episoden das Personal dieses sozialen Biotops und arbeitet die Leidenschaften, Macken, kleinen und großen Tragödien der Fürstenfelder heraus. Wie ein Volkskundler arbeitet er sich an die Menschen heran und gibt sie als liebenswerte, skurrile oder auch tragikomische Figuren wieder. Es entsteht ein facettenreiches, auf Geschichte und einer langen regionalen Tradition fußendes Bild eines Dorfes, das in vielerlei Hinsicht nicht nur typisch für die ehemalige DDR, sondern womöglich für ganz Deutschland ist. Was mich frappiert hat, ist der feinfühlige, kreative Umgang Stanisics mit der deutschen Sprache, die nicht seine Muttersprache ist. Mit viel Wortwitz und Ausflügen in diverse Soziolekte geht er ungewöhnlich sensibel und präzise mit der Sprache in seinem Roman um. Dass nicht zuletzt ein Reporter des Nordkurier und die Zeitung selbst in dem Buch auftauchen, hat mich besonders gefreut.

 

 

 

 

Jesse Bering: Die Erfindung Gottes. Wie die Evolution den Glauben schuf

Piper, München/Zürich 2011

 

 Der nordirische Evolutionspsychologe Jesse Bering legt in seinem ersten populärwisenschaftlichen Buch dar, wie die Evolution den Glauben geschaffen hat. Berings These geht vom objektiv vorhandenen religiösen Sinn des Menschen aus und fragt, welchen Vorteil diese Eigenschaft im Laufe der Entwicklungsgeschichte dem homo sapiens gebracht hat - sonst wäre sie ja nicht vorhanden. Er argumentiert mit der sogenannten Mentalisierung - der Fähigkeit des Menschen, sich nicht beobachtbare gedankliche Vorgänge bei anderen vorstellen zu können, etwa was ein anderer über einen denkt. Diese Fähigkeit habe dem homo sapiens von dem Moment an einen entscheidenden Evolutionsvorteil verschafft, als er sich seiner selbst bewusst wurde und über sich und andere nachdenken konnte. Diese Fähigkeit führte zur Sozialregulation der von Anfang an in Gruppen lebenden Menschen durch die Entwicklung von Moralvorstellungen und sozialen Verhaltensprinzipien und deren Austausch mittels Sprache. Die Mentalisierung und Sprachfähigkeit gehen nach Bering so weit, sich nicht nur das Denken anderer Menschen vorstellen zu können, sondern auch das von übernatürlichen Wesen - was wiederum eine Disziplinierung des eigenen Verhaltens im Glauben an Strafe oder Belohnung durch den vorgestellten Gott nach sich zog und dadurch einen Überlebensvorteil gegenüber anderen sicherte.

 

 

 

 

Reza Aslan: Zelot. Jesus von Nazaret und seine Zeit

Rowohlt, Reinbek 2013

 

 War Jesus ein Zelot - also einer jener Eiferer, die gegen die römische Besatzungsmacht in Palästina durchaus auch mit gewaltsamen Methoden vorgingen? Der Buchtitel des 1972 geborenen iranisch-amerikanischen Religionswissenschaftlers Reza Aslan legt dies nahe. Es wäre damit eines der vielen Bücher, die Jesus in mehr oder weniger unhaltbarer Form in die eine oder andere Ecke stellen. Doch Aslans Buch ist anders und deshalb lesenswert. Er unternimmt nicht den - ohnehin erfolglosen - Versuch, eine Jesus-Biographie zu schreiben, sondern umkreist die Person Jesus vielmehr, indem er sehr eindrucksvoll die Umstände seiner Zeit schildert, in der er gewirkt hat. Und er zeichnet die Wandlung des historischen Jesus zum Christus nach, die vor allem auf Paulus zurückgeht. Aslans These ist die, dass der historische Jesus sehr viel radikaler und sehr viel stärker seinen jüdischen Wurzeln verhaftet war, als es die Evangelien heute vermitteln. Die Evangelisten und insbesondere Paulus hätten aus Jesus einen Christus gemacht, der weniger politisch, weniger separatistisch, weniger jüdisch, dafür sanfter und den römischen Interessen gegenüber passender ist. Dieser Christus ließ sich erfolgreicher in die römisch-hellenistische Welt der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung integrieren als jener revolutionäre Eiferer, der Jesus eigentlich gewesen sein soll. Dieser in Christus umgedeutete Jesus erst konnte Begründer der erfolgreichsten Weltreligion werden. Dies ist eine fantasievolle These, die Aslan - der auch Professor für kreatives Schreiben ist - sprachlich vorzüglich und gut lesbar vorträgt. Doch auch sein mehr 90 Seiten starker Anmerkungsapparat täuscht nicht darüber hinweg, dass er letztlich im historischen Nebel stochert. Gleichwohl ist Aslan, der als Moslem zeitweise zum Christentum übergetreten war, ein großer Verehrer Jesu. Sein Buch atmet diese Verehrung in jeder Zeile. Der Mensch Jesus ist für Aslan so oder so ebenso fesselnd, charismatisch und bewundernswert wie Jesus der Christus. Er ist jemand, an zu glauben sich lohnt.

 

 

 

 

David Eagleman: Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns

Pantheon, München 2013

 

Seit dem Siegeszug der Neurowissenschaften stellt sich immer wieder die Frage, wie frei wir eigentlich sind in unserem Willen, in unseren Entscheidungen. Das christlich-abendländische Menschenbild geht von dieser Freiheit aus. Doch je mehr das menschliche Gehirn entdeckt wird, desto schlechter sieht es aus mit dieser Freiheit. Ist sie am Ende nur eingebildet? Gibt es sie gar nicht? Sind wir doch nur das Resultat des mehr oder weniger guten Funktionierens von Milliarden Nervenzellen und ihrer Synapsen, vom Zusammenspiel zwischen Molekülen in einem festgelegten chemisch-physikalischen Rahmen? Das Buch des Hirnforschers David Eagleman legt das nahe, kann die Frage aber letztlich doch nicht beantworten. Er legt auf verblüffende (und manchmal auch beängstigende) Weise dar, wie wenig objektiv unsere Sinnesorgane sind, wie gering der Anteil unseres Bewusstseins an unserem Verhalten ist, welche erstaunlichen Fähigkeiten das Unterbewusste hat und von welch überragender Bedeutung es für die Bewältigung von 99 Prozent unserer Lebensvorgänge ist. Nach dem momentanen Stand der Neurowissenschaften ist kein Platz für einen freien Willen in der grauen Masse, die unser Gehirn darstellt. Doch ist es - soweit wir wissen - das komplexeste System, das die Natur hervorgebracht haben. Allein, unsere technischen Möglichkeiten reichen nicht, es auch nur annähernd zu durchschauen und zu verstehen. Eagleman wählt einen frappierenden Vergleich: Aussagen über das Gehirn sind trotz aller Fortschritte in der Medizin derart grob wie die Erkenntnisse eines Astronauten, der in der Raumstation ISS über Europa fliegt und lediglich aus seiner Anschauung von dort oben Aussagen treffen soll über die Arbeitslosigkeit in England, die Inklusion an deutschen Schulen, über Verwendung von Dünger auf spanischen Feldern, über das Sozialsystem in Österreich oder die Finanzkrise in Griechenland. Also - es bleibt doch noch Hoffnung auf Platz für den freien Willen zwischen Säften und Synapsen.

  

 

 

 

Siegfried Lenz: Die Flut ist pünktlich. Meistererzählungen

Hoffmann und Campe, Hamburg 2014

 

 Erzählen heißt für Siegfried Lenz, sich "klar zu werden über dieses unglaubliche Dickicht des Lebens". Seine Erzählungen handeln vom Augenblick der Wahrheit, der das Leben der Protagonisten verändert, sie zu einer Entscheidung zwingt oder ihnen das Dilemma ihrer Existenz vor Augen führt. 2009 erschien mit "Der Anfang von etwas" eine erste Zusammenstellung meisterhafter Erzählungen des Autors, nun mit "Die Flut ist pünktlich" eine zweite. Sieben Geschichten aus aus fünf Jahrzehnten, zwischen 1953 und 1994 entstanden, thematisch vielschichtig, mal spielerisch mit Exotik umgehend, mal abgründige Psychogramme zeichnend mit verblüffendem Ausgang - auf jeden Fall schwer auf einen Nenner zu bekommen, abgesehen von ihrer für Lenz typischen spröden Erzählweise, die ihn als genauen Beobachter insbesondere norddeutscher Charaktere auszeichnet.

 

 

 

 

Hans Küng: Jesus

Piper, München/Zürich 2012

 

Hans Küng ist einer meiner liebsten theologischen Autoren. Von enormer Wissensbreite und -tiefe, streng wissenschaftlich und doch verständlich und anschaulich schreibend. Ein seltener Vertreter seines Fachs, dessen Bücher ich immer gerne zur Hand nehme. Seine Darstellung des Wirkens (weniger des Lebens) Jesu basiert auf dem 1974 erschienenen Buch "Christ sein". Und sie kontrastiert mit den Jesus-"Biographien" von Joseph Ratzinger, was Küng auch in seiner Vorrede thematisiert: Bei Küng die konkrete historisch-kritische Exegese, bei Ratzinger ein Jesus-Bild "von oben", inspiriert von den Dogmen der hellenistischen Konzilien des 4./5. Jahrhunderts. Während Jesus bei Küng mit beiden Beinen im Leben steht, ist er bei Ratzinger entrückt und vergöttlicht. Gleichwohl erfüllt Küngs Ansatz nicht das, was er verspricht. Denn ganz so konkret und buchstäblich leibhaftig wie er postuliert, ist "sein" Jesus dann doch nicht. Auch bei Küng ist der Wanderprediger aus Galiläa eher Christus als Jesus. Von daher hat mich das Buch enttäuscht; die Erwartung war eine andere. Am stärksten ist Küng noch da, wo er die konkrete historische Situation in Palästina vor und während Jesu' Lebenszeit entfaltet: die Herrschaft der römischen Besatzungsmacht, die verschiedenen jüdischen Gruppen (wie Sadduzäer und Pharisäer oder auch die Extremisten der Essener in Qumran), die soziale Struktur Judäas. Immer blasser wird das Buch, je mehr es sich dem historischen Jesus nähert. Am Ende begibt sich Küng dann doch in das klassische kirchliche Bild des Jesus vonm Nazareth als dem Christus, argumentiert er dogmatisch und betreibt damit genau denselben Zirkelschluss, den er Ratzinger vorwirft.

 

 

 

 

Siegfried Kracauer: Georg

Suhrkamp, Berlin 2013

 

Ein wiederentdeckter Journalisten- und Gesellschaftsroman der 1920er Jahre aus der Feder des bedeutenden jüdischen Soziologen und Philosophen Siegfried Kracauer. Er entstand 1934, wurde jedoch erst 1973 posthum veröffentlicht. "Georg" ist eine beißende Bestandsaufnahme der Linken in der Weimarer Republik und ein Manifest der Vereinsamung in der Moderne. Der junge Journalist Georg kommt bei der linken Tageszeitung "Morgenbote" in einer nicht näher bezeichneten deutschen Stadt (Frankfurt?) unter und wird zum Chronisten der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seiner Zeit. Es ist - genau wie bei Kracauer selbst, der Feuilletonredakteur bei der Frankfurter Zeitung war - der Wunsch nach Öffentlichkeit und gesellschaftlichem Engagement, der Georg mehr zum eigenen Erstaunen als planmäßig in den Journalismus führt. Georg ist das alter ego Kracauers: zweifelnd an den Möglichkeiten, durch das Schreiben etwas verändern zu können und in seiner Bisexualität hin- und hergerissen zwischen dem jungenhaften Fred und der Studentin Beate. Am Ende bleibt Georg allein und erleidet seine Entlassung beim "Morgenboten", weil seine Stelle wegrationalisiert wird, aber auch, weil seine Schreibe der neuen Leitung des Hauses nicht mehr passt. In seiner Aktualität ein frappierender Roman über eine Generation, deren Angehörige Kracauer pessimistisch als "abgesplitterte Teilchen im verrinnenden Zeitstrom" begreift. Hat sich daran etwas geändert?

  

 

 

 

Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Krieg zog

DVA, München 2013

 

Zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs ist dieses Opus Magnum des australischen, in Cambridge lehrenden und mit einer Deutschen verheirateten Historikers das "Buch des Jahres 2013". Das 895 Seiten starke Geschichtsbuch zeichnet die letzten Jahre vor jener Julikrise 1914 nach, an deren Ende Europas "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (George F. Kennan) stand. Clarks Problem bei einer solchen Studie ist die schiere Fülle an Quellen. Wo ein Althistoriker zu wenig hat, hat der Neuzeithistoriker zuviel. Buchstäblich jedes Land hat seine diplomatischen Akten aus jener Zeit editiert. Alleine schon dieser Fundus an Quellen ist kaum zu überschauen (und manchmal noch schwieriger zu bewerten, weil jedes Land durchaus unterschiedliche Sichtweisen und editionspolitische Ziele hat). Von all den Monographien zu Einzelthemen, Memoiren und der kulturwissenschaftlichen Literatur ganz zu schweigen. Clark beherrscht die Masse an Material souverän, er beschränkt sich auf eine minimale Auswahl an Zitaten - aber diese wenigen sitzen! Clark räumt endgültig mit dem Märchen der deutschen Schuld am Ausbruch des Krieges auf, wie ihn Artikel 231 des Versailler Vertrages formuliert hat und wie ihn in unsäglicher Weise der Historiker Fritz Fischer in den 50er Jahren im ersten Historikerstreit der Bundesrepublik wissenschaftlich zu begründen versuchte.100 Jahre nach dem beginn dieses Krieges ist klar, dass er nicht langfristig-strategisch angestrebt worden war, von Deutschland schon gar nicht. Von Schuld kann nicht mehr gesprochen werden, eher von Ursachen. Und hier - das arbeitet Clark sehr deutlich heraus - muss das Verhalten des Königreichs Serbien näher betrachtet werden. Dessen Politik - nicht zuletzt die Unterstützung der Attentäter des 28. Juni 1914 in Sarajevo - legte die Lunte an das balkanische Pulverfass. Stärker als bislang hinterfragt Clark auch das Verhalten der verschiedenen französischen Regierungen, die Russland zu einer unangemessenen Aufrüstung drängten und die in Deutschland zu Ängsten führen musste. Dass in Folge der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo sich Österreich ungeschickt verhielt, ist ebenso offenkundig wie der Fehler des deutschen Blankoschecks gegenüber Wien. Am Ende waren es eine unheilvolle Kettenreaktion und das Fehlen eines internationalen Mechanismus zum Konfliktmanagement, die Europa ins Verderben stürzten.

 

 

 

 

Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts

S. Fischer, Frankfurt 2012

 

Wäre Europa nicht in den Ersten Weltkrieg gerutscht, hätte das 20. Jahrhundert ein deutsches Jahrhundert werden können. Was sich in der Kunst- und Kulturszene im deutschsprachigen Raum unmittelbar vor dem Kriegsausbruch abspielte, ist derart ungeheuerlich, dass der Betrachter aus dem 21. Jahrhundert kopfschüttelnd vor dem steht, was verloren gegangen ist. Der ehemalige FAZ-Feuilletonist Florian Illies (Jahrgang 1971) pinselt ein buntes Gemälde dieses wundervollen Jahres 1913, in dem Berlin und Wien - weniger schon Paris, nicht mehr London und noch nicht New York - die Frontstädte der Moderne waren. Monat für Monat erzählt Illies augenzwinkernd und hier und da auch erzählerisch ausschmückend, was da alles in diesem europäischen melting pot der Inspiration passierte: Picasso und Duchamp auf der Suche nach dem Abschluss der Kunst und gleichzeitig ihrem Neuanfang, Hitler und Stalin beim Flanieren im Park von Schönbrunn in Wien, Freud und Jung im Streit, Benn und Lasker-Schüler beim Dichten in Berlin, Kafka bei verunglückten Heiratsanträgen, Arnold Schönberg bei der Abrechnung mit dem Wiener Publikum, das ihn nicht versteht, Thomas Mann beim Mittagsschlaf, Alma Mahler als Kokoschkas Muse und Modell, Musil krankgeschrieben, Rilke geblendet von spanischer Sonne, Arthur Schnitzler beim literarischen Ausloten menschlicher Perversionen und, und, und... All die Namen, die heute unter klassischer Moderne subsumiert werden, probierten sich 1913 aus, waren unterwegs, noch nicht gereift, auf dem Sprung zur Berühmtheit oder am Rand des Abgrunds. Ein Buch, das all diese Menschen ihrer heutigen Berühmtheit entkleidet und auf das menschlich-allzumenschliche zurückführt. Ein entzückendes Buch, lehrreich, geistreich, bildreich, verspielt, keck, hinreißend.

 

 

 

 

Hermann Hesse: Siddhartha

Hörbuch

 

Nach mehr als 30 Jahren nahm ich nun wieder den Siddhartha zur Hand, gelesen von Ulrich Matthes. Die Geschichte des Brahmanen-Sohns Siddhartha, dem prophezeit wird, dass er dereinst ein Heiliger wird und dem dies über verschlungene Pfade und Umwege am Ende auch gelingt, ist nicht einfach. Hesses Stil und Sprache sind inzwischen deutlich entrückt, und so ist es gut, wenn man den Roman vorgelesen bekommt. Was mir gegenüber der Lektüre vor mehr als einem Vierteljahrhundert diesmal ins Auge sprang, ist die Erkenntnis Siddharthas, dass das Göttliche nicht in einer anderen Welt begründet ist, die man - wenn überhaupt - nur durch Selbstkasteiung und Entsagung erreicht, sondern dass es mitten unter uns, um uns und in uns ist. Siddhartha hat das Physische, das Seiende um ihn herum ein halbes Leben lang abgelehnt als das Nicht-Göttliche - und kommt zu der Erkenntnis, dass genau das falsch ist. Alles was ist, ist Ausdruck des Göttlichen, so wie die Schrift eines Buches Ausdruck seines Inhalts ist. Man kommt zum Inhalt nur über die Äußerlichkeit der Schrift. So verhält es sich auch mit Gott, und daher ist das Physische, das Äußere, die Lust, das Leiden und alles andere Ausdruck des Göttlichen. Diese Erkenntnis einmal wieder vor Augen - besser: vor Ohren - geführt bekommen zu haben, hat das Hören des Romans gelohnt. Dem Ja zu Gott kann nur ein Ja zur Welt vorausgehen.

 

Terézia Mora: Das Ungeheuer. Roman

Luchterhand, München 2013

 

Flora, die Frau des IT-Spezialisten Darius Kopp, hat sich das Leben genommen. Nach ihrem Tod findet Kopp ihr Tagebuch. Auf einer Reise in die ungarische Heimat seiner Frau, wo er ihre Urne beisetzen will, liest er darin und stellt fest, wie gefährdet ihr Leben immer gewesen war und wie wenig er davon gemerkt hat - ja, dass er eigentlich gar nichts wusste von seiner Frau. Wohl aufgrund der Komplexität der Komposition (die Seiten des Buches sind aufgeteilt in die eigentliche Erzählung und in Floras Tagebuch, was den Lesefluss stark behindert) und der Sprache (Ich-Erzähler und auktorialer Erzähler gehen ineinander über) hat der mit 680 Seiten überdimensionierte Roman den Deutschen Buchpreis 2013 gewonnen. Ich konnte dem Buch nichts abgewinnen, habe mich in seinen Längen verloren, seine verschlungenen Kapriolen haben mich verärgert. Die diversen Aufspaltungen wirkten auf mich manieriert und gewollt. Warum kann man die Geschichte nicht stringent und flüssig erzählen? Hat die Autorin erzählerisch nicht mehr zu bieten und muss daher alles ineinander verschränken? Ist es schick, es dem Leser bewusst schwer zu machen. Schon bei Clemens Meyers "Im Stein" ist mir aufgefallen, dass nicht das elegante Erzählen bei dieser Autorengeneration im Vordergrund steht, sondern das Verschachteln und Atomisieren. Mode? Besonderer Kniff? Oder können sie es gar nicht besser?

 

 

 

 

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix bei den Pikten

Egmont Ehapa, Berlin/Köln 2013

 

Nach dem Tod des Texters René Goscinny 1977 hatte der Zeichner Albert Uderzo inzwischen 85 und wegen einer Arthrose nicht mehr in der Lage zu zeichnen) die wundervolle Asterix-Reihe zunächst alleine weitergeführt. Mit "Asterix bei den Pikten" knüpft das neue Texter/Zeichner-Duo Ferri/Conrad nun an die großen Erfolge der Comicreihe an, die in "Asterix bei den Schweizern" oder "Asterix bei den Spaniern" ihre Höhepunkte hatte. Asterix und sein Freund Obelix reisen in ihrem 35. Abenteuer zu den Pikten, also nach Schottland, um dort dem Clan-Führer Mac Aphon, der am Strand von Asterix' gallischem Dorf gestrandet war, im Kampf gegen den bösen Mac Aberrh zur Seite zu stehen. Weil der sich den Römern angedient hat, kommt es natürlich auch wieder zu herrlich-handfesten Prügeleien mit den Soldaten der Weltmacht, die sich anschickte ihre Fühler in den nördlichsten Teil Britanniens auszustrecken. Klar, das durch Asterix' und Obelix' Eingreifen ihr Freund Mac Aphon zu seinem Recht und zu seiner Verlobten kommt. Ich habe den neuen Band mit Genuss gelesen. Sein Geheimnis ist: er will nichts verändern, und der Leser merkt nicht, dass es sich um ein neues kongeniales Autorenteam handelt. So freue ich mich auf viele weitere Geschichten rund um den kleinen gallischen Helden meiner Kindheit und Jugend.

  

 

 

 

Erich Kästner: Der Gang vor die Hunde. Roman

Atrium, Zürich 2013

 

Ein Berlin-Roman aus der Zeit der 20er Jahre, wie sich mich seit Falladas "Kleiner Mann was nun" fasziniert. Vor dem Hintergrund der pulsierenden Weltstadt Berlin, die sich politisch und erotisch im Ausnahmezustand befindet, geht es um den moralisch tadellosen Germanisten Dr. Jakob Fabian, der ohne eigenes Verschulden erst seine Stelle als Werbefachmann verliert, dann seine Freundin Cornelia an einen derben Filmemacher und schließlich seinen besten Freund Labude durch Selbstmord. Ähnlich wie der Buchhalter Johannes Pinneberg in Falladas "Kleinem Mann" bleibt aber auch Fabian trotz allem Leid, das ihm widerfährt, moralisch überlegen. Er lässt sich nicht korrumpieren. Er bleibt sich treu - sogar bis hinein in seinen eigenen, grotesken Tod. "Der Gang vor die Hunde" ist die Urfassung des Romans "Fabian. Die Geschichte eines Moralisten", die 1931 wegen ihrer expliziten Darstellungen insbesondere der erotischen Szenen vom Verlag abgelehnt wurde. Erst kürzlich ist das handschriftlich korrigierte Typoskript des Romans im Deutschen Literaturarchiv in Marbach gefunden worden und liegt nun - 80 Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe - endlich vor. In der Tat ist der Kästner dieses Werkes ein ganz anderer als der von "Emil und die Detektive" oder des "Doppelten Lottchens". Kästner ist eben nicht nur Kinderbuchonkel, sondern auch ein scharfer Gesellschaftskritiker, der ätzend genau beobachtet. "Der Gang vor die Hunde" ist das Meisterwerk eines freien, souveränen und frechern Kästners, der aus seiner pessimistischen Weltsicht und seiner Einschätzung der Chancen des Einzelnen in der modernen Welt keinen Hehl macht. Die Geschichte des einsamen Wolfs Fabian im Getriebe der Metropole ist ein brillanter Großstadtroman, ein Abgesang auf die Weimarer Republik, eine Momentaufnahme aus einer Welt, wie sie die Nazis kurze Zeit später hinwegfegten.

 

 

 

 

Heimo Schwilk: Ernst Jünger - Ein Jahrhundertleben

Piper, München 2007

 

Nach der Lektüre der "Stahlgewitter" wollte ich mehr von Ernst Jünger wissen, der sich mir bislang nicht erschlossen hat. Die Biographie meines früheren Kollegen bei der WELT am SONNTAG, Heimo Schwilk, ist ein opus magnum über den 1998 im Alter von knapp 103 Jahren gestorbenen "Jahrhundertschriftsteller". Mehr als 600 Seiten stark, erzählt Schwilk akribisch Jüngers Leben, wobei schätzungsweise ein Fünftel des Umfangs auf Zitate aus Jüngers Schriften gehen. Die Biographie ist zweigeteilt: Der erste Teil - von Jüngers Geburtsjahr 1895 bis 1925 - ist zugleich Schwilks Dissertation und daher wissenschaftlich gesättigt. Demgegenüber fällt die Darstellung des weiteren Lebens Jüngers trotz des enormen Umfangs kursorischer aus. Die Lebensbeschreibung dieses sich ja mehr und mehr in hochspekulativen Sphären bewegenden Schriftstellers hat mich angeregt, mich eingehender mit seinem Werk zu beschäftigen. Insbesondere der Roman "Auf den Marmorklippen" und der Essay "Die Schere" reizen mich. Seinen Übertritt zum Katholizismus im hohen Lebensalter und seine Enttäuschung vom Protestantismus hat mich an meine eigene Glaubensfindung erinnert.

  

 

 

 

Stephan Burgdorff / Klaus Wiegrefe (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts

dtv, München 2008

 

34 Aufsätze zu den verschiedenen Aspekten des Ersten Weltkriegs zusammengefasst in sieben thematischen Abteilungen, vom Kriegsausbruch über die Kämpfe im Westen und im Osten bis hin zu Fragen nach der Rolle Kaiser Wilhelms II.und der der Intellektuellen und Künstler bis zur Schuldfrage. Ein Buch wie ein Kaleidoskop, das auch wenig beleuchtete Fakten des Ersten Weltkriegs zusammenführt: der wahnwitzige Krieg zwischen Österreichern und Italienern in den Höhen der Alpen, auf Berggipfeln und auf und unter Gletschern etwa. Oder der Niedergang der bürgerlichen Sexualmoral. Oder der "Kampf in den Küchen" in der ausgehungerten Heimat. Zwischen 1914 und 1918 starben in Deutschland 700.000 Menschen an Unterernährung - 100.000 mehr als durch die Flächenbombardements der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Als Lektüre-Einstieg in das Thema Erster Weltkrieg, dessen Ausbruch sich 2014 zum 100. Mal jährt und über den eine Fülle an Literatur erscheint, ist das Buch - auch wenn seine erste Auflage bereits aus dem Jahr 2004 datiert - immer noch bestens geeignet.

 

 

 

 

Ernst Jünger: In Stahlgewittern

Klett-Cotta, Stuttgart 1978

 

Nach einem mich tief beeindruckenden Besuch auf den Schlachtfeldern von Verdun im Herbst 2013 habe ich die "Stahlgewitter" von Jünger gelesen, die ich mir schon seit Jahren vorgenommen hatte. Noch unter dem Eindruck des Besuchs in Douaumont, Fort Vaux und den anderen Brennpunkten der Schlacht von 1916 las ich Jüngers Kriegsbuch verbunden mit jenen Bildern aus Frankreich. Jüngers Darstellung seiner Erlebnisse an der Westfront des Ersten Weltkriegs ist einerseits ergreifend, denn er ist schonungslos. Zugleich erschreckend ist aber nicht nur das furchtbare Geschehen in den Schützengräben und Granattrichtern an sich, sondern auch die innere Distanz, die der Autor zu all dem zu haben scheint. Obwohl er den Tod beinahe täglich vor Augen hat, ununterbrochen Kameraden links und rechts von ihm sterben, er selbst mindestens 14 Treffer abbekommt ("nämlich fünf Gewehrgeschosse, zwei Granatsplitter, eine Schrapnellkugel, vier Handgranaten- und zwei Gewehrgeschoßsplitter, die mit Ein- und Ausschüssen gerade zwanzig Narben zurückließen"), schreibt er wie ein Traumwandler, der selbst gar nicht mitten drin ist in diesem Inferno. Sein Stil erscheint mir mechanisch, gefühlskalt, abgebrüht. Kaum Reflexion, kaum Einblicke in die Gefühlswelt des jungen Mannes, der derartiges erlebt. Jünger war 25, als er das Buch im Selbstverlag veröffentlichte. Es sollte sein bekanntestes werden. Dass er nicht nur diesen Krieg überlebt hat, sondern auch noch 102 Jahre alt wurde, ist bemerkenswert. Jüngers Ambivalenz als Jahrhundertzeuge reizt mich, mich näher mit ihm zu beschäftigen.

 

 

 

 

Kurt Flasch: Warum ich kein Christ bin

C.H.Beck, München 2013

 

Der Historiker und Philosoph Flasch, im 84. Lebensjahr stehend, zieht die Bilanz seines reichen Forscher- und Gelehrtenlebens, in dem er sich intensiv mit dem Christentum auseinandergesetzt hat. Er kommt zu dem Schluss, dass er nicht glauben kann und daher kein Christ ist. Flaschs intellektuell ungemein anregendes Buch ist keine Abrechnung mit der Kirche. Im Gegenteil. Sie hat ihm nie Schlechtes getan, er hat nicht unter ihr gelitten, sondern sie hat ihm in der Zeit des Nationalsozialismus Horizonte geöffnet, war ein Hort des Geistes und der Menschlichkeit. Er schreibt ohne jegliche Häme, er prangert nicht an und er geht auch nicht die Institution als solche an. Er setzt bloß die christliche Lehre in Bezug auf sich selbst und weist auf eklatante Widersprüche und Unstimmigkeiten hin (etwa die Wandlung des rachsüchtigen Gottes Jahwe des Alten Testaments zum Gott der Liebe unserer Tage, die irrelevant gewordene Idee der Hölle, die unterschiedlichen Berichte der Evangelien zur Auferstehen Jesu u.v.m.). Flasch schöpft aus einem heute selten gewordenen universellen Wissen, er beherrscht die alten Sprachen und zieht die Originaltexte der Bibel heran. Vor allem aber bedient er sich der Vernunft und des phiolosophischen Nachdenkens und demontiert ohne Eifer rein logisch und auf den historischen Tatsachen argumentierend einen Glaubenssatz nach dem anderen, ein Dogma nach dem anderen. Ich würde gerne eine Debatte zwischen ihm und einem Theologen verfolgen. Das wäre ein intellektueller Genuss! Nach der Lektüre dieses sehr nachdenklich stimmenden Buches habe ich einige Anfragen an meine Religion. Vor allem diese: was eigentlich kann ich wirklich glauben und was an diesem Glauben ist letztlich bloßes Menschenwerk und Ergebnis geschichtlicher - mithin sehr irdischer - Prozesse?

 

 

 

 

Reinhard Marx: glaube!

Kösel, München 2013

 

Der frühere Bischof von Trier und heutige Erzbischof von München und Freising, Reinhard Marx, hat sich zum 60. Geburtstag am 21. September 2013 selbst ein Geschenk gemacht: ein Büchlein über sein ganz persönliches Verhältnis zum Glauben. Es gebe vernünftige Menschen, die glaubten, und es gebe vernünftige Menschen, die nicht glaubten, schreibt Marx. Gute Gründe für den Glauben gebe es ebenso wie dagegen. Und so kann auch ein Kardinal heute nicht mehr Glaube quasi-dogmatisch vorschreiben, sondern er kann höchstens von seinen eigenen Glaubenserfahrungen erzählen, will er glaub-würdig sein. Marx gesteht seinen Lesern, dass selbst er als hoher katholischer Würdenträger zuweilen seine Schwierigkeiten mit dem Glauben habe. Geholfen habe ihm die Verwurzelung in der katholischen Kirche. So erinnert er sich an ein Erlebnis in Rom als frisch geweihter Bischof: beim Betreten des Petersplatzes spürte er, dass nicht er die katholische Kirche auf seinen Schultern tragen müsse, sondern dass im Gegenteil sie ihn trage. Die 96 Seiten des Büchleins lassen keine weitergehende Erkenntnis zum Glauben gewinnen - außer, dass hier ein Mensch Zeugnis ablegt. Aber das haben schon viele vor ihm getan.

 

 

 

 

Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren

C.H. Beck, München 2013

 

Was passiert eigentlich, wenn das Finanzsystem eines ganzen Staates zusammenbricht, Kreditkarten plötzlich gesperrt sind und Handys zwangsabgeschaltet werden? Der Schweizer Philosoph Jonas Lüscher (Jahrgang 1976) geht in seinem literarischen Debüt dieser Frage nach. Und beantwortet sie so: die Menschen werden einander zum Wolf. Die Hochzeitsgesellschaft von Londoner Börsenhändler-Yuppies in einem edlen tunesischen Wüsten-Resort kippt nach dem Zusammenbruch des britischen Finanzsystems um in ein Massaker. Der Erzähler beschreibt mit frivoler Lust groteske Szenen unter den überdrehten und gestylten Typen einer Finanzkaste, für die nur das Geld zählte und die sich jetzt hoffnungslos überfordert in einer archaischen Situation wiederfinden. Eingeübte Werte zählen nichts mehr. Voll makabren Humors nimmt diese "unerhörte Begebenheit", die konstitutionell für das Genre der Novelle ist, immer mehr an Fahrt auf - bis zu einem bitteren Ende, das Farce und böse Gesellschaftskritik zugleich ist. Lüscher stellt ein System in Frage, in dem elementare Regeln des Zusammenlebens in einer existenziellen Lage nichts mehr gelten. Die Novelle hat es zu Recht auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft.



 

 

 

Martin Walser: Die Inszenierung. Roman

Rowohlt, Reinbek 2013

Gelesen: Oktober 2013

 

Der berühmte Theaterregisseur Augustus Baum erleidet mitten in der Inszenierung von Anton Tschechows "Möwe" einen Schwächeanfall und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Er beginnt dort eine Affäre mit der Nachtschwester Ute-Marie - die vorerst letzte in einer langen Reihe von Affären, wie ihm seine Frau Gerda, eine Nervenärztin, mit bemerkenswerter Gelassenheit vorhält. Diese ménage à trois ist kein "Kunstwerk der Verheimlichung" wie die Ehe, findet aber auch nicht die gewünschte Billigung, die sich Augustus von seiner Frau erhofft. Er inszeniert seine beiden Frauen vom Krankenbett aus und die "Möwe" über seine Assistentin und frühere Geliebte Lydia. Doch am Ende drehen sich die Vorzeichen, die Inszenierten werden zu Inszenierenden und Augustus hat das Nachsehen... Walser ist auf nur gut 170 Seiten ein literarisches Kammerspiel gelungen, dessen Komplexität gar nicht tief genug ausgelotet werden kann. Denn die Dreiecksgeschichte von Augustus, Ute-Marie und Gerda ist geschickt mit derselben Konstellation in der "Möwe" verwoben. Dort verliebt sich die Nachwuchsschauspielerin Nina in den Dichter Trigorin, der indes mit dem alternden Bühnenstar Irina Arkadina verbandelt ist. Trigorin fordert von Arkadina sein Unabhängigkeit zurück, um für Nina frei zu sein. Doch das gelingt nicht, er unterwirft sich der stark gebliebenen Partnerin. Augustus schiebt Tschechow für seine ganz persönliche Liebesleidenschaft vor. Und dann ist da noch sein in den USA lebender Freund Hans Georg, dessen Verbindung mit dem schwulen Bertie soeben aufgeflogen ist und der vor den Trümmern seiner Ehe steht - ein Menetekel für Augustus. Ehe, Liebe, Einsamkeit, Geheimnisse voreinander und das Leiden daran, nicht das tun zu können was man eigentlich möchte - das sind die großen Themen dieser Miniatur Walsers, die geradezu nach einer Bühnenfassung schreit. Sie wird sicher bald kommen; 80 Prozent des Textes sind ohnehin schon in Dialogform geschrieben.

 

 

 

 

Clemens Meyer: Im Stein. Roman

S.Fischer, Frankfurt/M. 2013

 

Ein Roman über die Welt der Prostitution in Deutschland, über Frauen im Schichtdienst in den Eros-Centern, über die Großstadt, über Sehnsüchte und Enttäuschungen nach der Wiedervereinigung, über menschliches Leid, menschliche Gier, über Dreck und über die Gosse. Meyer, geboren 1977 in Halle/Saale, hat mit diesem Opus Magnum von knapp 560 Seiten den neuen deutschen Großstadt-Roman vorgelegt. So sieht es jedenfalls die Kritik, die ihn begeistert aufgenommen hat. Ich war vor der Lektüre neugierig und bin nach der Lektüre enttäuscht. Der ganz große Wurf ist das nicht. Meyer schreibt den Leser mit seinen schnellen Schnitten, den krassen Perspektivwechseln, den drehbuchartigen Dialogen und den hastigen Sentenzen schwindelig. Wo sind wir jetzt gerade? Wer spricht? Um wen geht es? Perikopen blitzen auf und fallen wieder ins Dunkel wie die Lichter der Großstadt, die stark an Leipzig erinnert, aber doch nicht ein einziges Mal erwähnt wird. Berlin kommt vor, immer wieder Berlin. Aber Berlin ist nur eine Randerscheinung. Es ist ein Geflirre und Gesurre, ein Kommen und Gehen wie in einer heißen Sommernacht an einer Durchgangsstraße in der City. Hundert Seiten sind nötig, bis man überhaupt erst drin ist. Erst spät formt sich das Sammelsurium an Charakteren und spotlightartigen Szenen zu einem halbwegs verständlichen Ganzen. Aber es bleiben viele Leerstellen. Die Figuren kommen beim colagenartigen Zusammenkleben der tausend Einzelteile zu kurz, es bleibt keine Zeit sich ihnen zu nähern. Das hastige Hin und Her, das Fehlen eines Erzählers ermüden und verärgern. Ja: Das Motiv, die Schicksale von ganz unten auf dem Strich zu zeigen, die ganz jungen Mädchen und die verwelkten Alten, die Freier und die notgeilen Wichser, die Verbrecher, die Menschenhändler, die Unternehmer, ist aller Ehren wert. Meyer ist dennoch nicht der Alfred Döblin oder der Hans Fallada des 21. Jahrhunderts weil es seinem Roman an einer Statik fehlt, weil es ihm nicht gelingt, den Leser plausibel durch seinen Stoff zu führen. Alles zusammenschmeißen und durchzuhecheln mag dem Zeitgeist entgegen kommen. Vielleicht ist unsere Welt so. Ganz sicher ist das Milieu der Eros-Center, der Bordelle und der Strichstraßen so. Aber es kann es nicht in einer derartigen Überzeichnung in seiner literarischen Gestalt sein Wäre dem Roman ein roter Faden eingewoben, so hätte er das Buch der Saison sein können. Nur Rotlicht allein, ein irre flackerndes dazu, reicht nicht.

  

 

 

 

Mathias Schreiber: Würde. Was wir verlieren, wenn sie verloren geht

Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013

 

Der einprägsamste Satz des Buches steht gleich am Anfang, es ist ein Zitat des französischen Schriftstellers Tzvetan Todorov: "Um seine Würde zu wahren, muss man eine Situation des Zwangs in eine der Freiheit verwandeln." Das Buch des SPIEGEL-Redakteurs Schreiber geht der Frage nach, was eigentlich Würde ist, wie sie sich ausdrückt, wie sie verspielt werden kann. Schreiber entdeckt Würde bzw. Würdelosigkeit in den unterschiedlichsten Lebensbereichen: bei Politikern (dort ist sie ja per se ein Thema dank der diesem Bereich zugeordneten "Amtswürde"), in der Zeit, in der Sprache, in Nähe und Distanz, in der Architektur, im Verhältnis des Menschen zu den Tieren. Der Autor erlaubt sich eine starke Kommentierung der Würde-Phänomene, die er aufgreift. Beispielsweise gilt ihm der historisierende Wiederaufbau von Gebäuden als würdevoll - ganz im Gegensatz zu den vor allem nach dem Krieg rasch hingeworfenen Kuben, Würfel, Stahl- und Glaskästen in Bauhaus-Manier. Das alltägliche, vor allem das mediale Leben unserer Tage ist für Schreiber mehr ein "Würde-Elend" als alles andere. Indem er uns aber an den Wert der Würde an sich erinnert, hilft er, diesen alten und doch so aktuellen Wert, von dem jeder Mensch zumindest unbewusst eine Vorstellung hat, wieder neu zu bedenken und sich um ihn zu bemühen.

 

 

 

 

 

Petra Urban: Die Flaneurin. Roman

Leinpfad-Verlag, Ingelheim 2009

 

Henriette ist eine 50jährige Frau, die in der Altstadt eines Städtchens am Rhein lebt.Sie ist einsam, bindungslos und geht keiner geregelten Arbeit nach, weil sie ein beträchtliches Vermögen von ihrer zum Schluss pflegebedürftigen Mutter geerbt hat. Den Vater hat sie nie kennengelernt. Henriette betätigt sich hin und wieder als Trauerrednerin, besucht häufig das Grab ihrer Mutter, die wie ein Schatten hinter ihr steht und deren Bösartigkeiten und von Haltung und Enge geprägte Lebensführung auch längst nach ihrem Tod Henriette wie ein Dämon beherrschen. Eines Tages lernt Henriette bei einer Beerdigung den Fotografen Albert kennen - und verliebt sich auf eine unreife und unangemessene Art in den weitgereisten, interessanten und attraktiven Mann, der allerdings seit kurzem mit der sehr viel jüngeren Universitätsdozentin Melanie verheiratet ist. Henriette, die Flaneurin, beginnt Albert nachzustellen. In ihrer Fantasie wird Albert zur Inkarnation all ihrer unbefriedigten Träume von einem Mann, von Liebe, von einer Partnerschaft, von Sex. Das Stalking wird immer zudringlicher, Henriette - von ihrer eigenen Vergangenheit verfolgt - wird mehr und mehr zur Verfolgerin, schreckt auch vor dem Eindringen in den intimsten Lebensbereich Alberts nicht zurück. Petra Urban erzählt die Geschichte dieser bedauernswerten Frau psychologisch scharfsinnig und baut eine subtile Spannung auf, die im Kontrast steht zum trägen und konventionellen Erzählfluss. Ich habe Petra Urban auf einer Lesung auf dem Literaturschiff Trier im September 2013 kennen gelernt, war von ihrem Vortrag sehr angetan und habe - obwohl "Frauenliteratur" vermutend - mir spontan "Die Flaneurin" gekauft, und dabei eine echte literarische Entdeckung gemacht. Schade nur, dass diese lesenswerte Geschichte in einem qualitativ derart schlecht gemachten Buch mit groben, vergilbenden Seiten und einem lieblosen Einband gedruckt worden ist. Das Manuskript hätte ein schöneres Buch verdient.

 

 

 

 

Thomas Großbölting: Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013

 

Der Münsteraner Historiker Thomas Großbölting zeichnet ein akribisches Bild des Wandels der Religiosität in Deutschland seit dem Krieg. Waren die beiden großen Kirchen davon ausgegangen, dass der neu entstehende Staat auf deutschem Boden nach 1945 maßgeblich christlich geprägt sein würde, so zerbrach diese Illusion 20 Jahre später. Vom gesellschaftlichen Wandel der 60er Jahre - Infragestellung von Autoritäten, Liberalisierung weiter Lebensbereiche, Pille, Studentenrevolte - waren insbesondere die Kirchen betroffen. Inzwischen ist in Deutschland ein religiöser Pluralismus und Individualismus eingetreten, der die Rolle des Christentums insgesamt in Frage stellt. Ein Drittel der Deutschen gehört heute gar keiner Kirche mehr an, insbesondere Ostdeutschland gilt als eine der am wenigsten religiösen Regionen der Welt. In vielen Familien ist die Weitergabe des Glaubens abgebrochen. Die Menschen basteln sich eine eigene Patchwork-Religion bestehend aus Christentum, New Age, fernöstlichen Lehren, Yoga und Bodystyling zusammen. Der Islam indes umfasst hierzulande inzwischen bereits vier Millionen Gläubige und wächst weiter. Das Staatskirchenrecht zementiert allerdings immer noch einen Zustand wie vor 50 Jahren und privilegiert die katholische und evangelische Kirche - Stichwort Kirchensteuer. Großböltings Studie fußt auf einer kaum übersehbaren, aber souverän beherrschten Datenfülle: Statistiken, Analysen, Publikationen, Zeitzeugenberichten. Und doch ist sie keine trockene wissenschaftliche Abhandlung, sondern sie liest sich wie ein Drama, dessen letzter Akt noch nicht geschrieben ist. Es geht bei diesem um die Fragen: Wie muss sich die Kirche an eine vollkommen geänderte gesellschaftliche und demographische Situation anpassen? Kann sie es überhaupt, ohne ihren Glaubenskern zu verleugnen? Wie wird ein Land aussehen, das keinen Bezug mehr hat zu seinen religiösen Wurzeln, die es 1500 Jahre lang geprägt haben? Was kommt nach dem christlich geprägten Deutschland?

  

 

 

 

Frauke Verlinden: Wenn es aufklart. Erzählungen

Gollenstein-Verlag

 

Frauke Birtsch hat seit 2004 unter dem Pseudonym Verlinden, dem Mädchennamen ihrer Großmutter, Kurzgeschichten veröffentlicht. Ich habe Frauke Birtsch im Spätsommer 2013 als Moderatorin des ersten "Trierer Literaturschiffs" kennen gelernt und ihren 2011 erschienenen Band mit Erzählungen gelesen. Die zwölf Geschichten stehen nur auf dem ersten Blick unverbunden nebeneinander. Im Hintergrund sind es die Themen "Erinnern" und "Verlust", die sich wie ein roter Faden durch die Kurzerzählungen ziehen: leise und flüchtige Geschehnisse aus dem Alltag, wie sie jedem Leser passieren können. Daher gehen sie nahe, sind präsent und bestechend. Die Autorin zeichnet ein Gespür für Details aus und eine Sensibilität für das Banale, das immer auch den Keim des Besonderen in sich trägt.

 

 

 

 

Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt

Ullstein, Berlin 2013

 

Gabriel, Jahrgang 1980, ist der jüngste deutsche Philosophieprofessor. Er hat den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie an der Universität Bonn inne und leitet dort auch das Internationale Zentrum für Philosophie. In der deutschen Philosophie-Szene ist er momentan ein Star. Sein Buch trägt einen verführerisch interessanten Titel. Man kann ihn auf zweierlei Weise lesen: Warum es die WELT nicht gibt. Oder: Warum es DIE Welt nicht gibt. Gemeint ist die zweite Variante. Gabriel stellt nicht in Abrede, dass es die WELT gibt. Aber DIE eine Welt ist für ihn nicht denkbar. Der Autor vertritt die These, dass jegliche Tatsache - Dinge, Gedanken, Gefühle usw. - nicht allein für sich existieren, sondern stets in einem sogenannten Sinnfeld erscheinen - also einem Zusammenhang, in dem sie stehen. Jedes Sinnfeld wiederum ist nur im Kontext eines weiteren Sinnfeldes denkbar - eine unendliche Abfolge von Sinnfeldern also. Ein alles umfassendes, alles erklärendes Sinnfeld - eben DIE Welt - ist daher nicht denkbar. Gerade deshalb aber ist Gott denkbar - als TEIL der Welt. So macht Philosophie Freude: ein Buch, das intellektuell ein Hochgenuss ist, das Lust am (Nach-)Denken bereitet, das auf angenehme Art mit wichtigen Strömungen und Namen der westlichen Philosophie vertraut macht.

 

 

 

 

Ralf Bönt: Das entehrte Geschlecht. Ein notwendiges Manifest für den Mann

Pantheon, München 2012

 

Charles Bronson sitzt in Sweetwater auf dem Pferd und verabschiedet sich von Claudia Cardinale mit den kühlen Worten: "Einer wartet immer." Und reitet davon. Diese Schlussszene aus dem Italo-Western Spiel mir das Lied vom Tod nimmt der Physiker und Publizist Ralf Bönt als ein seltenes Beispiel für ein Mann, der keiner Frau bedürftig ist. In der Regel jedoch wirbt der Mann um die Frau, wird von ihr erwählt oder (in der Mehrzahl der Fälle) verachtet. Wohl jeder heterosexuelle Mann kennt diese Erfahrung: eine Frau badet in ihrer erotischen Anziehungskraft und lässt den Mann zappeln und verhöhnt ihn, stößt ihn vor den Kopf und schiebt ihn beiseite, kaum dass er sich ihr mit Haut und Haaren angeboten hat. Eine solche basale Erfahrung der Demütigung gehört sozusagen zur soziologischen DNA eines Männerlebens - von Pubertät an.

Bönt beklagt unsere paternalistische Gesellschaft, in der stets Männer als Täter gesehen werden und in der das Leiden der Männer nicht bemerkt wird. Es ist richtig: die Frau putzt die Klos. Aber richtig ist auch: der Mann reinigt die Kanäle. Auf diese Formel lässt sich Bönts Manifest für einen Mann bringen, von  dem erwartet wird, dass er an Herzinfarkt, Burnout, Krebs stirbt. Dass er eine Familie ernährt und keinen Schmerz - schon gar keinen seelischen - zeigt. Dass er in Raumkapseln verglüht und aus Kriegen ohne Beine zurückkehrt. Bönt schreibt zu Recht, es sei nicht Aufgabe der Frau, die Wünsche der Männer zu artikulieren (nicht nur bei C&A zu beobachten...). Passive, ablehnende, von ihrer Weiblichkeit betrunkene Frauen: nein danke. Wer seinen Partner entehrt, entgeht der Abwertung selbst nicht. Schade nur, dass Bönts Manifest ein wirres Sammelsurium entlegener Gedanken, mutiger Visionen, spröder Anekdoten und manchmal starker Bilder ist. Sein Grundgedanke - den Mann aus seiner selbstverschuldeten Täterrolle als Geschlechtsheroen zu befreien - zerfließt in einer mäandernden Philosophie, die kein Nagel zusammenhält. Einzelne Geistesblitze und Aha-Erlebnisse beim Lesen ersetzen die fehlende Struktur nicht, und wenn es auch nur eine provisorische wäre. So aber wird ein ernstesThema verschenkt.

  

 

 

 

Stefan Kiechle: Jesuiten. Zwischen Klischee und Realität

topos, Kevelaer 2013

 

2009 ist diese Monographie bereits im Herder-Verlag erschienen. Sie war zuletzt vergriffen. Nun ist sie auf dem Stand Frühjahr 2013 neu herausgekommen - und aktueller denn je: erstens durch Papst Franziskus, einen Jesuiten, und zweitens durch den 2010 bekannt gewordenen Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche, der beim jesuitischen Canisius-Kolleg seinen Ausgang nahm. Kiechle, Provinzial der deutschen Jesuiten, gibt einen konzisen und gut lesbaren Abriss über das, was Jesuiten sind und was sie nicht sind. Über diesen Orden, der zeitweise vom Vatikan verboten war und von dem man annimmt, dass er dennoch die Vatikanpolitik maßgeblich lenkt, kursieren viele Gerüchte und Geheimnisse. Kiechle bemüht sich um eine objektive Darstellung, lässt sich an der einen oder anderen Stelle allerdings auch zu einer Verteidigung seiner Gemeinschaft hinreißen. Ein außenstehender Kenner der Jesuiten hätte manche Bewertung womöglich anders vorgenommen, manchen Sachverhalt anders akzentuiert. In jedem Fall weiß der Leser hinterher mehr über Aufgabe, Aufbau und Einfluss der Jesuiten, die heute als liberal und viel weniger elitär gelten als noch vor einer Generation.

  

 

 

 

Bernhard Waldmüller: “Gemeinsam entscheiden”,

Echter-Verlag, Würzburg 2008

 

Im Zugehen auf die Klausurtagung der Synoden-Vorbereitungskommission am 30./31. August 2013 in Vallendar haben die Mitglieder vom Synodensekretariat das Büchlein des Schweizer Exerzitienleiters Bernhard Waldmüller an die bekommen.

Ausgehend von der Entscheidungstechnik des Gründers des Jesuiten-Ordens, Ignatius von Loyola, stellt Waldmüller ein Verfahren vor, wie kirchliche Gruppen (im Prinzip aber auch alle anderen) in einem gemeinsamen Prozess des Hörens, des Schweigens, des Diskutierens und des Gebets zu guten Beratungsergebnissen kommen. Ignatius und seine Gefährten hatten sich einst drei Monate Zeit gelassen, um zu überlegen, ob sie ihrer Gemeinschaft die feste Struktur eines Ordens geben sollen. Abend für Abend trafen sie sich nach ihrer seelsorgerlichen Tätigkeit zum Gespräch, wägten das Für und Wider ab, ließen sich in spirituellen Impulsen inspirieren, schliefen über das Gehörte und Gesprochene – und nahmen den Faden erneut auf. Am Ende stand die Gründung der Societas Iesu, des Jesuitenordens.

Gerade für eine Gruppe, die ein Generationsereignis wie eine Bistumssynode vorbereitet, ist das Hinhören, der Austausch, die stille Betrachtung der Argumente wichtig. Vieles gilt es zu bedenken, Klippen sind zu umschiffen, der Organisationsaufwand ist enorm. Allein die Erarbeitung der Synodenordnung und der Wahlordnung war ein Meilenstein. All diese Aufgaben hat die Vorbereitungskommission seit Dezember 2012 geleistet. Stets gehörten auch ein Gebet oder ein spiritueller Impuls zu den Beratungen. Waldmüllers Handreichung hat uns Kommissionsmitglieder noch einmal gezeigt, dass wir mit dem gewählten Beratungsstil richtig liegen.

 

 

 

 

Ursula Krechel: Landgericht. Roman

Jung und Jung, Salzburg/Wien 2012

 

Der jüdische Berliner Richter Richard Kornitzer muss im Dritten Reich emigrieren und seine Frau in Deutschland zurücklassen, die Kinder Selma und Georg sind in England untergekommen. Als er nach Kriegsende aus dem kubanischen Exil zurückkehrt, sind ihm die Kinder entfremdet, seine Ehe ist nicht mehr das, was sie einst war. In Mainz gelingt ihm zwar am Landgericht ein beruflicher Wiedereinstieg als Richter, doch sein Kampf um Wiedergutmachung verliert er in einer würdelosen Auseinandersetzung mit den Behörden, die nicht nach moralischen Maßstäben, sondern nach den Buchstaben der Paragraphen vorgehen. 1970 stirbt Kornitzer verwitwet und mit einer kurz zuvor erhaltenen lächerlichen Pauschal-Entschädigung von 3000 D-Mark. Die in Berlin lebende Trierer Schriftstellerin Ursula Krechel hat mit diesem knapp 500 Seiten umfassenden Roman 2012 den Deutschen Buchpreis gewonnen. Betörend an ihrem kühl-distanzierten Stil ist die Akribie, mit der sie detail- und facettenreich die Zeitumstände umreißt: das Vorkriegs-Berlin, die kubanischen Jahre und insbesondere die neue bundesrepublikanische Gesellschaft, die sich ihrer Vergangenheit nicht stellen mag und die das Beharren der Opfer auf Wiedergutmachung als ungehörig empfindet. Der Roman ist quasi wissenschaftlich recherchiert, der Fall authentisch, wenn auch von der Autorin in freier künstlerischer Gestaltung abgewandelt. Ein starkes Stück neuer deutscher Literatur.

 

 

 

 

Walter Kardinal Kasper: Barmherzigkeit. Grundbegriff des Evangeliums - Schlüssel christlichen Lebens

Herder, Freiburg 2012

 

Kurienkardinal Kasper, 1964 bis 1989 Professor für Dogmatik in Münster und 1989 bis 1999 Bischof von Rottenburg-Stuttgart ist einer der hochrangigen Deutschen im Vatikan - und gewiss einer der sympathischsten Vertreter des Vatikan. Mit seinem Essay über die Barmherzigkeit nähert er sich einer Tugend,die nicht nur im Christentum zur Grundlage gehört. Er beleuchtet Barmherzigkeit von philosophischen Denkansätzen über ihre Rolle im Alten und Neuen Testament bis hin zu ihrer Funktion im modernen Sozialstaat und endet bei einer Betrachtung Marias, die neben Jesus als die Verkörperung der Barmherzigkeit in der Bibel gilt. Gewiss ist Barmherzigkeit einer der Grundpfeiler des Christentums, die Kirchengeschichte ist ohne sie schlechterdings nicht denkbar. Doch greift Kasper zu kurz, wenn er Barmherzigkeit auf das Christentum beschränkt bzw. immer wieder darauf zurückführt. Barmherzigkeit ist ein herausragendes Merkmal auch anderer Religionen und selbst der säkularen Welt. Die Engführung Kaspers der Barmherzigkeit allein auf das Christentum wird dieser großen, dem Menschen per se innewohnenden Tugend nicht gerecht. Ein "Blick über den christlichen Tellerrand" hätte dem Thema die nötige Weite gegeben.

 

 

 

 

Andreas Wollbold: Als Priester leben. Ein Leitfaden

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2010

 

Beruflich bedingt habe ich seit einem halben Jahr täglich mit Priestern zu tun. Ich habe dabei höchst unterschiedliche, charismatische und interessante Persönlichkeiten kennen gelernt. Ihre jeweilige Motivation interessiert mich. Auch das darüberliegende Setting, das für einen Priester gleich in welcher Funktion von der Kirche vorgesehen ist und von ihr als angemessen empfunden wird. In dem Buch wird das gesamte Spektrum priesterlicher Existenz dargelegt, von den (für jeden Menschen geltenden) Kardinaltugenden und dem angemessenen Benehmen über Berufung, Frömmigkeit, das Leben im Pfarrhaus, Urlaubs- und Freizeitgestaltung, das Leben nach den evangelischen Räten. Ein ganzes Kapitel mit zahlreichen Unterkapiteln widmet der Autor - Professor für Pastoraltheologie an der Universität München - der Ehelosigkeit von Priestern. Offensichtlich nicht nur für Laien ein Faszinosum, sondern auch für (angehende) Priester selbst eine der zentralen Fragestellungen ihres Lebens. Das Buch gibt einen höchst interessanten Einblick in Alltag, Anforderungen und Lebensphilosophie von Priestern. Bleibender Eindruck nach der Lektüre: Priester zu werden ist ein Lebensentwurf, bei dem - zumindest für den Außenstehenden - zuweilen übermenschliches vom Einzelnen abverlangt wird. Priester sein: ein Leben im Defizit, so scheint es. Glücklich die Priester, die das nicht so empfinden, sondern die sich gerade durch ihren so grundlegend anderen Lebensentwurf reich beschenkt sehen.

 

 

 

 

Karl Heinz Götze: Immer Paris. Geschichte und Gegenwart

Pantheon, München 2007

 

Eine ideale Lektüre für eine Paris-Reise, wie ich sie - der Nähe Triers zu Frankreich sei Dank! - im Juni erneut unternommen habe, ist dieses Buch. Und das, obwohl es sich um keinen Reiseführer handelt, auch nicht um eine Kultur- oder sonstwie geartete Geschichte von Paris. Der Autor, Professor für Deutsche Literatur und Kultur an der Universität Aix-en-Provence/Marseille, spaziert durch (nach welchen Kriterien eigentlich?) ausgewählte Stadtteile und gibt in Worten wieder, was er sieht. Es sind - bis auf das Kapitel über "Tolbiac - Die letzte Großbaustelle von Paris" - nicht viele Recherchen gewesen, die er dazu getätigt hat, er schöpft eher aus seinem profunden, jederzeit abrufbaren Wissen eines Frankreich-Kenners. So bringt er dem Leser im Plauderton Ecken von Paris nah, die man noch nie gesehen hat (z.B. die berüchtigte Goutte d'Or im Norden, dem Auffangbecken für gestrandete Araber und Afrikaner; ich hatte bei der Lektüre von Tahar Ben Jelloun überhaupt zum ersten Mal von diesem Viertel gehört). Oder Ecken, die geradezu ein "Muss" darstellen - die Champs-Elysées etwa. Da aber erzählt Götze so leicht und so frei, dass es ein Vergnügen ist, viele Details zu erfahren, die in keinem Reiseführer stehen. Eine sehr kurzweilige Lektüre, die mein Paris-Bild ergänzt hat.

  

 

 

 

Francis Scott Fitzgerald: Der große Gatsby. Roman

Insel-Verlag, Berlin 2011

 

Angeregt durch eine fantastische Kritik der kürzlich in den Kinos angelaufenen Gatsby-Verfilmung in der FAZ habe ich den Klassiker, der seit zwei Jahren in meinem Bücherregal steht, zur Hand genommen. Ich gestehe: selten konnte ich mit einem Roman so wenig anfangen wie mit diesem, Klassiker der Moderne hin oder her. Ich empfinde Fitzgeralds Schreibe ermüdend, seine Wortschöpfungen nicht im geringsten amüsant sondern eher albern (klar, wegen der deutschen Übersetzung müssen Abstriche gemacht werden) und den Stoff als solchen langweilig. Was Gertrude Stein und Ernest Hemingway in diesem Buch gesehen haben - ich kann es nicht nachvollziehen.

 

 

 

 

Wunibald Müller: Zerreiß-Probe. Kirchlicher Dienst zwischen persönlicher Überzeugung und amtlichem Anspruch

Herder, Freiburg 2013

 

Der Leiter des Recollectio-Hauses der Abtei Münsterschwarzach hat täglich mit kirchlichen Mitarbeitern zu tun, die in einer Krise sind: hineingefallen in die Kluft zwischem ihrer persönlichen Überzeugung (bzw. ihren - gewandelten - persönlichen Lebensentwürfen) und amtlichen Ansprüchen. Manche sind in der Kirche zu halten, andere wenden ihr aber den Rücken zu. Nicht nur mancher Priester sieht sich in eine Situation gestellt, bei der er sich nicht länger spreizen kann, sondern auch mancher Laie, der in der Kirche Dienst tut. Während sich gesellschaftliche Koordinaten ändern, hält die katholische Kirche an Grundprinzipien fest: was aber noch vor einigen Jahren allgemein akzeptiert wurde, wird für immer mehr Menschen als untragbar geworden. Sie erleben die Kirche als eine Institution mit überdehnten Ansprüchen an das Privatleben ihrer Mitarbeiter, als eine ausschließende statt integrierende Einrichtung, deren Botschaft zudem für immer mehr Menschen nicht mehr plausibel ist. Konflikte sind hier vorgezeichnet - auch Konflikte, die krank machen können. Müller geht von vier innerpsychischen Lebensenergien aus, die er königliche Energie, Kriegerenergie, Liebhaberenergie und Magierenergie nennt. Nur bei dem kirchlichen Mitarbeiter, bei dem diese Energien ausgeglichen sind, wird mit den steigenden Anforderungen und mit Widersprüchen seiner Tätigkeit zurechtkommen. Dies gilt nicht nur für Menschen, die bei der Kirche arbeiten, sondern für alle Arbeitnehmer und ihre Vorgesetzten. Insofern ist Müllers Buch eine Handreichung für Menschen, die sich am Arbeitsplatz unter Druck sehen.

 

 

 

 

Jörg Fisch: Geschichte Südafrikas

dtv, München 1990

 

Unprätentiöns, unideologisch und informativ kommt die "Geschichte Südafrikas" des Neuzeit-Hiostorikers Jörg Fisch daher. Sie ist um die Jahreswende 1989/90 abgeschlossen worden, also kurz vor der historischen Wende und dem Ende des Apartheidsstaates in Südafrika. Der jüngste Teil der modernen südafrikanischen Geschichte fehlt daher naturgemäß. Der Autor erzählt die Geschichte Südafrikas von der ersten frühen Besiedlung an. In der besten historiographischen Tradition zu berichten "was gewesen", enthält er sich Wertungen und der eigenen Meinung, ohne allerdings auf kritische Anmerkungen zu den Geschehnissen zu verzichten. So ist eine flüssig und exzellent lesbare Landesgeschichte entstanden, die einen hervorragenden Überblick bietet. Umso bemerkenswerter ist Fischs neutraler Ansatz bei der Darstellung des Südafrikas der Apartheid - also seit dem Sieg der National Party 1948. Diese Epoche verführte ja so viele Autoren zu einer eindeutigen Parteinahme. Nicht so Fisch. Er bleibt bei Zahlen, Daten, Fakten und historisch-politischen Einordnungen, der Strom seines Berichts ist ruhig und breit - immer wieder auch hinein in die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Einzig die Kulturgeschichte fehlt. Miriam Makeba sucht der Leser ebenso vergheblich wie Christiaan Barnard. Dennoch wünscht man wünscht sich eine neue Auflage dieses Buches, die die Geschichte Südafrikas auch der Nach-Apartheids-Epoche bis in unsere Tage fortschreibt - und dann auch ergänzt um diese kulturgeschichtlichen Aspekte.

 

 

 

 

Neville Alexander: Südafrika - Der Weg von der Apartheid zur Demokratie

C.H.Beck, München 2001

 

Der 2012 verstorbene schwarze Historiker Neville Alexander galt als einer der einflussreichsten Intellektuellen Südafrikas und einer der prominentesten Vertreter im Anti-Apartheids-Kampf. Er hatte in Kapstadt Germanistik und Geschichte studiert und seine Magisterarbeit über das schlesische Barockdrama geschrieben. Promoviert wurde er in Tübingen mit einer Arbeit über Gerhart Hauptmann. Das um die Jahrtrausendwende entstandene Buch basiert auf einer Vorlesungsreihe zur Geschichte und Politik des zeitgenössischen Südafrika im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. Alexander beschäftigt sich in sieben Essays mit dem Südafrika der Nach-Apartheid-Ära, also seit 1994. Dass er ein dezidiert linker Denker ist, wird in jedem der sieben Texte deutlich. Seine klassenkämpferische Rhetorik befremdet gelegentlich den mitteleuropäischen Leser des Jahres 2013, dem dieses Vokabular überholt erscheint. Alexanders Analysen zu den ersten Jahren der südafrikanischen Demokratie sind jedoch pointiert und lesenswert - auch wenn sein hehrer Glaube an den ANC und dessen vermeintlich moralische Überlegenheit von der Wirklichkeit inzwischen überholt worden ist.

 

 

 

 

Christian W. Troll: Als Christ dem Islam begegnen

Echter, Würzburg 2007

 

Mein Aufenthalt in Marokko 2012 hat bei mir eine Auseinandersetzung mit demIslam ausgelöst. Die in Marokko erlebte Glaubenspraxis, insbesondere die religiöse Durchwirkung des gesamten Alltags, ließ mich nicht zuletzt die Frage nach meinem eigenen Glauben neu stellen. Plötzlich stellte sich mir mein Christentum im Lichte des Islam dar - und daraus ergaben sich Anfragen. In unzähligen Publikationen wird in den Islam als solchen eingeführt; Trolls Buch jedoch vergleicht Grundlagen und Glaubenspraxis des Islam mit denen des Christentums - und das war für mich aufschlussreicher als die meisten anderen Werke über den Islam.

Es gibt eine Unrückführbarkeit der Grundvisionen und Grundüberzeugungen zwischen Islam und Christentum, die am Ende das Menschenbild und die Rolle des Menschen gegenüber Gott bestimmt. Nichts charakterisiert die islamische Sicht des Menschen so sehr wie das alles übersteigende Anderssein Gottes, durch die der Mensch zum Diener des durch Gott im Koran geoffenbarten Wortes wird. Der christliche Glaube sieht den Menschen ebenfalls wesentlich auf Gott hin geschaffen. Allerdings verkündet das Christentum zugleich Gottes Innewohnen im Menschen. Während im islam der Mensch Gott unterworfen ist und seine Unterwerfung in der je und je peinlich genauen Einhaltung der koranischen Vorschriften zu Ausdruck bringt, geht das Christentum von der Freiheit des Christen gegenüber Gott aus. Im Islam hat der Mensch ein für allemal Gott zu dienen und ihm zu gehorchen, der seine detaillierten Weisung unabänderlich gegeben hat (was nach Dan Diner zur "versiegelten Zeit" in der islamischen Welt und zu ihrer relativen Rückständigkeit geführt hat). Im Christentum dient der Mensch Gott ebenfalls, jedoch erwartet Gott eine freie Entscheidung und freie Antworten ihm gegenüber. Jeder Christ findet in einem weit gesteckten Rahmen seinen individuellen Weg zu Gott. Das Christentum ist dadurch auch in der Lage, sich dem geistigen, technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritt anzupassen und sich quasi immer wieder neu zu erfinden, so wie es das Zweite Vatikanum getan hat. Die Geschmeidigkeit des Christentums und sein Appell an die Freiheit des Menschen unterscheidet es fundamental vom Islam. Dies ist mir bei der Lektüre des sehr lesenswerten und bereichernden Buches nachdrücklich vor Augen geführt worden.

 

 

 

 

Klaus Berger: Paulus

C.H. Beck, München 2008

 

 

Mitte März 2013 war ich auf einer Studienreise im Auftrag des Bistums Trier in der Türkei unterwegs: "Auf den Spuren des Apostels Paulus und der frühen Kirche". Das Buch des Heidelberger Neutestamentlers Klaus Berger war dabei ein guter Begleiter. Es verbindet die Lebensgeschichte des Paulus mit seiner Theologie, wobei der Schwerpunkt auf seiner Theologie liegt. Wie bei den meisten antiken Persönlichkeiten ist es aufgrund der Quellenlage schwierig, eine umfassende Biographie über sie zu schreiben. Paulus' Theologie gibt daher umso mehr her; Arbeiten über sie füllen inzwischen ganze Bibliotheken. Berger fasst die wesentlichen Punkte zusammen. Die Stätten seines Wirkens gesehen zu haben und dieses Büchlein gelesen zu haben, ist eine ideale Kombination zum Paulus-Verständnis.

 

 

 

 

Ernest Hemingway: Paris - Ein Fest fürs Leben. In: Gesammelte Werke, Bd. 9

Rowohlt, Reinbek 1977

 

In diesen Tagen habe ich zum zweiten Mal den bezaubernden Film "Midnight in Paris" von Woody Allen aus dem Jahr 2011 gesehen, eine Hommage an die französische Hauptstadt. Darin gerät ein junger amerikanischer Autor durch eine Art Zeitreise in das Paris der 20er Jahre, er trifft Ernest Hemingway, Gertrude Stein, Zelda und Scott Fitzgerald, Pablo Picasso, Salvador Dalí und viele andere aus der internationalen Pariser Bohème. Woody Allen muss inspiriert gewesen sein von Hemingsways autobiographischer Skizze "Paris - ein Fest fürs Leben", in dem der Romancier seine Zeit dort zwischen 1921 und 1926 darstellt. Hemingway führt den Leser in den Salon der Gertrude Stein und ihrer Lebensgefährtin, er lässt ihn teilhaben am Pferderennen in Auteuil, er nimmt ihn mit auf eine abenteuerliche Autofahrt mit Scott Fitzgerald von Lyon nach Paris. Bars, Restaurants, das Quartier Latin, die Güllekarren in der Rue Mouffetard, die Angler am Seine-Ufer, die amerikanische Buchhandlung von Sylvia Beach - wie fast alles von Hemingway ist auch dieser Text immer wieder wert in die Hand genommen zu werden und eine ideale Erweiterung des Woody-Allen-Films. Beide machen enorm Lust auf Paris. Seit 35 Jahren stehen Hemingways gesammelte Werke in meinem Bücherregal. Hemingway: ein Fest des Lesens.

 

 

 

 

Heiner Wilmer: Gott ist nicht nett. Ein Priester fragt nach seinem Glauben

Herder, Freiburg 2013

 

Der Titel und vor allem das Titelbild - eine weggeworfene Christusfigur - erwecken falsche Assoziationen. Es geht nicht um die Ausstiegsgeschichte eines Priesters aus der Kirche. Heiner Wilmer, der Provinzial der Herz-Jesu-Priester in Deutschland schildert vielmehr sehr differenziert seine Zweifel in seiner Arbeit und an seiner Arbeit, er blickt zurück in die eigene Biographie und in Glaubensabgründe und fragt, wo er Gott nahe war, wo er ihm fern war. Auch wenn die Leitlinie des Buches ein altes Gebet ist - Anima Christi -, an dem sich der Autor Zeile für Zeile entlangarbeitet, so ist doch nicht immer klar, was dieses Buch eigentlich soll. Es ist teils Autobiographie, teils Glaubensreflexion, teils Anekdotensammlung, teils Abrechnung, teils Liebeserklärung. Vielleicht liegt genau darin der Reiz: Einblicke in die Zerrissenheit eines Klerikers, dem der Boden der ein stigen Gewissheiten unter den Füßen schwankt, der aber doch an seiner einmal getroffenen Entscheidung festhält und damit ein Zeichen setzt in einer erodierenden katholischen Kirche.

 

 

 

 

Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. Roman

Suhrkamp 2013

 

Ein ungewöhnlich komponierter Roman voller Sprachwitz mit fantastischen Elementen, in dem viel gestorben wird: im Münster der 1980er Jahren sieht der alternde Philosoph Hans Blumenberg plötzlich einen Löwen in seinem Arbeitszimmer und im Hörsaal und freundet sich mit dem stillen und stets freundlichen Tier an. Eine alte Diakonisse im niedersächsischen Isenhagen sieht den neben dem Denker hertrottenden Löwen ebenfalls. Exisitiert er also wirklich? Oder ist er doch nur ein Hirngespinst? Oder vielmehr eine Metapher, eines der Arbeitgebiete von Hans Blumenburg? Neben dieser in sich hermetischen Handlung stehen drei Studenten, Bewunderer Blumenbergs. Ihre Geschichten überschneiden sich nicht mit der Blumenbergs. Der Professor und die Studenten leben in vollkommen getrennten Welten - wie im richtigen (universitären) Leben. Am Ende sind sie alle tot: Blumenberg (und mit ihm vermutlich auch der Löwe), die Diakonisse, die Studenten. Eine Hommage an einen der großen Denker der Bundesrepublik stellt man sich anders vor, aber gerade durch den von der Autorin gewählten erstaunlichen Ansatz ist der Roman ein Solitär, in dem Wahrheit und Fiktion, Leben und Tod auf seltsame und reizvolle Art gegeneinander verschoben sind, ineinander übergehen. Intellektuell anregend, tragisch, komisch, von brillantem Stil.

 

 

 

 

Hartwin Brandt: Konstantin der Große. Der erste christliche Kaiser

C.H. Beck, München 2006

 

Die Konstantinische Wende des Jahres 313 war der Beginn der Durchsetzung einer fast 1700 Jahre langen Herrschaft des Christentums über Politik, Kultur und Gesellschaft in Europa. Der römische Kaiser Konstantin leitete sie nach dem Sieg über seinen Widersacher Maxentius in der Schlacht an der Milvischen Brücke am 28. Oktober 312 ein. Als Spätfolge wurde das Christentum 380 zur Staatsreligion im Römischen Reich. Der Bamberger Historiker Hartwin Brandt hat eine Biographie dieses bedeutenden Herrschers geschrieben, die Konstantin von dem Rankenwerk seines Hagiographen Eusebius befreit. Was übrigbleibt, zeigt allerdings, wie schwierig es ist, auf wissenschaftlicher Grundlage die Lebensgeschichte antiker Gestalten nachzuzeichnen. Was ein Neuzeithistoriker zuviel an Quellen hat, hat ein Althistoriker zu wenig. So unternimmt Brandt notgedrungen immer wieder Ausflüge in die Geschichte der Zeit, in der sein Protagonist lebte, um die Leerstellen in der Biographie zu füllen. Das Bild Konstantins als Mensch, als Denker, gar als Privatmann  bleibt blass - packend erzählte Geschichte sieht anders aus. Dennoch ein für mich interessantes Buch, hatte Konstantin doch einige Zeit als Mit-Kaiser in Trier residiert - die Stadt, in der ich nun seit Dezember 2012 lebe und arbeite und in der mich manches Zeugnis an diesen bedeutenden römischen Kaiser erinnert.

 

 

 

 

Thomas von Mitschke-Collande: Schafft sich die katholische Kirche ab? Analysen & Fakten eines Unternehmensberaters

Kösel, München 2012

 

Die Analyse des früheren McKinsey-Beraters Mitschke-Collande ist ernüchternd: die katholische Kirche ist in einer Krisenspirale, die klassischen Milieurs brechen ihr in atemberaubender Geschwindigkeit weg, in den modernen Milieus ist der Katholizismus nur noch in homöopathischen Dosen vertreten. Eine Vertrauenskrise von Ausmaßen, wie es sie noch nie in der Kirchengeschichte gegeben hat - nicht einmal in der Aufklärung -, erschüttert die älteste Institution des Abendlandes. Mitschke-Collandes Ausführungen basieren auf eigener Beratertätigkeit innerhalb der Kirche und auf den einschlägigen Sinus-Milieustudien. Die neueste dieser Studien, im Januar 2013 veröffentlicht, zeigt einen nochmals verschärften Trend weg von der Kirche. Die Missbrauchsdebatte und die Abweisung eines Vergewaltigungsopfers an katholischen Kliniken in Köln haben das Unbehagen einmal mehr gesteigert. Solange die (moral-)theologischen Grundlagen nicht in Übereinstimmung mit dem gesunden Menschenverstand gebracht werden können, so lange wird die katholische Kirche auf dem Weg in die Marginalisierung bleiben. Es wird Zeit, sich auf den Weg zu machen, bevor noch mehr Katholiken sich von dem abwenden, was ihr die Kirche vorschreibt und das sie nicht nachvollziehen können und auch abwenden von einer Institution, für die der Mensch in der Wahrnehmung vieler nicht mehr im Mittelpunkt steht.

 

 

 

 

Matthias Onken: Bis nichts mehr ging. Protokoll eines Ausstiegs.

rororo, Reinbek 2013

 

Welcher Journalist kennt das nicht: Nachrichtenfieber, Termindruck, das Glücksgefühl eines Scoops, der ängstliche Blick morgens ins Konkurrenzblatt, Rechtfertigungen für die neuesten Abo-Zahlen, zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf. Man ist mit dabei, schnuppert an der Macht, setzt die Themen, über die die Stadt spricht. Das alles fasziniert. Und es macht krank - wenn man für sich selbst nicht das richtige Maß findet. Den Beruf des Journalisten zeichnet ein extrem hoher Suchtfaktor aus. Selbstausbeutung ist sein Kennzeichen. Matthias Onken hat das am eigenen Leib erlebt und kurz bevor für ihn nichts mehr ging gerade noch rechtzeitig den Ausstieg geschafft. Onken hat in kürzester Zeit Karriere gemacht, vom Lokalreporter zum Chefredakteur der Hamburger Morgenpost und dann zum Hamburger Lokalchef der BILD-Zeitung. Permanenter Druck, permanenter Stress, über Jahre. Gescheiterte Beziehungen, ein zurückgelassener Sohn, Überspannung der Kräfte, Raubbau am Körper, Alkoholexzesse. Onken berichtet vom Hochgeschwindigkeits-Hamsterrad im Boulevardjournalismus und wie er den abgeprungen ist in ein neues Leben als Selbstständiger, der wieder Herr über seine Zeit und sein Leben ist. Ich habe mich in so vielem wiedergefunden. Auch ich kenne viele dieser Situationen, die einen high und doch auch fertig machen. Schön, dass endlich ein Kollege einmal aufgeschrieben hat, dass Journalismus nicht nur der schönste Beruf der Welt ist, sondern auch einer der schlimmsten sein kann.

 

 

 

Rainer Bucher: ...wenn nichts bleibt, wie es war. Zur prekären Zukunft der katholischen Kirche

Echter-Verlag, Würzburg 2012

 

Die katholische Kirche, wie sie in Westeuropa seit dem Konzil von Trient (1545-1563) bestand, liegt in Trümmern. Die Moderne hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Grundfesten erschüttert, inzwischen ist nichts mehr wie es war. Das ist die Ausgangsthese des Grazer Theologie-Professors Rainer Bucher, der damit schonungslos den Finger in die Wunde legt. Bucher diagnostiziert drei "Kontraste", wie er es nennt, die das Versagen der Kirche dokumentieren: Hauptamtliche-Ehrenamtliche, Drinnen-Draußen, Männer-Frauen. Diese drei Konfliktfelder sprengen die Kirche unter dem Druck der zunehmenden Individualisierung und (innerer und äußerer) Mobilität. Lebenslange Mitgliedschaft, unverbrüchliche Gefolgschaft und umfassende Biografiemacht sind passé. Das Christentum ist in Europa zu einer Absteigerreligion geworden. Das veränderte Geschlechterverhältnis, die Abgründe an Pastoralvergessenheit in den verschiedenen Missbrauchsskandalen, der dramatische Autoritätsverlust und das Scheitern der Gemeindeutopie werden die katholische Kirche weiter marginalisieren. Bucher empfiehlt eine neue pastorale Aufgabenorientierung, ein Netzwerkkonzept statt die Konzentration auf die klassische Gemeinde und schließlich das Vertrauen in die richtungsweisenden Entscheidungen des II. Vatikanischen Konzils. Ein Buch mit Sprengkraft - und ein Bestseller in weiten Teilen des deutschen Klerus.

 

 

 

 

Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel

Hörbuch

 

Josef Knecht ist Eleve einer Eliteschule in der Intellektuellen-Provinz Kastalien, verortet irgendwo im deutschen Sprachraum, der es zum höchsten Amt in seinem Orden bringt: zum magister ludi, zum Glasperlenspielmeister. Das Glasperlenspiel ist eine Synthese aller Wissenschaften, in der jedes Phänomen der erfassbaren Welt zu einem anderen in Beziehung gesetzt werden kann, das Ganze dominiert von Musik und Mathematik. 400 Jahre in der Zukunft ist das Glasperlenspiel, über dessen korrekte Durchführung und wissenschaftliche Weiterentwicklung der Orden wacht, Gottesdienst und metaphysischer Bezugspunkt einer Kaste von Auserwählten, die Bildung absolut setzt und sich dafür allen weltlichen Genüssen entsagt. Hesses mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichneter Roman ist eine fiktive Biografie jenes Josef Knecht, der als erster magister ludi nicht im höchsten Amt stirbt, sondern nach einem Prozess persönlicher Erkenntnis zu dem Schluss kommt, dass er zurücktreten wird, um sich der Welt zuzuwenden (in der er freilich - kaum angekommen - auf tragische Weise ums Leben kommt). Der Orden lehnt sein Rücktrittsgesuch zwar ab, zieht aber keine weiteren Konsequenzen gegen den Abgefallenen. Hesses Roman ist von tiefer Humanität durchdrungen und eine Absage an alle totalitären Bestrebungen, die er in seiner Lebenszeit beobachten musste. "Das Glasperlenspiel" hat mich bereits als Jugendlicher - wie so viele Gleichaltrige - hingerissen in seiner Idealisierung der Bildung - ich musste es gegen einen Deutschlehrer verteidigen, der Hesse als verquast ansah und mir stattdessen Lessing empfahl (den ich im Übrigen auch sehr schätze). Das Hören des Romans mit Ulrich Matthes als Josef Knecht hat mir noch einmal die ganze Dimension dieses bedeutendsten Hesse'schen Werks eröffnet.

 

 

 

 

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman

Suhrkamp, Berlin 2011

 

Die Tage von Inge Lohmark als Biologielehrerin an einem Gymnasium in einer vorpommerschen Kleinstadt sind gezählt. Der Nachwuchs bleibt aus, die Stadt verfällt, die Natur holt sich die Landschaft zurück. Inge Lohmark ist eine der letzten ihrer Art: in der DDR zur Lehrerin ausgebildet, von fest gefügtem Weltbild und grenzenloser Verachtung für die nihilistische Schülergeneration, die sie unterrichtet. Ihr Fach ist ihr Leben, alles wird einer biologistischen Sichtweise unterworfen. Verhärmt vom Dasein, in einer ausgetrockneten Ehe mit dem dumpfen Straußenzüchter Wolfgang lebend, die einzige Tochter Claudia in die USA ausgewandert, erwartet Inge Lohmark nichts mehr und bekommt auch nichts mehr. Im größten Teil des kurzweiligen Romans ergießt die Autorin Schalansky, selbst 1980 in Greifswald geboren, einen nüchtern-naturwissenschaftlichen inneren Monolog über den Leser, der sich durch bestechend-bösartige Beobachtungen der Neuntklässler und des Lehrerkollegiums in geradezu unverschämt realitätsnaher Sprache und Charakterisierung auszeichnet. Der Rest sind Gespräche aus der Mitte des Lehrerzimmers und in ihrer Plattheit ergreifend. Ein kleines Sittengemälde aus der vorpommerschen Provinz und aus dem Seelenleben einer frustrierten Mittfünfzigerin, deren einzige Freude es ist, jegliche Illusion verloren zu haben.

 

 

 

 

Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.): Jesus von Nazareth. Prolog - Die Kindheitsgeschichten

Herder, Freiburg 2012

 

Der dritte Band der Jesus-Trilogie von Benedikt XVI. ist der den beiden anderen Teilen als Prolog vorangestellte.Der Papst interpretiert in dem schmalen Büchlein Empfängnis, Geburt und die ersten Lebenszeugnisse Jesus' aus dem Matthäus- und Lukas-Evangelium. Ratzinger ist Theologe, und so geht es hier nicht um den vermeintlich historischen Jesus, wie ihn viele andere Biographen zu erfassen versucht haben, sondern um den Jesus der Bibel, um den theologischen Jesus. Benedikt nimmt seine Leser mit in die frühen Jahre Jesu, indem er sie direkt anspricht und quasi im (gelehrten) Plauderton mal hierhin, mal dorthin in seine Überlegungen stellt. Das Buch ist in seiner großen Güte eher erbaulich als wissenschaftlich. Historisch-kritische Exegese war nicht zu erwarten und findet auch nicht statt. Immerhin: Ratzinger entschlüsselt sperrige Stellen und schafft biblische Zusammenhänge. Er stellt die Jesus-Geschichte aber als solche als wahr hin, ohne dies hinreichend zu begründen. Vielmehr verweist er auf die entsprechenden Dogmen der Kirche, die wiederum auf den Evangelien beruhen - ein Zirkelschluss.

Mich hat besonders die Einschätzung des Autors berührt, dass Gott Maria die volle Freiheit ließ, am Jesus-Mysterium mitzuwirken - oder auch nicht. Ratzinger betont ausdrücklich, dass es Marias freier Wille war, den Gottessohn zu empfangen und zur Welt zu bringen. Diese Freiheit ist für mich einer der größten Schätze des Christentums. Christen sind zur Freiheit berufen - das ist aus meiner Sicht entscheidend. Am Ende der Lektüre bleibt das Staunen über diesen Jesus, an den man glauben kann oder nicht. Dem Glauben aber hilft das schön zu lesende Buch des großen Theologen Ratzinger.

 

 

 

 

Markus Trautmann: Clemens August von Galen - Ich erhebe meine Stimme

topos-Verlag, Kevelaer 2010

 

Der Bischof von Münster, Clemens August von Galen, fehlt in keiner Darstellung zum Widerstand im Dritten Reich. Mit seinen drei berühmten Predigten des Jahres 1941 hat er den Nationalsozialisten die Stirn geboten und auf die Ermordung von Behinderten durch das NS-Regime hingewiesen. Galen war das Gewissen der offiziellen katholischen Kirche in den Jahren der Diktatur. Kurz und knapp erzählt Markus Trautmann den Lebensweg des "Löwen von Münster", der zu den großen Gestalten des deutschen Katholizismus im 20. Jahrhundert gehört. Allerdings wurde er auch als "personifizierter Widerpart eines demokratisch-parlamentarischen Denkens" kritisiert. Insofern war er als katholischer Würdenträger Kind seiner Zeit; die Kirche hatte sich zu seinen Lebzeiten noch nicht mit der Demokratie und dem Parlamentarismus versöhnt. Seine mutigen Predigten wurden von den anderen deutschen Bischöfen in der Zeit des Dritten Reichs nicht aufgegriffen, Galen blieb ein einzelner Rufer. Der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer schrieb 1946: "Ich glaube, dass, wenn die Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tag öffentlich von den Kanzeln aus dagegen (die notorischen Verbrechen Hitlers) Stellung genommen hätten, sie vieles hätten verhüten können. Das ist nicht geschehen und dafür gibt es keine Entschuldigung." Am 9. Oktober 2005 wurde Clemens August von Galen in Rom seliggesprochen. Papst Benedikt XVI. würdigte den Münsteraner Bischof und hob hervor: "Der Glaube hat ihm die Kraft gegeben zu tun und zu sagen, was andere nicht zu tun und zu sagen wagten."

 

 

 

 

Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf

Carl Hanser Verlag, München 2012

 

Unverständlich, dass dieser 1971 in München gestorbene russische Autor bislang in Deutschland nur Slawisten und wenigen Kennern der russischen Literatur darüber hinaus bekannt war. Sein 1947 im Original erschienener Roman "Das Phantom des Alexander Wolf" ist existentialistische Literatur pur, der Vergleich Gasdanows mit Albert Camus passt. Die Handlung spielt im Paris des Jahres 1937, enthält sich aber jeglicher Zeitanspielungen. In der französischen Hauptstadt trifft der Ich-Erzähler einen Buchautor, der in einer seiner Veröffentlichungen eine Episode aus dem russischen Bürgerkrieg wiedergibt, die der Erzähler selbst erlebt hat. Der Erzähler glaubte, in einem Nachhutgefecht in der südrussischen Steppe einen Gegner erschossen zu haben. Doch hat offenbau genau jener damalige Gegner die Geschichte aufgeschrieben und veröffentlicht. Er ist also nicht tot. War der geheimnisvolle Alexander Wolf - Autor des Buches, das dem Erzähler in die Hand fällt - jener Gegner von damals? Warum schrieb er auf Englisch? Warum war er nicht auffindbar? Warum verfluchte ihn sein Londoner Verleger? Auf einmal aber verstricken sich sein Leben und das des Ich-Erzählers auf ebenso geheimnis- wie unheilvolle Weise. Ein Stück Weltliteratur, das nun endlich auf Deutsch vorliegt; ein Seelenkrimi über Liebe und Tod, Zynismus und Zufall, Notwendigkeit und Schicksal. Schön wäre es, wenn auch noch weitere Werke Gasdanows dem deutschen Publikum zugänglich gemacht würden. Dieser Autor lohnt sich.

 

 

 

 

Hanspeter Oschwald: Pius XII. Der letzte Stellvertreter. Der Papst, der Kirche und Gesellschaft spaltet

Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008

 

Der Kirchenjurist und -diplomat Eugenio Pacelli war als Pius XII. der Papst der Kriegszeit, 1939 - wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs - begann sein Pontifikat. Kein anderer Papst der Neuzeit war derart umstritten. Kritik brachte dem früheren Nuntius in München und Berlin neben seiner rigiden Amtsauffassung sein weitgehendes Schweigen zu den Verbrechen der Nationalsozialisten ein. Strikte politische Neutralität war Grundlage seines Pontifikats. Seine eigene Autorität überhöhte er, in seiner Angst vor Demokratie, Freiheitsstreben und dem kritischen Denken des sich von überkommener kirchlicher Vormundschaft emanzipierendem Menschen der Moderne mauerte er sich ein. Pius XII. erließ 1950 das Dogma von der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel - das erste und bislang einzige Mal, dass ein Papst von der ihm im Ersten Vatikanischen Konzil 1870 zugeschriebenen Unfehlbarkeit Gebrauch machte. Der frühere dpa-Journalist und Vatikan-Korrespondent Hanspeter Oschwald verfolgt Pacellis Lebensweg von der behüteten Kindheit in Rom über seine Jahre in Deutschland bis zum Pontifikat. Oschwald spricht Pius XII. in der Frage des Schweigens zu den Vorgängen im Dritten Reich wegen "Unhaltbarkeit und fatalistischer Tragik" frei. Oschwald: "Ob Pius anders hätte handeln können oder müssen, lässt sich diskutieren. Ob er damit mehr erreicht hätte, bleibt Spekulation. Alle verfügbaren Aussagen sprechen dagegen." Der Autor räumt allerdings kritisch ein, dass Pius XII. für eine Kirche steht, "die den Paradigmenwechsel nicht erkannt hat und in römisch autoritärem Gebaren Antworten aus der überholten alten Herrschaftskriche sucht und sich wundert, warum sie nicht mehr greifen".

 

 

 

 

Guido Knopp: Göring. Eine Karriere

C.Bertelsmann, München 2006

 

Hermann Göring wollte "Meier" heißen, wenn auch nur eine gegnerische Bombe auf Berlin fiele. Am Ende fielen Millionen Tonnen Bomben auf deutsche Städte und legten sie in Schutt und Asche. Görings Luftwaffe hatte nach anfänglichen Erfolgen in den "Blitz-Kriegen" versagt. Es gelang ihr nicht, die Luftschlacht über England zu gewinnen, es gelang ihr nicht, das Eindringen von alliierten Bomberflotten nach Deutschland zu verhindern, sie schaffte nicht einmal die Versorgung der eingekesselten 6. Armee in Stalingrad. Görings Scheitelpunkt der Macht war kurz nach Kriegsbeginn bereits überschritten, sein Ansehen bei Hitler verfiel auf dramatische Weise. Die kurz gehaltene Biographie ohne wissenschaftlichen Apparat schildert Göring als den Lebemann des Dritten Reichs, im Prinzip ein großes Kind, einNarziss, der sich am liebsten in den unaussprechlichen Prunk seines Landsitzes Carinhall mit all den zusammengeraubten Kunstwerken und der größten Modelleisenbahnanlage Europas zurückzog, weil er die Wirklichkeit des von ihm mitverantworteten Krieges und sein eigenes politisches und militärisches Versagen nicht ertragen konnte. Ein lebendiges und plastisches Lebensbild, dem allerdings ein Mindestmaß an Quellenangaben gut getan hätte.

 

 

 

 

Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray

e-book

 

Das Gedankenexperiment, dass ein Bild an eigener Statt altert, ist faszinierend. Wilde kommt in seinem einzigen Roman zu einem negativen Schluss, das äußerliche Nicht-Altwerden war nur ein Aufschub, all die Grausamkeit, Dekadenz und Niedertracht, die sich die Hauptfigur ein Leben lang leisten zu können vermeinte, während er scheinbar makellos blieb, löst sich am Ende in Tod und Verderben aus. Das Faustische liegt auf der Hand: Dorian Gray ist der Faust, der durch den Teufel in Gestalt von Lord Henry Wotton (genannt Harry) verführt wird. Wildes Roman ist zeitlos und aktuell, er ist literarisch schön. Die Dialoge über Kunst, Frauen, das Leben und seine Annehmlichkeiten sind betörend. Das ist Leselust.

 

 

 

 

Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45

Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011

 

Ian Kershaw ist mein Vorbild als Historiker. Akribische Quellenaufbereitung, breite Analyse und eine akkurate Darstellung des ausufernden, von ihm aber stets überblickten Stoff zeichnen ihn aus. Kershaw untersucht die letzten Jahre des Hitler-Regimes von Sommer 1944 (nach dem Attentat auf Hitler) bis zum Mai 1945 nach der Kapitulation. Er verwebt dabei Ereignisgeschichte mit Sozial- und Mentalitätsgeschichte und geht der Frage nach, warum die Eliten des NS-Staates nicht gegen Hitler aufbegehrt haben, obwohl sie spätestens seit der erfolglosen Ardennen-Offensive im Dezember 1944 wussten, dass der Krieg verloren war. Die letzten zehn Monate des Krieges forderten ungefähr so viele Tote und brachten etwa so viel Zerstörung wie die gesamten Kriegsjahre seit September 1939 bis Mitte 1944 zusammen. Erstaunlich, wie gut die Verwaltung bis kurz vor ultimo funktionierte: Ausländische Studenten erhielten noch im April 1945 Stipendien ausgezahlt, die Behörden stellten im selben Monat im zerstörten Berlin noch Baugenehmigungen aus. Das Leid der Menschen indes, der sinnlose Tod den Fronten, die massenhaften Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee, die Todesmärsche aus den Konzentrationslagern - diese Schilderungen haben mich enorm berührt.

 

 

 

 

Heinrich Heine: Deutschland - ein Wintermärchen

e-book

 

Aus gegebenem Anlass (November) den Klassiker gelesen. Köstlich, was Heine über meine Heimatstadt Hannover schreibt:

 

Ich kam nach Hannover um die Mittagszeit.

Und ließ mir die Stiefel putzen.

Ich ging sogleich, die Stadt zu besehen.

Ich reise gern mit Nutzen.

 

Mein Gott! Sieht es da sauber aus!

Der Kot liegt nicht auf den Gassen.

Viel Prachtgebäude sah ich dort,

sehr imponierende Massen.

 

Hannover-Bashing scheint also ein Phänomen unserer Zeit zu sein...

 

 

 

 

Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini

Piper, e-book

 

Spannender Gerichtskrimi vor realem historischen Hintergrund. Der soeben erst zugelassene junge Anwalt Caspar Leinen aus Berlin wird Pflichtverteidiger eines im Ruhestand lebenden ehemaligen italienischen Gastarbeiters, Fabrizio Collini. Er hatte auf grausame Art und Weise den 85 Jahre alten Industriellen Hans Meyer im Hotel Adlon ermordet. Collini ist geständig, schweigt aber beharrlich über sein Motiv. Zwischen Täter und Opfer ist trotz monatelanger Untersuchung keine Verbindung herzustellen. Aus dieser offenen Frage erwächst die Spannung des Romans.

Durch Zufall gelingt es Leinen kurz vor Ende des Prozesses, das Motiv für den Mord zu rekonstruieren. Dazu begibt er sich tagelang in die Außenstelle des Bundesarchivs in Ludwigsburg, wo die Akten über die NS-Kriegsverbrecher lagern. Es stellt sich heraus, dass der Ermordete im Krieg als SS-Obersturmbannführer an einer Erschießung von Italienern teilgenommen hatte, unter denen auch der Vater Collinis war. Die Ermordung Meyers ist die späte Rache für diese Tat. Vor Gericht wird die Frage erörtert, ob die Erschießung 1944 erstens rechtlich gedeckt war und zweitens ob die Tat womöglich durch ein Ende der 60er Jahres verabschiedetes, auf den ersten Blick banales Gesetz - das Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWIG) - verjährt ist. Bevor es zu einer Urteilsverkündung kommt, hatte sich Collini in der Untersuchungshaft das Leben genommen. - Ich bin kein Freund von Krimis in Buchform (im Fernsehen oder im Kino gerne), aber diesen Roman habe ich gerade wegen seines historischen Hintergrunds und der dargestellten juristischen Implikationen buchstäblich in einem Zug durchgelesen, nämlich auf der Fahrt von München nach Berlin.

 

 

 

 

Frédéric Lenoir: Was ist ein geglücktes Leben?

Eine philosophische Anleitung

dtv, München 2012

 

Was brauchen wir, um glücklich zu werden? Philosophen seit der Antike haben darüber nachgedacht. Inzwischen gibt es einen Konsens über die Elemente, die zum Glück beitragen. Der Konsens über diese Elemente ist von der modernen psychologischen Glücksforschung und auch von neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung bestätigt worden. Es sind Glaube, Liebe und Freundschaft, eine sinnvolle (berufliche) Tätigkeit, Selbstliebe und innere Heilung, Schweigen und Lachen, verantwortungsbewusstes Handeln, der Maßstab der goldenen Regel, die Fähigkeit verbindlich zu sein und andererseits loslassen können und einige mehr. Der französische Romanautor und Philosoph Frédéric Lenoir nimmt sich diese einzelnen Elemente vor und untersucht sie auf ihre Wirkungsweise - oft festgemacht an seinen eigenen persönlichen Erfahrungen. Dieses Wechselspiel von allgemeinen Aussagen und der Darstellung ihrer Wirkmächtigkeit in der eigenen Biographie des Autors hat dieses Buch lesenswert für mich gemacht. Es war zwar "nur" Nachttischlektüre, aber die war fruchtbar und anregend.

 

 

 

 

Heinz Ludwig Arnold: Die Gruppe 47

Rowohlt, Hamburg 2004

 

Eine kurze und prägnante Darstellung der Gruppe 47 von ihrer Vorgeschichte in amerikanischen Kriegsgefangenenlagern (Zeitschrift "Der Ruf") bis zu ihrem Ende 1967 und darüber hinaus (Nostalgie-Treffen in Saulgau 1977). Die Bedeutung der Gruppe 47 für die deutsche Nachkriegsliteratur ist mir durch die Lektüre wieder bewusst geworden, allerdings auch der von Gnadenlosigkeit gekennzeichnete Umgang untereinander bei der Kritik an den vorgetragenen Werken. Interessant: die Degeneration von der freien Autorenwerkstatt zu einer gut vermarkteten, quasi-offiziellen Literaturbörse für Verleger, Lektoren und Journalisten. Erschütternd: dass diese sich als links und kritisch verstehende literarische Avantgarde der jungen Bundesrepublik es so lange nicht vermocht hat, das Leid, das ihre Generation im Dritten Reich Juden, Polen, Russen und anderen zugefügt hat, in ihren eigenen Werken zu thematisieren.

 

 

 

 

Hans Fallada: Der Trinker

Aufbau-Verlag - e-Book

 

1944 saß Rudolf Ditzen alias Hans Fallada mehr als drei Monate wegen Alkoholexzessen in der Heilanstalt Altstrelitz in Mecklenburg. In dieser Zeit entstand einer seiner persönlichsten Romane, "Der Trinker". Der Kaufmann Erwin Sommer verliert durch eigenes Verschulden einen wichtigen Auftrag und beginnt deshalb das Trinken. Immer weiter zieht ihn der Strudel aus Sucht und Lügen und Misserfolg nach unten, bis er erst im Untersuchungsgefängnis und dann in einer Trinkerheilanstalt landet. In der ersten Hälfte lässt Fallada den Leser in bedrückender Weise daran teilhaben, wie sich ein einst angesehener Mann durch die Alkoholabhängigkeit nach und nach entäußert und erniedrigt, wie er sich in einer eigener Welt aus Realitätsverweigerung, Rechtfertigungen, Lügen und Aggressionen isoliert und den Anschluss an sein bürgerliches Leben verliert. Dieser Teil nimmt dem Leser den Atem. Umso enttäuschender ist der zweite Teil, der in der Heilanstalt spielt und mehr den (schrecklichen) Alltag dort zeigt als den Verfall eines Menschen. Der Roman ist zweimal verfilmt worden, zuletzt mit Harald Juhnke, der der Figur des Erwin Sommers eine beklemmende Authentizität verlieh.

 

 

 

 

Beqë Cufaj: projekt@ party. Roman

Secession Verlag für Literatur, Zürich 2012

 

Der in Stuttgart lebende kosovo-albanische Autor Beqë Cufaj legt mit projekt@ party seinen zweiten Roman vor. Das Thema ist in der Literatur bislang noch nicht aufgegriffen worden: es geht um einen deutschen Professor, der nach dem Tod seiner Tochter und einer gescheiterten Ehe die Brücken zu seiner bürgerlichen Existenz in Deutschland hinter sich abbricht und sich bei den Vereinten Nationen meldet, um ein kriegszerstörtes Land im Süden Europas (dass es der Kosovo ist, wird nicht ausdrücklich erwähnt, es ist lediglich von hier unten die Rede) mit aufbauen zu helfen. Er soll eine Abteilung leitet, die sich um das Schulwesen kümmert. Der Ich-Erzähler beschreibt protokollhaft-genau die ersten Tage nach seiner Ankunft: die Eindrücke von der öden kalten und abweisenden Hauptstadt, das unpersönliche Hotel, das Bekanntwerden mit seinem internationalen Team aus aller Herren Länder. Mehr und mehr wird ihm die Diskrepanz zwischen der Welt der UN in dem Land und dem Alltag und Leben seiner Bewohner bewusst. Die UN-Mitarbeiter leben abgehoben und arbeiten ohne inneren Bezug an einem Projekt, das sie schon anderswo so oder ähnlich "durchgezogen" haben und auch wieder "durchziehen" werden. Abends gibt es in einer der Bars, in denen sich die Helferszene trifft, stets eine Party. Projekt und Party - darum drehen sich die Tage der "Missionare", wie sie der Erzähler nennt und wofür auch der ungewöhnliche Titel des Romans steht.

"Projekte, Projekte, nichts als Projekte. Und dazu Partys, Partys, nichts als Partys. Tagsüber werden Projekte betrieben, nachts wird gefeiert. Man arbeitet, dann feiert man. Wie viel wirklich gearbeitet wird, weiß ich nicht, gefeiert wird auf jeden Fall reichlich. Und selbst wenn gearbeitet wird, so ist der Effekt minimal. Man könnte sagen, dass sich die Ausländer und die Einheimischen gegenseitig ausnutzen und missbrauchen", lautet eine Schlüsselpassage des Romans (S. 131 f.). Sein einheimischer Dolmetscher Abu Beqir eröffnet dem Professor in einer Krisensituation, als die Lage im Land eskaliert und die UN-Mitarbeiter Opfer von Übergriffen zu werden drohen, die Augen über den vermeintlich neokolonialen Zugriff der Vereinten Nationen, über das Gutmenschentum der internationalen Helfer und die Nutzlosigkeit des Engagements.

Erst im letzten Drittel nimmt der Plot durch die Lebensbeschreibung Abu Beqirs als Asylant in Deutschland und seine von jedem Idealismus befreite Sicht auf die Dinge in seiner Heimat Fahrt auf. Der Leser, der sich durch die ersten zwei Drittel der in zuweilen einschläfernder linearer Erzähltechnik allzu penibel dargestellten Banalitäten des UN-Alltags eines Neuankömmlings gearbeitet hat, wird am Ende belohnt durch die Gegenüberstellung der Figuren des Professors und seines Dolmetschers - die allerdings trotz ihres Kontrasts bis zum Schluss merkwürdig farblos und schablonenhaft bleiben.

 

 

 

 

Jenny Williams: Hans Fallada - Mehr Leben als eins. Biographie

Aufbau-Verlag, Berlin 2011

 

Vor wenigen Jahren habe ich "Jeder stirbt für sich allein" von Hans Fallada gelesen, das Jahrzehnte nach seinem Erscheinen einen ganz und gar unerwarteten weltweiten Hype erfuhr. Dabei habe ich diesen "Schreiber des kleinen Mannes" entdeckt, der mit seiner Schilderung von tapferen, anständig gebliebenen und um ihr Schicksal kämpfenden Menschen aus einfachen Verhältnissen mein Herz geöffnet hat. Ich halte Fallada für einen der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Seine Bücher gehen mir nahe. Und sein Leben lässt einen ahnen, welche Höhen und (zumeist) Tiefen dieser Mann durchgemacht hat, ehe er 1947 viel zu früh starb. Die irische Germanistin Jenny Williams zeichnet Falladas Leben geradezu minutiös nach. Ihre fast 400 Seiten starke Fallada-Biographie ist akribisch recherchiert, sie wertet alle bis zur Veröffentlichung der gebundenen Ausgabe 2002 zur Verfügung gestandenen Quellen aus und setzt in vielerlei Hinsicht Maßstäbe für die Erforschung von Falladas facettenreicher Lebensgeschichte.

Die Auffassung des Rezensenten des Nordkurier, der "besondere Vorzug dieser Biographie liegt im Bemühen, die Verwobenheit des Schriftstellerlebens in die gesellschafts- und kulturpolitischen Bedingungen seiner zeit aufzuhellen", teile ich nicht. Im Gegenteil, Williams bleibt bei den Bezügen zu den zeithistorischen Ereignissen formelhaft und auf dem Niveau eines Lexikonartikels. Fallada eingebettet in seine Zeit darzustellen - Kaiserreich, Weimarer Republik und Drittes Reiches mit den sich anschließenden unmittelbaren Kriegsfolgen - bleibt auch nach der exzellenten Lebensbeschreibung Falladas durch Jenny Williams ein Desiderat.

 

 

 

 

Michaela Diers: Hildegard von Bingen

dtv, München 2012

 

Die Benediktinerin Hildegard von Bingen lebte im 12. Jahrhundert, gründete das Kloster Rupertsberg und hinterließ u.a. Schriften über ihre Visionen. Seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erlebte sie eine beispiellose Renaissance. Zahllose Publikationen - insbesondere zu ihrer Heilkunst und ihrer Lebensphilosophie - erschienen und fanden eine große Leserschaft. Mittelalter war "in", und Hildegard war eine besondere Frauengestalt in einer fernen Zeit, die die Sehnsüchte des modernen Menschen ansprach. Die oberste Tugend ist für Hildegard die discretio, also die Kunst der Unterscheidung oder der Abwägung. Hildegard lehrt damit das gesunde Maß zu finden, weder den Körper durch fanatische Askese zu schädigen, noch ihn durch übertriebene Genüsse zu überfordern - ein mir sehr sympathischer Ansatz. Leider gibt es im modernen Deutsch kein positives Wort mehr für dieses rechte Maß. Der Begriff Mittelmaß drückt gerade nicht das aus, was Hildegard meinte. Im Mai 2012 wurde die große Mystikerin heiliggesprochen, im Oktober 2012 in die Reihe der Kirchenlehrer aufgenommen - als vierte Frau überhaupt. Michaela Diers hatte bereits  Ende der 90er Jahre bereits eine Biographie bei dtv vorgelegt, in der sie Hildegard der esoterischen Verklärung entkleidet und der historischen Person, ihrem Lebensweg, ihrer Lebensweise und ihrer Weltsicht nachgeht. Das jetzt erschienene Buch ist eine vollkommen überarbeitete und - auch im Hinblick auf die Heiligsprechung - aktualisierte Fassung.

 

 

 

 

Wilhelm Schmid: Unglücklichsein. Eine Ermutigung

Insel Verlag, Berlin 2012

 

Die Fülle der Glücksratgeber und der Mainstream der Positiv-Denken-Apologeten erwecken zuweilen den Anschein, Glück sei vor allem eine Frage des Wollens. Wer sich in den Buchregalen zur aktuellen Lebenshilfe-Literatur umsieht, muss sich fragen, was er eigentlich falsch macht, wenn er auch mal traurig, niedergedrückt, melancholisch ist. Er macht alles richtig - sagt der Berliner Philosoph Wilhelm Schmid, der sich einen Namen mit zahlreichen Büchern zur Lebenskunst erschrieben hat. Denn das Unglücklichsein gehört nun mal genauso zum Leben wie das Glück. Noch wichtiger als Glück allerdings ist - so Schmidts These, der ich zustimme - Sinn. Wer in seinem Leben Sinn findet, kann auch Unglück ertragen und Glück gelassen genießen. Er weiß, dass beides zusammengehört, dass es das eine ohne das andere nicht gibt. Diese reife Sicht der Dinge entspricht meiner Lebenserfahrung. Ich habe Schmidts Büchlein als Bestätigung eigenen Erlebens gelesen und mich an manchem schön ausformuliertem Gedanken erfreut.

 

 

 

 

Adam J. Silverstein: Islamische Geschichte

Reclam, Stuttgart 2012

 

Eine der schönen neuen Hardcover-Ausgaben des Reclam-Verlages, die man gerne in die Hand nimmt. Der Orientalist am King's College in London wählt einen ungewöhnlichen Ansatz zur Darstellung der islamischen Geschichte, indem er die Ereignisgeschichte auf die beiden ersten drei von insgesamt sieben Kapiteln beschränkt. Neben der ersten Frage "Was geschah?" (Kapitel 1-3), geht er folgenden Fragen nach: "Woher wissen wir?" (Kapitel4-5) und "Warum ist das von Bedeutung?". Silversteins Verzicht auf die Nacherzählung der unendlichen Kette von Schlachten und Kriegen bei der Ausbreitung des Islam ist erfrischend; die Strukturen hinter den Fakten stehen für ihn im Vordergrund und die Bedeutung des Ganzen für unsere Zeit, insbesondere für den Zusammenprall der westlichen mit der islamischen Kultur. Das Buch ist erhellend und erfrischend und trägt dazu bei, Klarheit über die grundlegenden Unterschiede zwischen der islamischen und der westlichen Geschichte zu bekommen.

 

 

 

 

Michel Houellebecq: La carte et le territore

Flammarion, Paris 2010

 

Vor einigen Jahren habe ich in einem Zug "Elementarteilchen" des französischen Star-Autoren gelesen. Durch meinen Einsatz in Marokko zur französischen Literatur zurückgekehrt, nahm ich mir nun den 2010 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten weiteren wichtigen Roman Houellebecqs vor - und wurde nicht enttäuscht. Zwar zeichnen sich die 414 Seiten nicht durch eine sonderlich raffinierte Erzählstruktur aus, auch ermüden die vielen Entlehnungen aus der französischen Wikipedia und die langen Produktbeschreibungen. Was aber an Houellebecqs Stil fasziniert, ist seine süffisante Bestandsaufnahme der französischen Gesellschaft der 2010er Jahre: Das Bussi-Bussi-Getue der Kunstszene, die Überhöhung des Konsums, die medialen Hypes. Houellebecq führt sich selbst in den Roman ein, allerdings nicht als Ich-Erzähler, sondern als eben den "bekannten Schriftsteller" Michel Houellebecq, eine ziemlich exzentrische - man könnte auch sagen: heruntergekommene - Type im Übrigen. Er wird von dem Maler Jed Martin porträtiert. Der Kunstmarkt taxiert das Bild umgehend auf etliche Millionen Euro. Wegen des Gemäldes wird Houellebecq auf bestialische Weise ermordet. Der Mörder häckselt den Körper seines Opfers mit einem Laserschneider derart klein, dass für die Bestattung der sterblichen Überreste zum Entsetzen der Trauergemeinde ein Kindersarg ausreicht. Im dritten Teil ist der Roman weitgehend ein klassischer Kriminalroman, der allerdings nicht die erwartete ungewöhnliche Wendung nimmt, auf die der Leser wartet. Der MalerJed Martin hat am Ende dann doch nichts mit der Ermordnung Houellebecqs zu tun.

 

 

 

 

Quentin Ludwig, L'Islam

Editions Eyrolles, Paris 2011

 

Ein sehr übersichtlich gestalteter Info-Band, der die wesentlichen Fragen zu dieser Weltreligion beantwortet. Die alphabetisch angeordneten Themen reichen von "L'abbatage rituel" bis "Le voile". Jedes Kapitel ist wie ein monothematischer Zeitungsartikel aufgemacht und bietet mehrere Einstiegsebenen. Abbildungen ergänzen den Text. Neben den grundsätzlichen Fragen zum Islam (z.B. Le Coran, L'Imam, Mahomet, Le Ramadan, La Sunna etc.) geht der Autor auch auf spezielle Probleme ein, beispielsweise "L'Islam en France", "Les versets sataniques" oder "Les écoles juridiques". Ich habe diese kurzen Abrisse zu den einzelnen Themen als sehr hilfreich für meinen Aufenthalt in der islamischen Welt empfunden.

 

 

 

 

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts

Rowohlt, Hamburg 2011

 

 

Eine Familiengeschichte, die über mehrere Generationen von den 50er Jahren in Mexiko (Exil) über die DDR bis ins vereinte Deutschland das Verblassen der kommunistischen Ideologie und zugleich den Zerfall einer Gemeinschaft nachzeichnet. Der Theater-Regisseur Alexander (Sascha) Umnitzer im Jahr 2001 versorgt seinen greisen Vater Kurt und fasst den Entschluss, eine größere Summe Bargeld an sich zu nehmen, von dessen Versteck im Elternhaus im Brandenburgischen nahe der Berliner Stadtgrenze nur er weiß. Alexander, unheilbar an Krebs erkrankt, reist nach Mexiko, wohin sich einst seine Großeltern Charlotte und Wilhelm Powileit vor den Nazis gerettet hatten und von wo aus sie in die neu gegründete DDR zurückkehrten, um am Aufbau des Staates mitwirkten - allerdings ohne Erfolg; jeder der beiden scheiterte auf seine Weise. Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist der 1. Oktober 1989, der 90. Geburtstag von Wilhelm. Dieser Geburtstag, an dessen Ende Wilhelm stirbt, wird aus den Perspektiven verschiedener Teilnehmer geschildert. Der Autor blendet ausgehend von diesem Tag in die Vergangenheit und auch in die Gegenwart des Romans, zu Alexanders Mexiko-Aufenthalt 2001. Ein kompakt verschachtelter Montageroman mit mehreren ineinander verwobenen Erzähllinien, der zeigt am Beispiel der Familie Powileit/Umnitzer das Scheitern des Sozialismus zeigt, indem die Familie als Spiegel gesellschaftlicher Prozesse dargestellt wird.

 

 

 

 

Stéphane Hessel: Empört Euch!

Ullstein, Berlin 2011

 

Ein außergewöhnliches Leben: Stéphane Hessel wurde 1917 in Berlin geboren, emigrierte mit den Eltern nach Frankreich, wurde Résistance-Kämpfer, überlebte Buchenwald und Dora, wurde nach dem Krieg französischer Diplomat, Autor und Lyriker. Mit 93 Jahren hat er ein Buch geschrieben, in dem er die (junge) Generation nach ihm auffordert, sich für Frieden, Gerechtigkeit und den Schutz der Erde einzusetzen. Der kurze Text ist das Vermächtnis eines Menschen, der die Erfahrung gemacht hat, dass man mit Tatkraft und einer klaren Idee etwas verändern kann. Er räumt ein, dass es in der Résistance einfach war, sich für das Gute einzusetzen. Die Fronten waren klar: hier die französischen Widerstandskämpfer, dort die die deutschen Besatzer. In der heutigen vernetzten, komplexen, globalisierten Welt ist es gar nicht so einfach zu erkennen, was das lohnende Ziel für eigenes Engagement ist. Auch wenn die Beispiele, die er anführt - u.a. Umweltverschmutzung und die Situation im Gaza-Streifen - willkürlich gewählt sind und zusammenhanglos scheinen, so ist das Buch allemal eine Anregung: zu überlegen, wo man als Einzelner in seinem Alltag das Leben für seine Mitmenschen erträglicher machen, die Schöpfung bewahren und die Zukunft sichern kann.

 

 

 

 

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

Hanser, München 2011

 

Der österreichische Romancier Arno Geiger schreibt über seinen Vater August, der mit Ende 70 an Alzheimer erkrankt. Die Krankheit wirkt sich auf die gesamte Familie aus, die über den erkrankten Vater wieder neu zusammenfindet, während für ihn sich Gegenwart und Vergangenheit immer mehr aufzulösen beginnen. Situationen von unfreiwilliger Komik folgen auf tragische Momente des Abschiednehmens von einem Menschen, der nicht mehr der ist, als den man ihn jahrzehntelang gekannt hat. Liebevoll und licht, heiter und voller Poetik ist Geigers Bericht über den Vater. In manchem habe ich mich in meiner Situation als Sohn gegenüber einem immer pflegebedürftigerem hochbetagten Vater in dessen letzten Jahren bis November 2011 wiedererkannt. Auch hat es mich an das Buch "Demenz. Abschied von meinem Vater" von Tilman Jens erinnert, das ich 2009 gelesen habe. Beide Bücher werfen die Frage auf, wie das eigene Altern dereinst aussehen mag. Die Antwort erscheint eher beunruhigend.

 

 

 

 

Dan Diner: Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt

Propyläen, Berlin 2005

 

Der Historiker Dan Diner von der Hebrew University in Jerusalem und der Universität Leipzig geht der Frage nach, woher der augenfällige Stillstand der islamischen Zivilisation kommt. Ausgangspunkt sind die seit 2002 von den Vereinten Nationen herausgegebenen Arab Human Development Reports, die Jahr für Jahr ein erschreckendes Bild der Rückständigkeit der arabisch-islamischen Welt zeichnen. Nach Ansich des Autors ist das Sakrale der Hemmschuh für Entwicklung. Seine Allgegenwart verhindert jene Entwicklung, die den Westen durch Säkularisierung von der Frühen Neuzeit an in die Moderne geführt hat. Diners Befunde für Wirtschaft, Kultur und Politik sind bestechend. Wer einmal ein islamisches Land besucht und am Alltatg der Menschen teilgenommen hat, wird sie nur bestätigen können. Allerdings ist das Buch auch sehr weitschweifig und entfernt sich leider oft sehr weit von seinem Gegenstand. Eine konzisere Darstellung hätte Diners bestechender Analyse gut getan.

 

 

 

 

Mohamed Choukri: Le pain nu

Points, Paris 1980

 

 

Ein Kult-Buch, das wegen seiner drastischen Sprache und der expliziten Darstellung von homo- und heterosexuellen Sex, wegen religionskritischen Passagen und der krassen Beschreibung der sozialen Verhältnisse lange Zeit in Marokko verboten war. Noch heute findet man diese Proletarier-Biographie in Marokko nur auf Französisch und auch nur in ausgewählten Buchhandlungen. Mohamed Choukri beschreibt seine Kindheit und Jugend im Rif-Gebirge und in Tanger in den 40er Jahren, angefangen von der Ermordung seines Bruders durch den eigenen Vater. Choukri schrieb das Buch mit über 30, denn er lernte erst mit 20 Jahren im Gefängnis schreiben und lesen. Tahar Ben Jalloun hat es vom Arabischen ins Französische übersetzt. Auf Deutsch ist es leider vergriffen. Auch wenn die simple und an Gossenausdrücken reiche Sprache auf Dauer ermüdend ist, so ist "Das nackte Brot" dennoch ein beeindruckendes Zeugnis der sozialen Not und der gesellschaftlichen Zustände in Nord-Marokko in den 40er und 50er Jahren.

 

 

 

 

Taher Ben Jalloun: La plus haute des solitudes

Éditions du Seuil, Paris 1977

 

Ben Jalloun (*1944) ist neben Driss Chraibi der bekannteste frankophone Autor Marokkos. Er studierte und arbeitete in den 70er Jahren in Paris, wo er einen Doktortitel in Sozialpsychologie erwarb. Zu seiner Tätigkeit gehörte die Beratung von Gastarbeitern aus dem Maghreb, die wegen Potenzstörungen zu ihm geschickt wurden, da medizinische Ursachen nicht gefunden werden konnten. Ben Jalloun interpretiert das Leiden seiner Patienten als Ausdruck ihrer Isolation in der westlichen Gesellschaft. Es gelingt den moslemischen Männern - trotz guter französischer Sprachkenntnisse - nicht, sich in Frankreich zu integrieren. Der permanente Widerspruch zwischen ihrer Herkunft, Tradition und Religion einerseits sowie den Konventionen ihres Gastlandes führt zu psychosomatischen Erkrankungen. Das Buch gibt einen Einblick in die Lage, das Denken und Fühlen von Migranten, die aus einem fremden Kulturkreis nach Europa kommen.

 

 

 

 

Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch

Hanser, München 2002 (Erstausgabe 1968)

 

Canettis Besuch in der 1950er Jahren in Marrakesch und seine 1968 erschienenen Aufzeichnungen darüber sind wohl das schönste Stück deutschsprachiger Marokko-Literatur. Reportergleich und mit dem Staunen eines Kindes begibt sich Canetti auf die Djemaa al Fna, dem zentralen Platz der roten Stadt, und in das Gassenlabyrinth der Medina. Seine Notizen sind von hinreißender Poesie, die von ihm beschriebenen Menschen und Tiere und Räume von plastischer Nähe. Von Canettis Marrakesch ist abseits der Touristenwege in Marrakesch immer noch etwas zu entdecken. Wer Canetti im Gepäck hat, kann Marrakesch nur mit den Augen der Poesie sehen.

 

 

 

 

Gijs van Hensbergen: Guernica. Biographie eines Bildes

Siedler, München 2007

 

Im Juli 2012 habe ich bei einem Besuch im Museo Reina Sofia in Madrid zum ersten Mal Picassos Gemälde "Guernica" im Original gesehen. Ich ließ lange das kolossale Bild auf mich wirken (es waren erstaunlicherweise nicht sehr viele Besucher da), das nicht im kleinsten Detail an die von deutschen und italienischen Bombern im Spanischen Bürgerkrieg zerstörte Stadt Guernica (Gernika) erinnert. Gerade aber weil es zeitlos und universell ist, berührt mich dieses Bild so sehr. Seine Ausdruckskraft beruht darauf, dass Picasso sich tief auf das Ereignis einließ und sich zugleich einer künstlerischen Sprache bedient, die darüber hinausweist, die aus den Tiefen des Unterbewussten kommt. Der in England lebende Gijs van Hensbergen zeichnet die Geschichte des Bildes vor dem Hintergrund der Geschehnisse im Spanischen Bürgerkrieg und des 20. Jahrhunderts insgesamt, vor dem Leben Picassos und vor der kunsthistorischen Debatte um "Guernica" nach. Ich gebe zu: ich hätte das Buch vor dem Besuch des Museums in Madrid lesen müssen - dann hätte mir die Betrachtung von Picassos Meisterwerk noch mehr gebracht. Übrigens: besonders schön ist die Idee des Verlages, das Bild auf der Rückseite des Buchumschlags abzudrucken, und zwar zum Ausklappen. So kann man während der Lektüre die Reproduktion immer wieder zur Hand nehmen und betrachten.

 

 

 

 

Sven Kuntze: Altern wie ein Gentleman. Zwischen Müßiggang und Engagement

C.Bertelsmann, München 2011

 

Was macht ein bekannter Journalist nach einem reichen Berufsleben, wenn er (plötzlich) im Ruhestand ist? Sven Kuntze war u.a. Moderator des ARD-Morgenmanagzins und USA-Korrespondent. Er lässt den Leser an seinen neuen Freiheiten und Lässlichkeiten als Rentner teilhaben, verwebt dabei eigene Erfahrungen mit dem Zustand seiner Generation, die den Krieg nicht mehr erlebt und die Entfaltung des Sozialstaates voll ausgekostet hat. Kuntze zeichnet die Chancen und Belastungen des Alters augenzwinkernd und konsequent - und hebt sich damit wohltuend von dem larmoyanten Altersbuch von Joachim Fuchsberger ab ("Altern ist nichts für Feiglinge"), das ein Jahr zuvor im Gütersloher Verlagshaus erschienen ist.

 

 

 

 

Gerhard Pott (Hg.): Das metabolische Syndrom. Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes mellitus mit den Folgen Herzinfarkt und Schlaganfall

Schattauer, Stuttgart 2007

 

Das metabolische Syndrom gehört zu den häufigsten Krankheitsbildern in Deutschland. Der Sammelband, verfasst von 13 Ärzten, beschreibt neben der Epidemiologie die Teilaspekte und Folgen dieser ganzen Krankheitsfamilie: Adipositas, Dyslipidämien, Diabetes, Arterielle Hypertension, Koronare Herzkrankheit, Ischämischer Schlaganfall, periphere arterielle Verschlusskrankheit. Ein Kapitel geht auf die besonderen Probleme der alten Menschen ein, ein weiteres beschäftigt sich mit Bewegung und Sport zur Prävention und Therapie. Mich reizen seit vielen Jahren medizinische Themen. Der menschliche Körper, seine Funktionsweise, seine Störungen und seine Krankheiten faszinieren mich. Vorbeugung, Vorsorgeuntersuchungen, Bewegung, Entspannung und gesunde Ernährung sind mir sehr wichtig - fundierte Information sind für einen angemessenen Umgang mit dem eigenen Körper unerlässlich. Dieses Buch hat mir besonders gut gefallen, weil es auch für interessierte Laien geschrieben ist und dazu beiträgt, noch achtsamer mit sich selbst umzugehen.

 

 

 

 

Albert Camus: L'Étranger

Folio, Paris 1942

 

Eine Wiederentdeckung aus der Schulzeit! Das Hineingeworfensein des Protagonisten Meusault ins Leben und das Hinnehmen seiner Unabänderlichkeit - immer wieder beeindruckend! Ein Buch, das einen das ganze Leben begleitet.

 

 

 

 

Bernard Lewis: Die Araber

dtv, München 2002

 

Ein Klassiker der Geschichtsschreibung. Lewis gibt einen Überblick über Identität und kulturelles Erbe der arabischen Völker von der vorislamischen Zeit bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts. "Seitdem sich die arabischen Intellektuellen im neunzehnten Jahrhundert erstmals der relativen Machtlosigkeit und Armut ihrer Länder im Vergleich zur übrigen Welt bewußt geworden waren, hatten sie dafür Erklärungen zur Hand, die lange fast ausschließlich politischer und militärischer Natur waren: Die Schuld lag stets bei fremden Invasoren und Herrschern." (S. 236). Und das ist wohl auch die Ursache für die aktuellen Unruhen in der arabischen Welt im September 2012: ein weitgehendes Minderwertigkeitsgefühl, das durch religiöen Eifer angefacht wird und sich immer wieder eine Ursache sucht, um zu explodieren, aktuell das unsägliche in den USA produzierte Video, das den Propheten Mohamed verhöhnt.